19. September 2024
Gastkommentar - Replik

Was spricht gegen Kleinklassen?

Schwierige Schüler sind das Problem, nicht die Lehrpersonen, sagt der erfahrene Lehrer Raymond Diebold in einer Replik auf ein Interview mit dem Bildungsforscher Dennis Hövel im “Beobachter”.

Das Konzept der integrativen Schule bewegt die Gemüter. Nicht wenige halten es für gescheitert – und fordern eine Rückkehr zum alten System mit Klein- und Sonderklassen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Bildungsforscher Dennis Hövel hält nichts davon, wie er im Beobachter (Heft 4/2024) klarmachte.(  https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/08/Beobachter-4-Hoevel.pdf. )Mit Verlaub, das Interview darf nicht unwidersprochen bleiben. Dennis Hövel hält die aktuelle Diskussion für “zunehmend ideologisch”. Lehrpersonen würden sich von “aggressiven” Medien beeinflussen lassen. Schwierige Kinder separieren – sicher nicht!, meint er.

Gastautor Raymond Diebold, ausgebildeter Sekundar- und Berufsschullehrer

Ich frage mich, wie Herr Hövel zu seiner ideologischen Verblendung kommt. Wie er mit fast schon arrogantem Zynismus behaupten kann, dass der Unterricht mit 20 Prozent psychisch auffälligen Kindern bewältigt werden kann, ergo Kleinklassen unnötig sind. Weiss der Professor für Sonderpädagogik nicht, dass in der heutigen Zeit die Schülerinnen und Schüler die Lernatmosphäre prägen – und nicht die Lehrperson? Dass zwei renitente Schüler die Energie eines Lehrers so beanspruchen, dass die übrigen Schüler alleingelassen werden?

Mehrheit muss sich Minderheit beugen

Klar gibt es sie noch, die anständigen, fleissigen Kids. Aber häufig werden sie von verhaltensauffälligen Schülern am Lernen gehindert. Nur, weil man diese aus Prinzip im Klassenverband “integriert” haben will, muss sich die grosse Mehrheit einer kleinen Minderheit beugen und akzeptieren, dass die “Täter” mit ihrem respektlosen Verhalten den Unterricht stören können.

Im besten Fall wird so ein Kind tatsächlich separiert. Aber nicht in eine Kleinklasse,
sondern einem Sondersetting übergeben: Lerninsel, Schulpsychologinnen, Heilpädagogen oder Sozialarbeiterinnen. Dabei geht vergessen, dass solche “Klassenclowns”,
wie sie Herr Hövel irrtümlicherweise nennt, sich an eine solche Sonderbetreuung gewöhnen, ja, sie oft sogar geniessen. Wer möchte nicht von einer verständnisvollen Fachperson angehört werden? Und seine Unlust am Lernen, seine Konzentrationsschwäche und seinen Weltschmerz teilen, der in vielen Fällen nur darauf basiert, dass er oder sie nicht immer alles und sofort so bekommt, wie er oder sie es sich wünscht.

“Es gibt sie noch, die anständigen, fleissigen Kids. Aber häufig werden sie von anderen am Lernen gehindert.”

 

Wenn in einer Klasse die Stimmung kippt und Störenfriede die Oberhand gewinnen, wird es für jede Lehrperson schwer. Dann kann sie es niemandem recht machen, nicht dem auffälligen Kind, nicht dem Rest der Klasse. Und auch nicht den Eltern, die mit gutem Grund aufs Recht auf Lernen pochen. Eine solche Überforderung ist nicht die Folge einer “verschulten Biografie” der Lehrerschaft, wie Hövel meint, sondern einer ideologischen Fehlentwicklung.

Entwicklung von Talenten ist nie gleichgeschaltet

Integration darf und soll in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben. Aber
bei der Bildung geht es um die Förderung von Ressourcen. Die Entwicklung von
Talenten ist nie gleichgeschaltet. Die Spitzensportlerin trainiert nicht mit der Amateurin. Der Hobbysportler aber freut sich, wenn er unter seinesgleichen Erfolg hat.

“In Kleingruppen werden Kinder mit Schwierigkeiten wieder zu Erfolgserlebnissen kommen und eine eigene Identität finden.”

 

Ich verstehe nicht, was gegen die Rückkehr von Kleinklassen spricht. Fachleute wie
Hövel behaupten, Schüler mit einem Sonderstatus würden sich im Klassenverband
wohlfühlen. Das Gegenteil ist der Fall, weil sie dauernd Niederlagen erleiden, sei es
durch schlechte Noten oder Ausgrenzung.

In Kleingruppen werden Kinder mit Schwierigkeiten wieder zu Erfolgserlebnissen kommen und eine eigene Identität finden. Ehemalige Sonderschüler berichten unisono, dass sie diese Schulzeit sehr positiv erlebt haben. Aber für unsere auf Scheingerechtigkeit und Gleichheit programmierten praxisfernen Denkerinnen und Lenker ist dies ein No-Go. Der wahre Alltag aber ist ein anderer.

 

Raymond Diebold ist ausgebildeter Sekundar- und Berufsschullehrer.
Seit mehreren Jahren unterrichtet er als Vikar und Aushilfe in verschiedenen Kantonen. Dabei beobachte er, so der 72-Jährige, wie der Alltagsstress die Lehrpersonen auffrisst und letztlich zum Lehrermangel führt.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Geleitete Schule – eine Erfolgsgeschichte? Ein persönlicher Rückblick

Daniel Weibel hat sich mit unserem Condorcet-Autor Alain Pichard schon öfters öffentlich gestritten. Der profilierte Schulleiter vertritt in einigen Bereichen der heutigen Reformpolitik explizit andere Positionen als die Mehrheit der Condorcet-Autoren. Um so erfreuter sind wir, dass er sich bereit erklärt hat, für unseren Blog einen Beitrag zu schreiben.

Ein Kommentar

  1. Wieder einmal typisch! Leute wie Herr Hövel zimmern sich ein Schulbild zusammen, das voller Widersprüche steckt: Einerseits dürfen nach ihm nicht mehr als 20 % auffällige Kinder in eine Regelklasse eingeteilt werden (also ca. 5 in einer Klasse mit 25 Kindern), anderseits soll man die Auffälligen ja nicht separieren. Wie soll das rein organisatorisch aufgehen? Ist eine solche Einteilung keine separative Massnahme? Hövel hat offenbar auch nie erlebt, wie ein einziges Originalgenie eine ganze Klasse durcheinanderbringen kann. Der Mann hat keine Ahnung von praktischen Realitäten, masst sich aber an, darüber bestens Bescheid zu wissen. Wie lange lassen die Medien solche “Experten” weiter dahinschwafeln?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert