6. Oktober 2024

Das kann ich den Kids nicht antun

Sandro Trunz ist Gymnasiallehrer und arbeitet derzeit an einer Brennpunktschule in Biel, zusammen mit unserem eigentlich pensionierten Condorcet-Autor Alain Pichard. Beide sind sie dem Notruf der dortigen Schulleitung gefolgt. Der grassierende Lehrkräftemangel hinterlässt Spuren, das zeigt dieses Gespräch deutlich.

Sandro Trunz (Jg. 1975), Gymnasiallehrer: Hier siehst du sofort die Effekte.

Alain Pichard

Wenn man deinen Lebensweg betrachtet, könnte man dich als einen bunten Wandervogel betrachten.

Sandro Trunz

In der Tat. Im Appenzell aufgewachsen. Viele Reisen mit Stationen in Indonesien, Australien, Portugal, Marokko, und auf dem Weg in die Schweiz sah ich die Stellenausschreibung im OSZ-Mett-Bözingen.

Dazwischen hast du aber auch eine Gymnasiallehrerausbildung absolviert. Und Geld verdient.

Ich habe Deutsch, Französisch und Englisch als Gymnasiallehrer studiert und arbeitete an verschiedenen Schulen … unter anderem an der Berufsunteroffiziersschule. Ein relaxter Job, gut bezahlt.

Wie kam es, dass du hier gelandet bist und dir diesen – ich sage es mal deutlich – Knochenjob zugemutet hast?

Ich war längere Zeit in Portugal, habe dort auch gearbeitet. Als Hochschullehrer oder Gymnasiallehrer verdienst du dort deine 1000 Euro. Ich brauchte Geld. Und so entschloss ich mich, in die Schweiz zurückzufahren. Unterwegs studierte ich die Stellenausschreibungen. In meinem Fachgebiet gab es keinen Job an den Gymnasien, wohl aber auf der Sekundarstufe 1. Und da fiel mir die originelle Webseite des Oberstufenzentrums Mett-Bözingen auf. In Spanien meldete ich mich telefonisch bei der Schulleitung, schickte meinen Lebenslauf und in Frankreich hatte ich die Stelle. Hätte ich drei Tage länger gewartet, wäre mir eine Stellvertretung mit meiner Fächerkombination am Bieler Seeland-Gymnasium angeboten worden.

Alain Pichard und Sandro Trunz folgten dem Ruf der Schulleitung.

Ein Glücksfall für unsere Schule. Für dich auch?

Mittlerweile bin ich froh, dass ich hier arbeite.

Aber der Realitätsschock muss heftig gewesen sein.

In der Tat. An einer solchen Schule zu unterrichten, ist aufwändig, arbeitsintensiv und benötigt Nerven.

Lehrerband des OSZMB: ein tolles Kollegium

Trotzdem sagst du, dass du gerne hier arbeitest.

Die Lehrkräfte hier sind eine phänomenale Gemeinschaft. Es herrscht – allen Schwierigkeiten zum Trotz – ein ungemein positiver und – teils – gar vergnügter Geist. Ich fühlte mich von Anfang an wohl.

Wo lagen die grössten Herausforderungen?

Die Klasse, die ich unterrichte, hatte unzählige Lehrerwechsel (6+). Sie wurde meines Erachtens im Stich gelassen vom abrupten Abgang meines Vorgängers. Corona-Lockdown, viele Absenzen, drückende soziale Verhältnisse, ein enorm hoher Migrationsanteil, viele unterprivilegierte Kids, disziplinarische Exzesse … es herrschte irgendwie ein Chaos. Zuerst wurde ich für eine Stellvertretung engagiert, danach bat man mich, die besagte Klasse zu übernehmen; ein kurzfristig angestellter Lehrer musste wieder gehen; du kamst; Stefan (ein anderer pensionierter Lehrer) stiess dazu. Es galt in erster Linie, Ruhe in den Betrieb zu bringen.

Die Kids hier sind spontan, direkt und sehr menschlich. Und sie spüren, dass ich kein 08/15-Lehrer bin. Sie schätzen auch meine harte Hand, denn niemand hier will Chaos. Sie wissen, dass ich mich für sie interessiere.

Atrium des OSZMB: Ich bin froh, hier zu arbeiten.

Das hast du geschafft. Man sieht dich von morgens früh bis abends spät in der Schule, die Kolleginnen und Kollegen schätzen dich, und bei den Schülern kommst du gut an.

Ich möchte nichts nach Hause nehmen. So kommt es vor, dass ich manchmal erst um acht Uhr abends das Schulhaus verlasse. Auch meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten hier sehr viel. Sie kommen z. B. am Mittwochnachmittag freiwillig und unbezahlt in die Schule, um ihren Schülerinnen und Schülern bei der Praktikumssuche zu helfen. Die Kids hier sind spontan, direkt und sehr menschlich. Und sie spüren, dass ich kein 08/15-Lehrer bin. Sie schätzen auch meine harte Hand, denn niemand hier will Chaos. Sie wissen, dass ich mich für sie interessiere.

Dennoch haben wir hier recht grosse Probleme. Stichwort «Arbeitshaltung», «Disziplin», «Schulkenntnisse».

Es lernen hier wunderbare Schülerinnen und Schüler. Leistungsfähig, sozial denkend, zupackend. Es sind regelrechte Influencerinnen, die die anderen mitreissen. Meine Kolleginnen und Kollegen sagen mir aber auch, dass es zurzeit unüblich viele Problemfälle gibt. Kinder mit psychischen Schwierigkeiten hat es an jeder Schule. Im Moment ist die Häufung das Problem, zusammen mit dem Lehrermangel und den vielen Corona-bedingten Lektionenausfällen. Das führte bei einem Teil der Schüler zu einer Verwilderung. Die nie dagewesenen Wechsel der Lehrer begünstigte all diese Tendenzen nur noch mehr.

Ich musste einigen Lümmeln zuerst einmal klarmachen, dass sie bei mir nicht mit dicken Windjacken und Kapuzen in den Stühlen liegen können …

Pünktlichkeit, Haltung, auch im Äusseren, Ordnung … Und dann der Absentismus, die vielen Arztbesuche während der Schulzeit … zuerst ging es mal darum, eine Basis zu schaffen …

Du hast an deiner Klasse sogar die Trainerhosen verboten.

Das gab zu reden, war aber ein Teil des Ganzen. Klar: Kleidung, Ernährung, grundsätzlich Lebensnotwendiges ist Sache der Eltern. Doch sollten wir dennoch nicht aus den Augen verlieren, dass die Kids in einem Jahr in die Arbeitswelt eintreten müssen.

Vor allem die Französischkenntnisse sind bei den Realschülerinnen inakzeptabel. Da haben diese komischen Lehrmittel einen immensen Schaden angerichtet. Französisch scheint das neue Hassfach zu sein.

Wie steht es mit dem Unterricht? Wie siehst du das schulische Niveau.

Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Potential erkennen und ausschöpfen können. Sie müssen lernen. Und sie müssen arbeiten. Und der Unterricht verträgt keine ständigen Störungen. Das müssen die arbeitswilligen Lernenden erkennen. Meine erste Aufgabe war es, dies bewusst zu machen. Und dafür zu sorgen, dass Unterricht stattfinden kann.

Du weichst etwas aus … Wie steht es mit dem Können und Wissen der Schüler?

Das Niveau bei einigen ist erschreckend tief. Vor allem die Französischkenntnisse sind bei den Realschülerinnen inakzeptabel. Da haben diese komischen Lehrmittel einen immensen Schaden angerichtet. Ungefähr 1/3 der Schülerinnen und Schüler versteht, in einem fürs unterste Lernniveau adaptierten Text, gerade mal «je», «tu», «fais» und das war’s dann auch schon. Französisch scheint das neue Hassfach zu sein.

Mit ist auch aufgefallen, dass Schüler den Spruch «aide-toi toi-même» als «Eide teu teu mem» aussprechen. In der 8. Klasse.

Das ist doch unglaublich. Nach fünfeinhalb Jahren Französischunterricht! Glücklicherweise wurde an dieser Schule immer mit zusätzlichen Lehrmitteln gearbeitet. Und jetzt haben wir ja eine zaghafte Lehrmittelfreiheit. Allerdings gibt es hier in Biel einige (fast) zwei- und mehrsprachige Schülerinnen und Schüler, mit denen kann man recht gut arbeiten. Und im Englisch stellt sich die Situation einiges besser dar. Dort arbeiten die Kids motivierter und können auch viel mehr. Dabei gilt es nicht zu vergessen, dass das Englische eine germanische Sprache ist (also deutschsprachigen Lernenden näher) und – mutmasslich – vielleicht auch für slavische Studierende einfacher. Die Generation ‘TikTok, SnapChat, YouTube …’ ist dem Englischen ohnehin stets nahe.

Und wie empfindest du den Stand im Deutschunterricht?

Die Schule hier hat meines Wissens den Stand beim Leseverständnis mit einem Lesescreening erhoben. Das Ergebnis ist bedrückend. Viele Kinder haben nach 6 Primarschuljahren ein völlig ungenügendes Leseverständnis. Da fragt man sich schon, was da vorher passiert ist. Natürlich, 80 % Migrationsanteil sind eine Erklärung, aber für mich keine genügende.

Literarische Gespräche im OSZMB: Der Schwerpunkt liegt hier beim Leseverständnis und Schreiben.
Am Mittwochnachmttag helfen die Lehrer den Schülerinnen und Schülern bei der Praktikumssuche.

Die Schule, in der du zurzeit arbeitest, hat das Lesen und Schreiben zu einem Kernthema gemacht. Leseförderung fängt bereits in der 7. Klasse an. Lesebiografien, Erzählnächte, Tagebücher schreiben, Lesewettbewerbe, Leseaufgaben über die Ferien und die literarischen Gespräche … Das ist eine ganze Menge.

Ja, die Schule hat hier Prioritäten gesetzt, und dies völlig zu Recht. Ausserdem wird hier straff geführt und auch kontrolliert. Es gibt Teamteaching und hohe Erwartungen. Ich selber lasse auch Diktate schreiben. Das ist ja in der modernen Didaktik völlig verpönt. Übrigens ist es auch in den Gymnasien mit dem Schreiben nicht zum Besten bestellt. Vor kurzem habe ich gelesen, dass angehende Anwälte in Schreibkurse geschickt werden.

Der zweite Schwerpunkt ist die Berufswahl. Hier wird ein enormer Einsatz geleistet. Die ganze Schule steht dahinter. Die Schüler werden bereits in der 8. Klasse zu einem Praktikum «gezwungen». In der 9. Klasse folgen drei Wochen obligatorisches Praktikum. Danach hat wohl kaum eine Schule in Biel so viele Lehrverträge wie diese hier. Am Mittwochnachmittag ist eine Lehrerin in der Schule und hilft den Schülerinnen und Schülern. Und zu meiner grossen Überraschung sind auch viele Lehrkräfte da und helfen mit, gratis und franko.

Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verordnet werden.

PH Bern: Zwangseinsatz für Dozierende

In der PH werden andere Schwerpunkte gelegt …

Ich hasse diese schöngeistige Rhetorik, die fernab der Realität formuliert wird. Diesen Leuten in den warmen Studierstuben sollte ein Jahr Pflichtpensum an dieser Schule verordnet werden.

Ich selber habe in meiner problematischen Französischklasse ein Theaterstück studieren lassen. Als ich mit einer Gruppe hinausging, um zu üben, klaute mir ein Schüler das Lösungsblatt und legte es unter den Visualizer. Die Schülerinnen und Schüler schrieben den Auftrag grösstenteils ab.

Und wie hast du reagiert?

Ich habe mich an die Arbeitswilligen gerichtet und sie gefragt, ob es das ist, was sie wollen. Es gab aber keine Diskussion … Sie schwiegen betreten. Auf jeden Fall ist die 8. Klasse noch nicht bereit, einen entdeckenden, individualisierten Unterricht zu leisten, in denen ich als Coach fungieren soll. (lacht). Unter uns … Es ist auch grundsätzlich kaum möglich.

Es ist so. Gewisse Schüler haben sich eine Bildungsresistenz zugelegt, und es gelingt uns nicht bei jedem, diese aufzuknacken. Hinzu kommt noch, dass viele Eltern machtlos sind, weit existentiellere Probleme haben oder schlicht resignieren.

Bei den meisten problematischen Kids handelt es sich um Knaben und sehr oft sind die privaten Verhältnisse schwierig.

Glücklicherweise haben wir eine hervorragende Schulsozialarbeiterin. Hier sollte man den Stundenansatz massiv ausbauen, zumal auch die entsprechenden Behörden, wie das KJPD oder die Erziehungsberatung heillos ausgelastet sind. Dies habe ich – unter anderem – gemerkt, als ich dieser Behörde eine ‘Kindesgefährdung’ meldete und – relativ schnell – merkte, dass nur in extremen Fällen sofort interveniert würde … nicht wenn das Kind «bloss» geschlagen wird.

Wie sind deine Pläne? Unsere Erfahrung mit den Gymnasiallehrern ist, dass sie gehen, wenn sie eine Stelle als Gymnasiallehrer angeboten bekommen.

Ich hatte vor, nach den Sommerferien zu gehen. Zumal ich noch 10% weniger verdiene als ein Lehrer der Sekundarstufe 1, weil ich das Gymnasiallehrerdiplom habe.

Schülerband: Du siehst hier sofort positive Effekte.

Das ist unbegreiflich.

Nun ist es allerdings zu einer weiteren Kündigung gekommen. Da sagte ich mir: Das kannst du den Schülerinnen und Schülern nicht antun. Noch ein Lehrerwechsel? Nein, die brauchen mich. Ich habe der Schulleitung zugesagt, dass ich meine Klasse bis zum Schulaustritt in einem Jahr unterrichten werde.

Da ist sehr viel Idealismus im Spiel

Sagen wir es mal so. Ich sehe das Positive! Das engagierte Kollegium, die innovative Schule und vor allem: Es ist cool zu sehen, welche Entwicklung viele dieser Kids machen, wenn sie richtig geführt werden, wenn man sich für sie interessiert und etwas von ihnen verlangt. Zudem habe viele der Lernenden ungemeine Erfolgserlebnisse, wenn sie berufsbezogene Erfahrungen sammeln können (erster Anruf in einem Betrieb, erste Bewerbung, den Lebenslauf aufpeppen usw.). Du erzielst hier in kürzester Zeit sichtbare Effekte. Und du spürst ihre Dankbarkeit. Ich möchte zurzeit nicht an einem Gymnasium arbeiten. Ich mache hier einen eminent nützlichen und wichtigen Job. Das ist auch eine Belohnung.

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Plurilinguales Sprachenlernen, ein Grossprojekt des Europarates

Seit Beginn des Millenniums herrscht Aufbruchstimmung in der europäischen Sprachenpolitik: Der gemeinsame europäische Referenzrahmen (CEFR) wurde erarbeitet, um Fremdsprachenkompetenzen in aufsteigender Qualität (A1 bis C2) genau zu beschreiben und in einem Sprachenportfolio auszuweisen; die Länder wurden aufgerufen, in den obligatorischen Schulen mindestens zwei Fremdsprachen zu unterrichten; ein didaktisches Konzept namens Mehrsprachigkeit (Plurilingualism, plurilinguisme) wurde propagiert, um die Monolingualität vieler Staaten zu durchbrechen. Condorcet-Autor Felix Schmutz untersucht in einer gewohnt minutiösen Recherche die Hintergründe, welche zum Mehrsprachigkeitskonzept und der Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts geführt haben.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert