Gastautor - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 27 Apr 2024 04:08:08 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Gastautor - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Repost: Sind Noten in der Schule notwendig? https://condorcet.ch/2024/04/repost-sind-noten-in-der-schule-notwendig/ https://condorcet.ch/2024/04/repost-sind-noten-in-der-schule-notwendig/#respond Fri, 26 Apr 2024 09:31:37 +0000 https://condorcet.ch/2024/04/sind-noten-in-der-schule-notwendig-copy/

Die Notendebatte scheint die Deutschschweiz zu bewegen. Nicht der grassierende Lehrkräftemangel, nicht die PISA-Leistungen, nicht die Probleme, die sich durch eine undurchdachte Inklusion ergeben, nein, offensichtlich scheinen die Schulnoten nun das fundamentale Problem unseres Bildungssystems darzustellen. In dieser erregten Debatte haben wir uns dazu entschlossen, einen älteren Artikel aus dem Jahr 2022 noch einmal zu veröffentlichen. Kein Geringener als der emer. Professor Juergen Oelkers legt in seinem Beitrag den aktuellen Forschungsstand dar und erklärt die Vor- und Nachteile der "Ziffernbeurteilung". Sein Fazit: Noten werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen, können aber verbessert werden.

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Juergen Oelkers, em. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich: Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig.

Zeugnisse und Noten stehen in der Kritik und mehr noch, sie gelten als gefährlich und werden als überflüssig hingestellt. Sie werden sozusagen benotet, meistens mit folgenden Argumenten: Noten sind unpräzise, ihr Zustandekommen ist intransparent, sie wirken als eine Art Schicksal, sind vor allem ein Machtfaktor und sicher kein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit.

Das „starre Ziffernotensystem” ist der Lieblingsfeind vieler Schulreformer. „Motivieren ohne Noten” war schon vor 25 Jahren ein immer wieder vorgebrachtes Stichwort der Schulkritik (Olechowski/Rieder 1990). Unterstellt wurde, dass die Schülerinnen und Schüler besser lernen, wenn sie nicht durch Noten geleitet werden und den eigenen Lernweg bestimmen können.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt, da sie dem Ideal des „intrinsischen” Lernens widerspricht. Aber man lernt auch, wenn man motivationale Widerstände überwinden muss und man stelle sich vor, wohin man käme, wenn alles Lernen in der Schule von der Zustimmung intrinsischer Motivation abhängig wäre.

Noten als positive Anreize sind auch deswegen suspekt, weil sie eine Hierarchie voraussetzen. Nur wenige Schüler können Bestnoten erreichen und das, so die Kritik, fordert die anderen nicht etwa heraus, sondern schreckt sie ab und hindert sie am Lernen. Es soll, mit anderen Worten, keinen Wettbewerb geben und niemand soll mit anderen verglichen werden. Das bekanntlich schon Jean-​Jacques Rousseau 1762 in seinem Erziehungsroman Emile ou de l’éducation postuliert.

Schüler können damit umgehen.

Es ist danach immer wieder versucht worden, Alternativen zu der Notenskala zu entwickeln. Radikale Entwürfe gehen davon aus, dass nur die Lernfortschritte des einzelnen Schülers beschrieben werden können und sich ein Vergleich in der Lerngruppe verbietet, weil der ohnehin nicht objektiv sein kann und zudem die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden ignoriert.

Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001).

Noten setzen die Klassennorm voraus und basieren so auf einem Vergleich der Leistungen mit anderen. Diese Beschreibung hat sich bewährt, sie ist ökonomisch und vergleichsweise leicht zu handhaben. Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001). Die Kritik bemängelt allerdings die fehlenden Bezugsnormen (Fischer 2012, S. 50).

Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Aber ist die gestufte und vergleichende Beurteilung ungerecht? Die Antwort lautet ja, wenn die Bewertungen willkürlich erfolgen würden. Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Der Grundsatz ist, dass nur das geprüft werden darf, was unterrichtet worden ist und so gelernt werden konnte. Wenn dieser Grundsatz verletzt wird, ist das ungerecht. Wenn ein Schüler schlecht beurteilt wird oder nicht die Note erreicht, die er erreichen wollte, ist das nicht ungerecht, sofern die Kriterien der Benotung klar waren und keine Bevorzugung erkennbar ist.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt.

Noten erfassen Leistungen im Blick auf bestimmte Aufgabenstellungen, die von Lehrkräften im Blick auf eine bestimmte Gruppe bewertet werden. Endnoten nach einem bestimmten Unterrichtsabschnitt, meistens am Ende eines Schulhalbjahres, werden gebildet, indem verschiedene Einzelnoten addiert und ein (gewichteter) Durchschnitt errechnet wird.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt. Die Lehrpersonen stellen Aufgaben und bewerten Leistungen aufgrund langjähriger Erfahrungen und handeln vermutlich in den wenigsten Fällen wirklich „willkürlich” in dem genannten Sinne. Insofern muss man fragen, wieso sich die Notenkritik so hartnäckig immer wieder bemerkbar zu machen versteht. Wenn Medien die bessere Schule propagieren, dann sind die immer notenfrei. Freilich, oft sind diese Alternativen kleine Privatschulen und nie Gymnasien.

Vermeidet man die Karikaturen, dann lässt sich im Blick auf die schulische Notenpraxis festhalten: Schulnoten bewerten Leistungen und können nur begrenzt eine Aussage darüber machen, was die tatsächlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sind. Vieles, was für das Zustandekommen der Leistung mitverantwortlich ist, wird mit einer Ziffernote auch gar nicht erfasst, etwa die allgemeine Leistungsfähigkeit, schulisches Engagement, Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft oder das Interesse für bestimmte Unterrichtsfächer.

Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen. Screenshot aus der BAZ.

Aber jede Bewertung hat Grenzen und keine umfasst alles. Noten haben den Vorteil, dass sie einfach sind, leicht zu kommunizieren und keinen übermässigen Aufwand verlangen. Sie passen ins Arbeitsfeld der Schule, gelten als bewährt und werden als Beschreibungsform auch ausserhalb der Schule breit angewendet. Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen und saldo könnte ohne Noten den Betrieb einstellen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen. Sie wissen auch, dass die Anstrengungen je nach Lage verschieden sind, zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bestehen und nicht erreichte Leistungen durchaus hätten erreicht werden können, wenn die Anstrengung grösser gewesen wäre. Die Zuschreibung „Streber” ist leicht einmal ein Indikator für eigenen Minimalismus.

Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium.

Noch etwas ist auffällig: Die Notenkritik richtet sich primär auf das Zustandekommen der Noten und die Beschreibung in Form von Ziffern. Wenig gefragt ist der prognostische Wert von Schulnoten. Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium. Die Notenkritik übersieht gerne diesen Zusammenhang.

In einer deutschen Metastudie aus dem Jahre 2007wird die Validität der Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs nochmals detailliert beschrieben (Trapmann-​Hell/Weigand/Schuler 2007). Dabei wirkt sich gerade die Breite des Notensystems positiv aus. Je höher der Durchschnitt in den Fachnoten liegt, desto besser kann der Studienerfolg vorhergesagt werden

Eine der zentralen Begründungen für die Notenkritik bezieht sich auf die Folgen von schlechten Bewertungen, die blockierte Motivation und Schulunlust nach sich ziehen würden. Gute Noten werden akzeptiert, schlechte lösen Krisen aus. Das Prinzip der vergleichenden Graduierung in der Beschreibung des Leistungsverhaltens setzt wie gesagt voraus, dass nicht jeder gute Noten erhält und man so einen Diskriminierungseffekt auffangen muss, wenn man auf ein Ziffernotensystem setzt.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen.

Eine jüngere Studie über den Zusammenhang von Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch sieht zwischen diesen Konzepten signifikante geringe bis mittlere Interkorrelationen. Am stärksten hängen Prüfungsangst und die schulbezogene Anstrengungsvermeidung mit den Schulnoten zusammen (Weber/Petermann 2016, S. 562). Das ist eigentlich trivial: Wer Angst vor Prüfungen hat, vermeidet Anstrengungen, weil die Vorstellung vorherrscht, die Prüfung sei ohnehin nicht zu bestehen. Anderseits minimiert die Anstrengungsvermeidung die Chancen des Bestehens, wenn die Prüfung nicht vermieden werden kann.

Schülerinnen und Schüler lernen oft subversiv.

Die Schülerinnen und Schüler lernen auch subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können, oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt. Sie kalkulieren im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz und gehen keineswegs immer „intrinsisch motiviert” vor, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Die Schüler machen immer einen Unterschied, was sie gerne lernen und was nicht.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen. Auch im Falle der Lernstrategien überwiegen die Modellannahmen, die unabhängig vom tatsächlichen Erfahrungsraum „Schule” gedacht werden.

Jahrzehntelange Erfahrungen mit Lernberichten und Ähnlichem zeigen die Steigerung der Komplexität und damit einhergehend der drohenden Unverständlichkeit (Bos et al. 2010). Noten müssen klar und verständlich sein, die Abstände im Leistungsverhalten wiedergeben und hohe und tiefe Grade kennen. An dieser Anforderung sind die Alternativen zu messen und so lange keine besseren Alternativen zum Ziffernsystem vorliegen, wird dieses auch weiterhin die Praxis bestimmen. Umgekehrt gesagt, Noten sind überflüssig, wenn sie keine Abstände erfassen.

Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

In der Prüfungspraxis sind bis heute Noten zentral, also die Einschätzung der Leistungen von Schülerinnen und Schüler auf einer für alle Lehrkräfte verbindlichen Skala, die die Unterschiede von Fähigkeiten in Sachgebieten erfassen soll. Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

Für dieses Instrument spricht, dass Leistungen in Schulklassen tatsächlich immer mit Niveauunterschieden zustande kommen. Wer sie abbilden will, muss daher ein gestuftes Schema verwenden, wobei das Problem nur ist, welche Stufen zur Anwendung kommen und wie die tatsächlichen Leistungsunterschiede in der Beurteilung abgebildet werden. Die realistische Perspektive ist die Beibehaltung des Ziffernsystems unter der Voraussetzung, dass die Notengebung fair und transparent ist. Dafür müssen die einzelnen Schulen Kriterien festlegen, die für die Lehrerinnen und Lehrer verbindlich sind. Diese Kriterien beeinträchtigen nicht das Urteil der Lehrpersonen, sondern machen es für Schüler, Eltern und andere Lehrer transparent.

Die Notengebung kann verbessert werden

Bei der Bewertung von Leistungen in der Schule werden Noten und Zeugnisse als Formen des verbindlichen Feedbacks weiterhin eine zentrale Rolle spielen, die Instrumente sind bewährt und begrenzen den Aufwand. Aber die Notengebung kann verbessert werden. Zentrale Aufgaben sind neben der Klarheit der Kriterien die Präzisierung der Stufung, die zur Bewertung passende Aufgabenkultur und die schulischen Lernziele als Bezugsnorm. Die bessere Berücksichtigung des Lernwegs kann fünftens durch Portfolios erreicht werden. Insgesamt handelt es sich also um eine lösbare Aufgabe. 

* Prof. em. Dr. Jürgen Oelkers war u. a. seit 1999 bis zu seiner Emeritierung 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, Reformpädagogik im internationalen Vergleich, Analytische Erziehungsphilosophie, Inhaltsanalysen öffentlicher Bildung, Bildungspolitik.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zuger Schulinfo und ist hier mit freundlicher Genehmigug des Autors aufgeschaltet.

Literatur

Bos, W./Beutel, S.-I./ Berkemeyer,N./Schenk, S.: LUZI. Leistungsbeurteilung ohne Ziffernzeugnisse. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung. Dortmund: IFS 2010.
Fischer, Chr. (Hrsg.): Diagnose und Förderung statt Notengebung? Problemfelder schulischer Leistungsbeurteilung. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2012.
Olechowski, R./Rieder, K. (Hrsg.): Motivieren ohne Noten. Wien u.a.: Verlag Jugend und Volk 1990. (= Schule, Wissenschaft und Politik, Band 3)
Trapmann, S./Hell, B./Weigand, S./Schuler, H.: Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs – Eine Metaanalyse. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie Band 2, Heft 1 (2007), S. 11-27.
Weber, H.M./Petermann, F.: Der Zusammenhang zwischen Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und den Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch. In: Zeitschrift für Pädagogik Band 62, Heft 4 (Juli/August 2016), S. 551-570.
Weinert, F.E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2001.

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Kostet Selektion 30’000’000’000 (Milliarden) Franken? https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/ https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/#respond Sun, 21 Apr 2024 12:31:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=16547

Nach Condorcet-Autor Felix Schmutz (https://condorcet.ch/2024/03/der-vorstand-des-vslch-bemueht-sich-um-schulrevolution/ ) untersuchte auch der Stellvertretende Geschäftsführer des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Beat Gräub, die ominöse Wyman-Studie, die als Hauptkronzeuge für die Abschaffung der Selektion in Feld geführt wird.

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Wahrscheinlich war das Consulting-Unternehmen OliverWyman selbst überrascht, über die Resonanz auf ihre Studie zum Thema «Fachkräftemangel» (jedenfalls vermittelte die freundliche Dame am Telefon diesen Eindruck). OliverWyman kam zum Schluss, dass 14’000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz ihr schulisches und berufliches Potenzial nicht ausschöpfen. Dies wiederum führe zu volkswirtschaftlichen Schäden von bis zu 30 Milliarden Franken pro Jahr!

Beat Gräub, Stv. Geschäftsführer des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands alv und KV-Lehrer für Wirtschaft und Recht am Zentrum Bildung KV Aargau Ost in Baden.

Und weil OliverWymann zwei Mal die Selektion nach der 6. Primarschulklasse (8. Schuljahr inkl. Kindergarten) also am Ende des zweiten Zyklus ansprach, entstand in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien rasch der Eindruck, die 14’000 Kinder und die 30 Milliarden Franken seien eine Folge dieser Selektion.

Für Selektionsgegner und -gegnerinnen, wie bspw. die Geschäftsleitung des Schweizer Schulleitendenverbandes VSLCH bzw. ihre Exponenten Thomas Minder und Jörg Berger, ist spätestens damit klar, die Selektion nach der 6. Klasse muss weg. Die 30 Milliarden Franken stehen seither im Raum und werden implizit oder explizit regelmässig wiederholt. Beispielsweise in einem Blick-Artikel von Karen Schärer, vom 9.März 2024.

Was die OliverWyman Studie sagt

Menschen, die sich im Bereich der empirischen Sozialforschung und/oder der Volkswirtschaftslehre und/oder im Schweizer Bildungswesen auskennen, wundern sich:

  • Dieser Entscheid soll solche Auswirkungen, immerhin fast 4 Prozent des Schweizer Brutto-Inland-Produkt, haben?
  • Eine derart komplexe Thematik soll derart klar geschätzt werden können?
  • Wird eine allfällige Fehleinstufung nach der sechsten Klasse nicht durch Berufsmatura, Höhere Fachschulen, Eidgenössische Diplome und ähnlichen Weiterbildungen korrigiert?
  • Müsste man zu denjenigen, die zu tief eingeschätzt werden nicht noch jene in Abzug bringen, die zu hoch eingeschätzt werden?
  • Kann man sagen, dass der volkswirtschaftliche Nutzen eines Menschen umso höher ist, je höher sein Schulabschluss?

Ich machte mir die Mühe, die Studie von OliverWyman genauer anzuschauen. Dasselbe tat Felix Schmutz in einem Blogbeitrag auf Condorcet. Seine Erkenntnisse waren ähnlich.

OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Unzulängliche Studie?

Die Studie besteht aus 20 PowerPoint Folien abgespeichert als pdf-Datei. Einen detaillierten Lauftext gibt es gemäss Rückfrage bei OliverWyman nicht. Auf den Folien 13 und 19 sprechen die Autoren zwei Mal davon, dass die frühe Selektion ein Grund sein dürfte, dass Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. Die Art wie sie zu dieser Aussage kommen, ist allerdings seltsam. Die beliebten und in der Wirtschaft respektierten Weiterbildungen (bspw. Höhere Fachschule, eidgenössische Fachausweise oder Fachhochschulen) werden offenbar weitgehend ignoriert.

Auf Folie 19 präsentieren sie einen breiten Strauss an Massnahmen, mit denen man erreichen könnte, dass mehr Menschen ihr Potenzial ausnutzen. Die meisten sind unbestritten und werden von Bildungsfachleuten seit Jahren empfohlen.

Erfreuliche, wenn jetzt auch Wirtschaftsunternehmen diese Massnahmen ankerkennen und hoffentlich die notwendigen (finanziellen) Massnahmen mittragen.

Und was die Studie nicht sagt

Wer seither allerdings sagt, die Selektion nach dem zweiten Zyklus koste volkswirtschaftlich CHF 30 Milliarden, hat entweder die Studie nicht gelesen oder sie nicht verstanden oder er/sie lügt bewusst. Die OliverWyman jedenfalls schreibt dies in der Studie nicht!

OliverWyman schätzt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen auf 14’000 pro Jahr. Dies entspricht etwa 15 Prozent aller Kinder eines Jahrgangs, also ca. 3-4 pro Klasse. Dabei stützen sie sich auf Interviews mit Jugendlichen aber auch Fachleuten. OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Trotzdem: Nehmen wir einmal an, dass die Zahl von 14’000 Kindern und Jugendlichen korrekt ist. Zweifellos macht es Sinn, Massnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können. Wie gesagt, auf Folie 19 präsentiert OliverWyman eine breite und weitgehend sinnvolle Palette, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Die Selektion am Ende des zweiten Zyklus ist ein Nebenschauplatz.

Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150’000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1’500’000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Beträgt der volkswirtschaftliche Schaden CHF 30’000’000’000 pro Jahr?

Für Wirbel sorgen ja vor allem die CHF 30 Milliarden (genau genommen sind es 21-29 Milliarden). OliverWyman vertritt in der Studie die These, dass 14’000 Personen ihr Potenzial nicht ausschöpfen, was einen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu CHF 30 Milliarden pro Jahr verursache.

Das würde aber bedeutet, dass diese 14’000 Personen im Durchschnitt pro Kopf rund CHF 2,14 Millionen zusätzliche Wertschöpfung generieren würden.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Eine erstaunliche Aussage. Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150’000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1’500’000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Im Klartext: Mit den CHF 30’000’000’000 liegt OliverWyman zu hoch – und zwar massiv! Mit der Selektion nach dem zweiten Zyklus hat dieser volkswirtschaftliche Schaden schon gar nichts zu tun.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Empirie zu Selektion ist uneinheitlich

Wenn also seit ein paar Wochen in sozialen Medien und in der Tagespresse die «späte Selektion» gefordert und so getan wird, als ob die Empirie eindeutig gegen Selektion sei, so ist dies schlicht falsch.

Dazu zwei Beispiele:

  • Der aargauische Primarlehrpersonenverband antwortete auf meine Frage, was die grösste Schwierigkeit im Berufsalltag sei mit «riesige Heterogenität».
  • Auf meine Nachfrage bei mehreren Lehrpersonen der Sek I, welche in allen Leistungszügen unterrichten, erhielt ich übereinstimmend, die Antwort, dass sie die Kinder in homogenen Leistungszügen wohl eher besser fördern können.

Bei den Beispielen handelt es sich um Erfahrungswerte. Doch es gibt auch Empirie. Der erwähnte Felix Schmutz verweist in seinem erwähnten Beitrag auf Studien die, die These der angeblichen Überlegenheit der späten Selektion, widerlegen.

Es gibt Verbesserungspotenzial

Die Primarschule, die dreigliedrige Oberstufe und die Erwachsenenbildung haben übrigens tatsächlich Verbesserungspotenzial. Bspw.:

  • Die Durchlässigkeit sollte verbessert werden.
  • Die Betreuungsverhältnisse sind ungünstig bzw. die Klassen sind meist zu gross.
  • Die Schnittstellen zwischen den Zyklen und der Sek I und der Sek II müssen verbessert werden.
  • Im Bereich der Erwachsenenbildung braucht es ein «Recht auf Weiterbildung». Mit zeitlicher und finanzieller Unterstützung.
    Denn auch die Wirtschaft hat ein Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften, die sich stetig weiterbilden – und allfällige Fehlselektionen nachträglich korrigieren.

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Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon https://condorcet.ch/2024/04/16542/ https://condorcet.ch/2024/04/16542/#respond Sun, 21 Apr 2024 09:43:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=16542

In seinem traditionellen Sonntagseinspruch - wie immer hintersinnig und garstig - setzt sich Mathematikprofessor Wolfgang Kühnel aus Stuttgart mit den Versprechungen der Digitalisierungsprotagonisten auseinander und erkennt - was für eine Überraschung sehr viele Eigeninteressen und wenig Konkretes.

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Überall wird heute die Digitalisierung von allem und jedem gepriesen, auch im Bildungsbereich. Alle sollen daran glauben, dass das ein großer Fortschritt ist und dass allein die “Digitalität” uns im 21. Jahrhundert ankommen lässt, es ist vollmundig von “digitaler Transformation” die Rede usw. Wohlgemerkt, nicht im Hinblick auf industrielle Herstellungsverfahren oder die Raumfahrt, sondern in Bezug auf Kinder schon im Kindergarten,  in der Grundschule und später erst recht. Angeblich ist das die neue pädagogische Wunderwaffe und fördert spürbar die Chancengerechtigkeit und die optimale Schulentwicklung. Einerseits sollen die Kinder selbst mit digitalen Geräten hantieren, andererseits sollen mehr Daten digital verwaltet und ggfs. von den Schulen direkt an die höhere Schulverwaltung weitergeleitet werden. Die beurteilt damit dann die Qualität der Arbeit an dieser Schule.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Leere  Versprechungen

Wenn man allerdings wissen möchte, was nachweislich über den Nutzen der Digitalisierung in der Bildung bekannt ist, dann findet man kaum etwas. Unabhängige wissenschaftliche Studien, die die ganze Euphorie rechtfertigen, scheint es nicht zu geben. Mancher spricht schon von einem “digitalen Rausch”. Vor 5 Jahren bereits zitierte die Süddeutsche Zeitung

https://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-schule-table-1.4275720

den Augsburger Pädagogik-Professor Klaus Zierer mit den Worten:

“Den Glauben, die digitale Technik werde das Lernen revolutionieren, müssen wir zurückweisen.”

Auch die Thesen von Hattie vermögen das nicht zu entkräften. Auch sonst entsteht nicht der Eindruck, diese Art von Digitalisierung sei ein Anliegen der Pädagogen, der Didaktiker oder anderer Wissenschaftler, die mit dem schulischen Lernen zu tun haben.

Gelegentlich wird auch von Schulpädagogen behauptet, mit mehr Digitalisierung (auch der Schulverwaltung) könne man mehr Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit herstellen, wer kann da widersprechen? Aber nachgewiesen ist das nicht.

Um so energischer aber ertönt der Ruf nach mehr Digitalisierung von denjenigen, die finanziell davon profitieren, der IT-Industrie, der Bildungsindustrie, der Medienindustrie und einer neu entstandenen EdTech-Industrie und auch jener Professoren, die sich hauptamtlich mit dieser Digitalisierung beschäftigen. Diese treten nun nicht etwa durch Presseerklärungen vom Typ “eine profitable IT-Industrie ist im Interesse des ganzen Volkes” hervor, sondern sie verstecken sich hinter angeblich “gemeinnützigen” Vereinen mit klangvollen Namen wie “Bündnis für Bildung”, “Forum Bildung Digitalisierung”, “Didacta Verband” und ähnlichem. Halbwegs ehrlich scheint nur noch die Bezeichnung “Daniel Jung Media GmbH” zu sein, die sich der neue Star der mathematischen Kurz-Videos (und Studien-Abbrecher) zugelegt hat.

Bertelmann-Stiftung Standort Berlin: Digitalisierung absolut alternativlos

Hier wollen wir mal etwas genauer verfolgen, mit welchen Methoden die Leute mit den wirtschaftlichen Interessen so vorgehen. Zum einen gibt es seit längerem angeblich wissenschaftliche Studien im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die die Versorgung von Kitas und Schulen mit mehr digitalen Geräten als absolut alternativlos nachweisen. Sogar die wissenschaftliche Beratungskommission SWK der Deutschen Kultusministerkonferenz hat das vollkommen distanzlos in ihre Empfehlungen vom 19.9.2022 übernommen. Da wird gleich noch gefordert, das Kita-Personal müsse künftig mehr mit Elementarinformatik und den digitalen Geräten vertraut gemacht werden. Vielleicht bekommen wir noch den Kita-Bachelor mit 60 Leistungspunkten aus diesem Computer-nahen Bereich. Zum anderen fördern die Stiftungen, die den IT-Unternehmen nahestehen, die Weiterbildung der Lehrer genau in diesem Punkt. Bei der Bertelsmann-Stiftung sieht das dann so aus:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/fortbildungen-fuer-lehrpersonen-wirksam-gestalten

Die digitale Transformation wird in einem Atemzug mit der Inklusion sowie den Ganztagsschulen genannt. Die Weiterbildung hat natürlich nur das Ziel, “positive Wirkungen auf unterrichtsbezogene Kompetenzen der Lehrkräfte und den Unterricht” zu erzielen. Die Unternehmen präsentieren sich dabei fast so wie eine Art von “Mutter Teresa mit anderen Mitteln”, nur auf das Wohl von Schule und Bildung ausgerichtet.

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung. Alles Stiftungen von Grossunternehmen, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitieren. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts.

Und dann gibt es noch Tagungen im großen Stil mit prominenten Gästen. Das “Forum Bildung Digitalisierung” veranstaltet jährlich solche, die nächste ist in der kommenden Woche. Nach außen möchte man ganz harmlos wirken als karitativer Verein der Zivilgesellschaft, der sich um die Chancengerechtigkeit in der Schule sorgt:

https://www.forumbd.de/blog/konferenz-bildung-digitalisierung-2024-setzt-impulse-zur-sicherstellung-von-chancengerechtigkeit/

Es geht um “IMPULSE zur SICHERSTELLUNG von CHANCENGERECHTIGKEIT”, so der

Titel.

Weiter unten auf dieser Seite steht dann, wer sich hinter dem Forum

verbirgt:

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung.

Alles Stiftungen bekannter Großunternehmen, großenteils von jener Industrie, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitiert. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts für die genannten Unternehmen.

Hier

https://www.forumbd.de/verein/

wird dann klar gesagt, dass der ganze Verein nur aus diesen Stiftungen besteht. Und es wird klar gesagt, was der Zweck ist, nämlich nicht Chancengerechtigkeit, sondern nur noch digitaler Wandel:

“Das Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für systemische Veränderungen  und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein. Im Zentrum unserer Arbeit stehen die Potenziale digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. In Projekten, Publikationen und  Veranstaltungen identifizieren wir Gelingensbedingungen für den digitalen  Wandel an Schulen und navigieren durch die notwendigen Veränderungsprozesse.”

Und weiter unten:

“Der digitale Kulturwandel erfordert von allen Beteiligten im System Offenheit und ein anderes Mindset.”

So wird heute Lobbyistenarbeit formuliert, dieses “Forum” schreibt allen das richtige “Mindset” vor, das “Change Management” gegen Leute mit dem falschen “Mindset” ist gewiss auch nicht weit.

Andreas Schleicher, OECD, immer dabei

Speziell bei dieser Tagung schmückt man sich mit prominenten Rednern, die mehrheitlich von digitaler Bildung im einzelnen wohl kaum etwas wissen, aber ganz gewiss die Sache unterstützen, allein schon dadurch, dass sie mitmachen. Da finden sich dann prominente Politikerinnen (je eine von CDU, SPD, FDP), ein österreichischer Minister, die Soziologin Frau Allmendinger (Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung; sie diskutiert zum Auftakt mit Frau Esken über “Chancengerechtigkeit im Zeichen des Digital Divide”), Herr Maaz (Direktor des DIPF) und natürlich Herr Schleicher, der offenbar jedes Jahr dabei ist. Er betätigt sich mittlerweile als Top-Lobbyist für die Interessen der Digitalisierungs-Industrie und diskutiert kurz vor Schluss der Veranstaltung mit anderen über die “Vision eines zeitgemäßen Bildung”.

Was sagte doch Helmut Schmidt über Leute, die Visionen haben? Alle prominenten Redner bekommen bestimmt fürstliche Honorare, an Geld mangelt es in der Branche ja nicht.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”.

Auch Herr Pant (Abteilungsleiter am IPN in Kiel) hält übrigens einen Vortrag mit “Bildungsgerechtigkeit” im Titel. Direkt nach dem Auftakt gibt es gleich zwei Veranstaltungen mit “Chancengerechtigkeit” im Titel und eine zu “KI in der Schule: Vom  Verstärker sozialer Ungleichheit zum Nivellierer”. Für die letztere sind gleich sechs Redner aufgeboten, darunter ein Professor Thomas Süße von der FH Bielefeld, Standort Gütersloh:

Studie der Vodafone Stiftung: Prof. Dr. Thomas Süße im Interview zur Integration von KI ins Bildungssystem und Lehrerkompetenzen

Er versteht was von KI-Systemen in Unternehmen, insbesondere Mensch-KI-Kollaboration, seine Expertise für schulische Fragen dürfte wohl eher gering sein. Aber das ist ja auch zweitrangig. Neckischerweise wird in diesem Interview auch die Frage nach der Vermeidung von Technostress (!!) gestellt und beantwortet. Dieses Wort sollte man sich vielleicht merken. Lehrer haben leicht den Technostress, wenn das digitale Whiteboard einfach nicht funktionieren will. Auf etlichen Tagungen habe ich schon Technostress für Vortragende und Verzögerungen erlebt, nur weil der Beamer nicht so wollte wie er sollte.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”. Bei Wikipedia steht, dass der

Bertelsmann-Konzern während des 2. Weltkriegs erheblich davon profitierte, dass er im Auftrag der Regierung ein bestimmtes Buch herstellte, das allen deutschen Soldaten mitgegeben wurde.

Übrigens hatte man schon vor fast 20 Jahren angefangen, eine digitale Schulevaluation einzuführen. Im Land NRW war damals ein System “SEIS” zumindest ernsthaft im Gespräch, und das stammt von Bertelsmann:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_SEIS_macht_Schule.pdf

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/selbst_schule/seis/seis_info_workshop_12052006.pdf

Das gleich am Anfang des zweiten Links postulierte “gemeinsame Qualitätsverständnis” wird in dem ersten Link unter der Überschrift “Qualitätszyklus” so beschrieben:

“Grundlage für den Qualitätsentwicklungsprozess einer Schule ist ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten von guter Schule. Sechs zentrale Qualitätsbereiche, die ihnen zugeordneten Kriterien und ein vereinbarter Fragenkatalog sind das Ergebnis eines internationalen und nationalen Konsensbildungsprozesses. Mit diesen wichtigsten Bereichen schulischer Qualität lässt sich das Bild einer Schule darstellen, das ihrer Vielfalt und Komplexität gerecht wird.”

Da haben wir doch gleich den Haken bei der Sache:

Natürlich gibt es kein “gemeinsames Verständnis”, was “gute Schule” sein soll. Genau darin liegt ja das Hauptproblem. Der eine sieht das so, der andere anders, auch Lehrerverbände und Elternverbände diskutieren das kontrovers, politische Parteien auch. Man denke nur an den Streit über das G8- oder G9-Gymnasium mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen oder die Diskussion um die Leistungsorientierung bzw. deren allmähliche Abschaffung. Die einzige Möglichkeit wäre dann, dass Parteipolitiker gemeinsam mit Bertelsmann auch noch die Richtlinien vorgeben, was gute Schule sein soll, und das über die Schulleitungen durchsetzen. Der “internationale Konsensbildungsprozess” kann sich eigentlich nur auf die OECD beziehen, etwa den OECD Lernkompass 2030. Ein internationaler Konsens soll damit herbeigeredet werden.

Schulleiter Rudolph empfängt die Schülerinnen: An dieser Schule herrschen klare Regeln.

Ganz ähnliche Evaluationsverfahren sind jedenfalls in Berlin im Gebrauch, das führte zu dem Skandal um den Schulleiter Michael Rudolph, dessen Schule (eine im “Brennpunkt”) gute Leistungen zeigte, aber ohne die “richtige” Ideologie bei den Methoden. Vermutlich hätte da auch Bertelsmann abgewinkt, so wie der Herr Rudolph das machte, war das nicht der richtige digital gesteuerte “Qualitätsentwicklungsprozess”.

Mit dem Stichwort “Schulportrait” kann man übrigens Inspektionsberichte für jede Berliner Schule auf deren Homepage einsehen, das ist durchaus interessant. Bei einer Ganztagsschule (Heinrich-Böll-Schule) stand in einem Bericht z.B., dass viele Schüler den Ganztag nicht mögen und sich deshalb lieber absetzen. Und man erhebt unzählige Daten in farbigen Tabellen, deren Nutzen alles andere als klar ist. Eine Pflichtübung.

Da steht dann z.B.:

“Das Qualitätsprofil beinhaltet verpflichtende Qualitätsmerkmale (blau hinterlegt) und Wahlmodule. Hinter diesem Qualitätsprofil verbergen sich ca. 200 Indikatoren.” Diese “Datensammelwut” wird zu einer Wissenschaft, an der FU Berlin gibt es schon eine Professur für Schulevaluation. Wer sich das antun möchte, kann der eingangs genannten Tagung am 24.4.

und 25.4.2024 elektronisch folgen (mit “Live-Chat”), jedenfalls auf der sog. “Hauptbühne”, wo auch Herr Schleicher auftreten wird.

Dass all die Qualitätsentwicklungsprozesse bislang noch nicht zu einer Verbesserung schulischer Leistungen geführt haben (weder nach dem Kriterium der standardisierten Tests noch nach dem der “kleinen Empirie” der glaubwürdigen Berichte zuverlässiger Leute), bleibt ein unauflösbarer Widerspruch. Kulturpessimisten sehen uns schon auf einem Weg immer tiefer hinein in die Sackgasse. Die Optimisten müssten uns einen Ausweg aufzeigen. aber ob es den noch gibt?

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Piesacken https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/ https://condorcet.ch/2024/04/piesacken/#comments Fri, 19 Apr 2024 11:12:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=16511

Satire ist Humor, der die Geduld verloren hat. Dies sagte nicht nur Tucholsky, dieser Ansicht ist auch der Progymnasiallehrer und frühere LVB-Präsident Roger von Wartburg. Zum Lachen! Aber nicht nur.

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Nach der Publikation der Ergebnisse des Pisa-Tests von 2022, die für Schweizer Schülerinnen und Schüler einen Abwärtstrend ausweisen, hat die EDK umgehend reagiert und das Projekt «Hopp Schwiiz» ins Leben gerufen, mit dem Ziel, bei der nächsten Durchführung der Pisa-Erhebungen besser dazustehen. Dem LVB wurden Unterlagen der wissenschaftlichen Projektleitung «Tecnocratica» zugespielt, die an dieser Stelle exklusiv auszugsweise veröffentlicht werden:

Roger von Wartburg, Lehrer am Progymnasium, ehemaliger Präsident des lvb: Nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Fremdsprachen

Vorab möchte die wissenschaftliche Projektleitung festhalten, dass die EDK bereits im Jahr 2000, nach Bekanntwerden der Resultate des allerersten Pisa-Tests, höchst vorausschauende Massnahmen in die Wege geleitet hat, um dem Ungenügen des schweizerischen Bildungssystems beizukommen. Und dies sogar in Bereichen, die Pisa gar nicht testet, wie etwa den Fremdsprachen. So ein Vorgehen beweist die visionäre Tatkraft der Schweizer Bildungspolitik. Explizit zu nennen ist das EDK-Sprachenkonzept, welches zum Modell «3/5» (Passepartout) führte, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite Fremdsprache im fünften Primarschuljahr einzusetzen hat.

Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, das bestehende Modell auf ein «1/3/5» auszuweiten. Konkret soll neu ab dem ersten Primarschuljahr Rätoromanisch gelernt werden. Wie eine Studie der Pädagogischen Höchstschule Nordsüdostwestschweiz (PH NSOWCH) mit Verweis auf die Hirnforschung zeigt, sind Erstklässler*innen besonders dafür geeignet, vom Aussterben bedrohte Sprachen zu lernen.

Die PH NSOWCH hat bereits damit begonnen, Avatare zu entwickeln, mit deren Hilfe die Erstklässler*innen dereinst im Cyberspace Rätoromanisch erlernen werden. Die Kinder werden wählen können zwischen Fadri, Bigna, Curdin, Ladina und Ursin, wobei sämtliche Avatare genderfluid ausgestaltet sind. Für das Pilotprojekt «Rumantsch First!» haben sich schon 284 Schulen aus der Deutschschweiz angemeldet – ein überwältigendes Bekenntnis zur mehrsprachigen Schweiz!

Digitalität

Das zuvor umrissene Projekt des Rätoromanisch-Lernens im Cyberspace ist Ausdruck eines umfassenden Verständnisses von Schule als Lernort, der sich in die Kultur der Digitalität des 21. Jahrhunderts einfügt. Die wissenschaftliche Projektleitung plädiert vorbehaltlos für das Beschreiten dieses Wegs, damit sich schulisches Lernen auch für die Generation Alpha und spätere Generationen noch sinnvoll anfühlen kann. Die Gegenwart ist digital, die Zukunft ist digitaler. Wer Kinder und Jugendliche verantwortungsbewusst fitmachen will für diese Zukunft, der bekennt sich zur schulischen Digitalität!

Ungeahnte Möglichkeiten!

Aktuell laufen in verschiedenen Kantonen Bestrebungen, den Unterricht stärker zu digitalisieren. Nach Einschätzung der wissenschaftlichen Projektleitung gehen diese Bemühungen jedoch zu wenig weit – so werden etwa der Kindergarten und die Unterstufe in digitaler Hinsicht an vielen Orten noch viel zu stiefmütterlich behandelt – und es fehlt an einem koordinierten Vorgehen. Zu diesem Zweck fordert die wissenschaftliche Begleitgruppe die Schaffung einer nationalen Taskforce «Digitalität jetzt!». Erste Sondierungsgespräche mit den international anerkannten Koryphäen Mick Rosoft, Will Applegates, Marc Ator und Bert Elsmann haben bereits stattgefunden. Ebenfalls mit an Bord sind das Institut für marktorientierte Bildungsökonomie der HSG sowie Economiesuisse.

Nicht unterschlagen werden darf in diesem Kontext die ökologische Komponente: Mit der flächendeckenden Implementierung digitaler Unterrichts- und Lehrkonzepte kann aus der Vision der «papierlosen Schule» schon bald Realität werden!

Die wissenschaftliche Projektleitung favorisiert ohnehin ein grundsätzliches Abrücken vom Konzept der «Schule vor Ort». Stattdessen soll die Schule der Zukunft gänzlich online stattfinden. Die wegfallenden Kosten für teure Schulbauten können in die digitale Infrastruktur investiert werden. Und als zusätzlicher Benefit würde die Anzahl Verkehrsunfälle mit Kindern drastisch gesenkt. Die wissenschaftliche Projektleitung hat hierzu eine Machbarkeitsstudie bei der Schmähdagogischen Hochschule Mittelland in Auftrag gegeben.

Inklusion international

Die wissenschaftliche Projektleitung anerkennt wohlwollend, dass in der Schweiz die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen oder anderen Ausprägungen besonderen Bildungsbedarfs in Regelklassen im letzten Jahrzehnt vorangetrieben wurde. Als weiterführendes Kapitel dieser beispiellosen Erfolgsgeschichte empfiehlt die wissenschaftliche Projektleitung eine Kontextualisierung des Inklusionsgedankens mit den Resultaten der Pisa-Tests.

Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

OECD-Schlusslichter der Pisa-Erhebungen 2022 sind Mexiko, Costa Rica und Kolumbien. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, dass jede Schweizer Schulklasse jeweils ein Kind aus den drei genannten Ländern online am Unterricht der Schweizer Klasse teilnehmen lässt. Ein beschleunigtes Abrücken vom schulischen Unterricht vor Ort, wie es weiter oben ausgeführt wurde, würde dieses revolutionäre Konzept begünstigen.

Die Schweizer Lehrpersonen werden den Unterricht künftig mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Mexiko, Costa Rica und Kolumbien gemeinsam vor- und nachbereiten. Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Ausbildung

Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben in der Schweiz – endlich! – die sehr wissenschaftlichen Pädagogischen Hochschulen die gänzlich unwissenschaftlichen Lehrerseminare abgelöst. Dennoch ortet die wissenschaftliche Projektleitung auch hier zusätzlichen Optimierungsbedarf, denn noch immer – wenn auch in stetig weiter sinkender Anzahl – gibt es unter den Dozent*innen Exponent*innen mit einem ausgeprägt berufspraktischen Hintergrund, die den Studierenden unwissenschaftlich rezepthafte Unterrichtskonzepte nahelegen. Dies stellt einen Affront gegenüber der ausdrücklich wissenschaftlichen Ausrichtung dieser Institutionen dar!

Die wissenschaftliche Projektleitung rät aus Qualitäts- und Professionalisierungsgründen dringend dazu, solche Dozent*innen schnellstmöglich aus ihren Funktionen zu entfernen. Eine zukunftsgerichtete Erziehungswissenschaft hält sich nicht mit überholten Konzeptionen auf, sondern baut allein auf moderne Forschungsmethoden und -ergebnisse. Wer nicht mit der Zeit gehen mag, der hat zeitnah zu gehen! Damit sich Dozent*innen gänzlich vorurteils- und prägungsfrei ihrer wichtigen wissenschaftlichen Aufgabe widmen können, empfiehlt die Projektleitung überdies eine bevorzugte Anstellung von Wissenschaftler*innen, die mit dem dualen schweizerischen Bildungswesen wenig bis gar nicht vertraut sind.

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor.

Lehrplan 22

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor. Eine Mitwirkung der Berufspraxis ist nicht erforderlich, vielmehr gilt es, der Expertise der Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung des Lehrplans zur vollständigen Entfaltung zu verhelfen.

Da sich zum Leidwesen der wissenschaftlichen Projektleitung in absehbarer Zeit das Konzept einer Maturität für alle Jugendlichen in der Schweiz politisch kaum realisieren lässt, ist es aus Gründen der Chancengerechtigkeit unabdingbar, sämtliche Lehrgegenstände der Tertiärstufe in die Lehrpläne der Volksschule zu integrieren – je früher, desto besser! Dementsprechend werden sich im Lehrplan 22 zusätzlich Kompetenzbereiche wie Quantennanophysik, Artificial General Intelligence und Pharmakoepidemiologie finden lassen.

Eine Vorstudie der Gagadogischen Tiefschule Hintermond kommt zum Schluss, dass der Lehrplan 22 zur Erreichung der genannten Ziele einen ungefähren Umfang von 47’300 Seiten, 36’800 Kompetenzen und 455’820 Kompetenzstufen erfordert. Die wissenschaftliche Projektleitung beantragt der EDK, eine entsprechende Projektstruktur aufbauen zu dürfen.

Für die wissenschaftliche Projektleitung:

  • Prof. Dr. Dr. Turmina von Elfenbein, Titularprofessorin am trinationalen Zentrum für Bildungshomöopathie
  • Prof. Dr. Dr. Dr. Jérôme-Alain Voudou, Zukunftsforscher am Institut für vergleichende Schulethnologie

 

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Schulrevolution? So ein Blödsinn! https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/ https://condorcet.ch/2024/04/schulrevolution-so-ein-bloedsinn/#comments Fri, 12 Apr 2024 20:33:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=16479

Mit diesem Schreiben rät ein Vater schulpflichtiger Kinder dazu, die geplante Schulrevolution abzusagen. Seine Beobachtungen stimmen nachdenklich.

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Als bildungsinteressierter Vater schulpflichtiger Kinder komme ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus, wenn ich an die Interviews und Berichte von der Schulrevoluzzer-Front denke, die seit Wochen die Zeitungen füllen. Abschaffung von Noten und Leistungsniveaus in der Sek als Heilmittel für die Volksschule? Noch weiter daneben kann man ja gar nicht liegen.

Was sind stattdessen die tatsächlichen Herausforderungen der Volksschule?

  1. chaotische Zustände in den Klassenzimmern, u.a. als Folge der als alternativlos verkauften physischen Integration nicht beschulbarer Kinder und Jugendlicher, aber auch als Konsequenz «moderner» Unterrichtskonzepte, z.B. Kinder mit iPads oder irgendwelchen Aufträgen auf dem ganzen Schulareal verteilen, ohne Kontrolle, ohne Überblick, ohne Ergebnissicherung (Leerlauf, der am Elternabend als «Selbständigkeit» verkauft wird)
  2. als Folge davon Abdelegieren des Vermittelns von Unterrichtsinhalten an uns Eltern, die sich fragen, wofür sie eigentlich Steuern bezahlen, wenn sie den Bildungsauftrag privat in ihrer Freizeit übernehmen müssen
  3. bei Punkt 2. meine ich explizit auch Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben – diese werden zunehmend im Unterricht nicht mehr richtig geübt, vermittelt, gesichert; gerade in Sachen Rechtschreibung muss zuhause schauen, wer will, dass seine Kinder diese lernen – wie können eigentlich ausgebildete Lehrpersonen die Rechtschreibung als vernachlässigbar taxieren, wo sie erwiesenermassen einen massiven Einfluss auch auf das Verstehen von Texten hat?
  4. die von den Schulrevoluzzern angeprangerten «bösen» Noten sind vor allem dann ein Problem, wenn sie keine Aussagekraft besitzen (z.B. jahrelang 6er im Frühfranzösisch, obwohl das Kind überhaupt gar kein Französisch lernt) oder wenn offensichtlich wird, dass die Lehrperson keine Ahnung hat, wie man eine sinnvolle, altersgerechte Prüfung schreibt, korrigiert und bewertet (der Fachkräftemangel lässt grüssen)
  5. der vollgestopfte Lehrplan 21 hat dazu geführt, dass niemand eine Ahnung hat, was behandelt wird, jeder macht, was er will oder kann oder auch nicht – hatte man nicht Harmonisierung damit versprochen? So kannst du also mehrere Kinder an der gleichen Primarschule haben, die in NMG vollkommen unterschiedliche Themen behandeln – und als Folge davon wissen an der Sek die Lehrer nicht, worauf sie aufbauen könnten – aber das gilt offenbar auch als modern, Slogan: «Abholen, wo sie stehen», nur schade, wenn die Kinder im Regen stehen

Darum: Schulrevolution absagen! Stattdessen dafür sorgen, dass die Schule ihren Bildungsauftrag wieder erfüllen kann – und sicherstellen, dass sie das auch tatsächlich tut!

(Der Name des Verfassers ist der Redaktion bekannt.)

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Ist die Abschaffung von Noten eine sinnvolle Reform? https://condorcet.ch/2024/04/ist-die-abschaffung-von-noten-eine-sinnvolle-reform/ https://condorcet.ch/2024/04/ist-die-abschaffung-von-noten-eine-sinnvolle-reform/#comments Wed, 10 Apr 2024 13:10:21 +0000 https://condorcet.ch/?p=16464

Philippe Wampfler setzt sich seit Jahren für die Abschaffung der Schulnoten ein. Im folgenden Beitrag setzt er sich mit den Gegnern auseinander und erklärt, dass die Abschaffung der Noten auch weitere überfällige Schulreformen in Gang bringen würden. Der Artikel ist auf der Homepage von Herrn Wampfler erschienen und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Philippe Wampfler, Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien: Kein isolierter Reformschritt.

Diese Woche sind in zwei rechten Publikation in der Schweiz kritische Artikel zur Frage erschienen, ob Noten abgeschafft werden sollen. Das ist erfreulich: Es bedeutet, dass diese politische Bewegung so viel Gewicht hat, dass sie wahrgenommen (und bekämpft wird).

In der NZZ paraphrasiert Katharina Fontana die Argumente konservativer Lehrer (ausschließlich Männer): Die Schule brauche keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion werde sie in keiner Weise besser.

In seinem Newsletter fordert (Paywall) der Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm in zwei Folgen, Reformen an Schulen einzustellen, weil die PISA-Ergebnisse immer schlechter würden: Würde man dann nicht meinen, es wäre Zeit, einmal innezuhalten? Und eine mit Daten abgestützte Bilanz zu ziehen? Befreit man diese Standpunkte von ihrer Polemik und ihrer ideologischen Rahmung, dann bestehen sie aus einem Argument, das durchaus geprüft werden muss: Könnte es sein, dass die Reformschritte, die von Noten wegführen, so aufwändig sind, dass die erhofften Resultate daneben vernachlässigbar sind?

Dazu möchte ich folgende Gedanken anbieten:

Noten abschaffen ist kein isolierter Reformschritt. Er ist eingebunden in Bestrebungen, schulisches Lernen mit persönlicher Sinnstiftung anzureichern, Schüler:innen stärker einzubeziehen, individueller auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen und Schulen vom Selektionsauftrag wegzubringen. Nimmt man all das ernst, dann ist die Abschaffung von Noten keine Reform an sich, sondern die Konsequenz aus bereits erfolgten und umgesetzten Reformen.

Noten abschaffen ist eine Entlastung für alle.

Noten sind ein Stress für Lernende, Lehrende und auch für die Eltern. In der Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass Alternativen mit viel Aufwand verbunden sind, teilweise mit mehr Aufwand. Das stimmt nicht notwendigerweise: Es ist problemlos denkbar, die durch das Wegfallen des Bewertungszwangs freiwerdende Energie in Feedback-Prozesse zu investieren, die für Lehrer:innen und Schüler:innen einen Wert haben. Die Abschaffung von Noten ist einer der wenigen Vorschläge für eine Verbesserung der Schulen, die nicht mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden ist.

Notenverzicht führt zu automatischen Reformen.

Viele der pädagogischen Ideen, die hinter bereits angestrebten Reformen stehen, sollen die Lernqualität verbessern. Viele sind nicht konsequent umgesetzt, nicht genau verstanden oder stehen im Widerspruch zu anderen Funktionen der Schule. Würden Noten wegfallen, würde das viele dieser Projekte vorantreiben, ohne dass das zusätzlicher Steuerung oder Mittel bedürfte. Warum? Orientieren sich Lehrpersonen in ihrer Unterrichtsplanung nicht an Bewertungen und Prüfungen, fokussieren sie automatisch auf Lernprozesse. Sie müssen sich der Frage stellen, wozu und wie Schüler:innen lernen – Prüfungen ersetzen diese Frage. Zudem werden sie automatisch mehr Leistungen von Schüler:innen wahrnehmen, ihr Selbstvertrauen stärken – statt nach Fehlern zu suchen.

Der Wahn der Messbarkeit

Somm und andere verweisen verzweifelt auf die PISA-Studie um ihr Bauchgefühl, die heutige Schule sei schlechter als die, welche sie selber besucht haben, irgendwie objektiv auszudrücken. Dahinter steckt dasselbe Problem wie hinter Noten: Die falsche Vorstellung, die Qualität menschlicher Aktivitäten wie Unterricht oder Lernen ließen sich über Zahlenwerte ausdrücken. Die Lese- und Rechenfähigkeiten von Schüler:innen stehen in komplexen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, beruflichen und medialen Transformationen. Sie davon gelöst isoliert zu messen und zu vergleichen – das sagt nichts über die Qualität von Schule aus.

Verbindet man diese Überlegungen, dann ist die Abschaffung von Noten nicht eine weitere, möglicherweise falsche Reform. Sie ist eine längst überfällige, einfach umzusetzende Anpassung, die Energien freisetzt. Die Befürchtung, dadurch sinke die Qualität von Schule und das Kompetenzniveau von Schüler:innen, ist ein konservativer Teufel, der immer wieder an die Wand gemalt wird. Eine ganzheitliche Betrachtung der Schule und ihrer Qualitäten berücksichtigt, dass sinnvolle und angstfreies Lernen für das Leben von Schüler:innen Auswirkungen hat, die sich nicht über Leistungstests in Mathe und Deutsch erfassen lassen.

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Verstehen lernen – die Weisheit der Praxis https://condorcet.ch/2024/04/verstehen-lernen-die-weisheit-der-praxis/ https://condorcet.ch/2024/04/verstehen-lernen-die-weisheit-der-praxis/#respond Tue, 09 Apr 2024 11:37:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=16453

Für einmal ein positiver Bericht aus der Schullandschaft Basel-Stadt. Mario Gerwig, Autor und Mathematiklehrer am Leonard-Gymnasium hat uns einen Film mit sechs Unterrichtsbeispielen aus seiner Schule geschickt. Auffallend dabei: Direkte Instruktion wechselt mühelos zum schülerzentrierten Unterricht und wieder zurück. Und alles im Klassenverband!

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Dr. Mario Gerwig, Jg. 1984, ist seit 2011 Lehrer für Mathematik und Chemie am Gymnasium Leonhard Basel. Er ist Schulbuchautor und Länderberater ( Mathematik Neue Wege, Westermann Schweiz) sowie Experte für Maturprüfungen in Mathematik (Kantone BS und BL) und Diplomprüfungen in den Bildungs- und Sozialwissenschaften (PH Luzern). 2021 erschien das Buch Der Satz des Pythagoras in 365 Beweisen (Springer Spektrum, Berlin).

Ein Dokumentarfilm über das Kernelement der Schule: den Unterricht. Im Zentrum stehen fünf Unterrichtseinheiten und eine Lehrpersonen-Werkstatt, die am Gymnasium Leonhard in Basel unterrichtet wurden und die in Interviews kommentiert und reflektiert werden. Es geht um Faradays Kerze (Chemie), Robert Walsers Spaziergang (Deutsch), Unsere Abend-Zeitung (Deutsch), Dostojewskis Grossinquisitor (Philosophie), den Satz des Pythagoras (Mathematik), Himmelsuhr und Erdglobus (Geographie), aber auch um Bildung, das exemplarische Prinzip, genetischen Unterricht, Didaktik als Dramaturgie von Unterricht und das Baden im Phänomen. Ein langer Film, der aber keine Längen hat! Ich bin allerdings nicht ganz unvoreingenommen, ich darf durch den Film moderieren…

 

 

 

 

 

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Noten abschaffen? Oder wie Wädenswil seine Schule zerstört https://condorcet.ch/2024/04/noten-abschaffen-oder-wie-waedenswil-seine-schule-zerstoert/ https://condorcet.ch/2024/04/noten-abschaffen-oder-wie-waedenswil-seine-schule-zerstoert/#comments Thu, 04 Apr 2024 11:41:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=16411

Markus Somm, Chefredaktor des "Nebelspalter", wohnt mit seinen 5 Kindern in Wädenswil. Drei davon sind in der Oberstufe Wädenswil beschult worden. Das OSW möchte die Schule revolutionieren. Was das heisst, zeigt dieser Beitrag aus Elternsicht. Der Artikel ist zuerst im Nebespalter unter der Rubrik Somms Memo erschienen.

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Die Fakten: In der Oberstufe Wädenswil möchte man die Noten abschaffen. Farben sollen sie ersetzen.

Warum das wichtig ist: Seit Jahren wird die Schweizer Schule reformiert, seit Jahren werden die Schweizer Schüler immer schlechter. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang?

Markus Somm, Herausgeber und Chefredaktor des “Nebelspalter”: Wer intelligent ist, weicht der Mühsal aus.

Es war einmal eine Sekundarschule in Wädenswil. Sie hatte einen guten Ruf, besonders bei uns Eltern, denn die Schülerinnen und Schüler lernten viel. Wir wohnen in Wädenswil, und drei unserer fünf Kinder gingen in diese Sekundarschule – zur allgemeinen Zufriedenheit, insofern man das von Kindern sagen kann, die natürlich, so auch unsere Kinder, der Meinung waren, sie hätten ihre Zeit auch gescheiter einsetzen können: Im Wald etwa mit der Pfadi. Oder vor dem Fernseher. Welches gesunde Kind lernt denn gerne, wenn draussen die Sonne scheint?

Die Oberstufe Wädenswil (OSW) besass einen hervorragenden Ruf, stand aber unter dem Verdacht, allzu altmodisch zu sein, was ihre Methoden und Inhalte anbelangte. Wenn man unter sich war (nicht wir, aber andere besorgte Bürger), wurde gar getuschelt, ein paar der Lehrer stünden der SVP nahe. Horribile dictu. Zu Deutsch: Uiuiui.

In der OSW wurde zum Beispiel die «Lernlandschaft» installiert, genannt «Lilo», wo Schüler machen, was sie wollen, pardon: sie lernen, wie man selbstbestimmt lernt, und dabei noch Spass empfindet, auch wenn das die meisten Erwachsenen bis ins hohe Alter nicht fertigbringen, auch die meisten Lehrer übrigens nicht.

Irgendwann wurden diese Lehrer dann Gott sei Dank pensioniert, und Wädenswil entwickelte ganz eigene Ambitionen, jedenfalls deren Politiker. Wädenswil wurde zum Standort der Moderne. Ein Paris der Bildungsstürme, ein Petrograd der permanenten Bildungsrevolution.

Kein Stein blieb auf dem anderen. Und auch die Sekundarschule Wädenswil, dieser Hort der Reaktion, wurde befreit.

In der OSW wurde zum Beispiel die «Lernlandschaft» installiert, genannt «Lilo», wo Schüler machen, was sie wollen, pardon: sie lernen, wie man selbstbestimmt lernt, und dabei noch Spass empfindet, auch wenn das die meisten Erwachsenen bis ins hohe Alter nicht fertigbringen, auch die meisten Lehrer übrigens nicht.

Lernlandschaft?

Unser jüngste Sohn Hans erlebte sie als Lernwüste, – was ihm allerdings nichts ausmachte, denn er machte einfach nichts, oder fast nichts. Während andere (meistens die Mädchen) fleissig ihre Aufgaben erledigten, konzentrierte er sich auf Videogames, die er ebenso fleissig absolvierte.

Lernlandschaft? Eher eine Lernwüste.

Wer intelligent ist, weicht der Mühsal aus. So ist der Mensch, so war Hans. Wir mussten ihn in einer anderen Schule unterbringen. Er lernte gar nichts mehr. Er verdurstete und verdorrte in der Lernlandschaft.

Die Revolution frass ihre Kinder.

Wenn etwas eine Revolution auszeichnet, dann der Zwang, immer weiter zu revolutionieren. Nie ist die Menschheit befreit. Nie die Oberstufe Wädenswil. Jetzt sollen die Noten aufgehoben werden. Nicht ganz, aber ein erster Schritt wird unternommen. Wir befinden uns in einer «Erprobungsphase».

Und das geht so:

  •     Zu Anfang des Semesters legt der Schüler selber fest, was für eine Note er erreichen will
  •     Eine 5 in Deutsch zum Beispiel (im Leseverstehen) oder eine 4,5 in Mathematik

Dann beginnt das Schuljahr, und es kommen viele Prüfungen auf ihn zu. Wenn der Schüler seine Arbeit zurückerhält, findet er aber keine Noten mehr, sondern der Lehrer («Lehrperson» im Revolutionsdeutsch) malt eine Farbe aufs Blatt:

  •     Hat der Schüler seine eigene Zielnote (etwa 6 statt 5 in Deutsch) übertroffen, dann erscheint Pink
  •     Hat er sie exakt erreicht, dann Grün
  •     Liegt er darunter, dann Orange
Für übertroffen gibt es die Farbe “pink”

Damit möchte die OSW allen Schülern «Erfolgsergebnisse» ermöglichen, «indem wir uns am individuellen Lernstand» orientieren, wie es in einem vertraulichen Papier heisst, das mir vorliegt.

   Triumph des Minimalismus. Ist das neuerdings eine Tugend?

«An der OSW setzen sich die Schüler:innen mit ihrem individuellen Anspruchsniveau auseinander», heisst es weiter auf Quarkdeutsch.

Mit anderen Worten:

Wer schlau ist, setzt sich eine Zielnote, die eindeutig unter seinem Potential liegt, das beschert ihm dauerhaft «Erfolgserlebnisse», (und mehr Zeit, um Videogames zu studieren)

Triumph des Minimalismus. Ist das neuerdings eine Tugend?

Gewiss, die OSW betont, dass für die «Setzung der Zielnote» die Lehrer und die Eltern miteinbezogen werden. Es wird mit dem Schüler also über dessen Noten verhandelt. Was für ein Heidenspass.

Wir Eltern müssen demnach nicht nur den Lehrer bezahlen, der seine Arbeit nicht mehr ausführt, sondern wir haben die Arbeit auch noch für ihn zu erledigen. Denn darum geht es am Ende (abgesehen von der Ideologie der Anti-Leistungsgesellschaft, dazu in einem nächsten Memo mehr):

  •     Der Lehrer (obwohl die meisten Lehrer das gar nicht verlangen), wird von scheinbar mühseligen Aufgaben entlastet
  •     Denn es ist mühselig, einem Schüler eine schlechte Nachricht in Form einer schlechten Note zu überbringen. Er mault, sie weint, die   Eltern holen den Anwalt
  • Stattdessen wird dem Lehrer sehr viel Bürokratie aufgebürdet, denn das Management dieses neuen «Notensystems» ist kein Vergnügen. Ich habe die entsprechenden Excel-Tabellen gesehen: Horror

«Wir sind der Überzeugung, dass die Noten häufig lernhinderlich sein können», steht in diesem Papier.

Aha. Haben wir je darüber abgestimmt? Gibt es dafür empirische Evidenz? Wer ist da «Wir»? Was an unseren Schulen derzeit unter dem Radar der Öffentlichkeit von ungewählten, aber von uns bezahlten Funktionären vorangetrieben wird, ist tatsächlich eine Revolution.

William Shakespeare 1564- 1616. «Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.» .

Lenin fragte 1917 schliesslich auch keinen Russen, ob er in den nächsten 74 Jahren in der Sowjetunion leben möchte.

Übrigens dürfen die Lehrer laut Papier der OSW im «Hintergrund» dann doch Noten setzen, ohne sie dem Schüler aber zu zeigen: eine 6, wenn Lernziel übertroffen, eine 5, wenn erreicht, eine 4 für «teilweise erreicht», 3, wenn «nicht erreicht»

«Im Hintergrund».

Oder um es mit William Shakespeare, einem englischen Schriftsteller, der sich nie in der Lilo aufhielt, zu sagen: «Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.»

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag

Markus Somm

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Wie ideologisch sind unsere Schulen? https://condorcet.ch/2024/03/wie-ideologisch-sind-unsere-schulen/ https://condorcet.ch/2024/03/wie-ideologisch-sind-unsere-schulen/#comments Fri, 29 Mar 2024 17:20:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=16320

Der Tamedia-Journalist Philipp Loser hält die Befürchtungen, wonach der neue Rahmenlehrplan in eine ideologische Richtung führt, für übertrieben – und blickt nach Russland, wo kritisches Denken wirklich gefährlich ist. Dieser Artikel ist im Tagimagi und in den Tamedia-Zeitungen veröffentlicht worden.

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Hat unsere Armee die Schweiz im Zweiten Weltkrieg heldenhaft beschützt? Verzichtete Adolf Hitler auf einen Einmarsch bei uns, weil er Angst vor dem «stacheligen Igel» hatte? War das Réduit eine strategisch brillante Idee? Wer irgendwann in der Nachkriegszeit eine Schweizer Volksschule besucht hat, der weiss auf alle drei Fragen die richtige Antwort: Jawoll!

Bis weit in die 1980er-Jahre (an manchen Orten auch darüber hinaus) wurde im Geschichtsunterricht ein geschöntes Selbstbild vermittelt. Eine Erzählung der bürgerlich-konservativen Mehrheit über ein kleines und wehrhaftes Land, das sich tapfer der Welt entgegenstellte. Nazigold? Kollaborateure? Abgewiesene Juden an der Grenze? Nicht der Rede wert.

Die berechtigte Kritik an den vermittelten Inhalten in der Schule (am verblendeten Geschichtsbild der Eidgenossenschaft überhaupt) kam damals von links. Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt: Es sind konservative Politiker, die sich am von ihnen beobachteten «Linksdrall» in der Staatsschule stören. Sie stören sich an angeblich links-grünen Lehrpersonen (!), die die Schüler auf Linie bringen. Sie stören sich am Lehrplan 21, der wolkige Kompetenzen statt echtes Wissen vermittle. «Lernziel Gutmensch», nannte es die «NZZ am Sonntag».

Aktuell wird der aktualisierte Lehrplan für die Gymnasien heftig kritisiert, weil dort neu «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» unterrichtet werden soll. Dieses Fach beinhaltet laut Lehrplan 21 «die Zielvorstellung, dass für die Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse aller Menschen heute und in Zukunft eine solidarische Gesellschaft und wirtschaftliches Wohlergehen notwendig sind».

Es ist die Umsetzung des im zweiten Artikel der Bundesverfassung festgehaltenen Zwecks der Eidgenossenschaft, die gemeinsame Wohlfahrt und die nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Und das soll links sein?

Vielleicht nicht links. Aber gefährlich. Im neuen Lehrplan würden Haltungen als Kompetenzen definiert, sagte der Berner GLP-Grossrat Alain Pichard, einer der prominentesten Kritiker des Lehrplan 21, gegenüber der «Sonntagszeitung». «Damit entwickelt sich unser Bildungssystem in eine gefährliche Richtung, die in eine totalitäre Umerziehung münden kann.»

Das ist natürlich völlig überzogen. Wie «totalitäre Umerziehung» in der Realität funktioniert, sieht man gerade in Russland, wo Wladimir Putin alles dafür tut, seine Bevölkerung gleichzuschalten – von Anfang an. Es brauche eine staatliche Version der Geschichte für alle, die heute Schüler und morgen Staatsbürger seien, sagte Putin im Dezember lobend über ein neues Schulbuch für die elfte Klasse. Darin steht unter anderem, dass der Prager Frühling von den Amerikanern inszeniert, dass Stalin vom Volk aufrichtig geliebt und die DDR von Westdeutschland annektiert worden seien.

Totalitäre Propaganda. Die «Zeit», die über das Buch berichtete, traf in Moskau eine Lehrerin, die mit ihren Schülern eine Technik trainiert, um in Russland «als denkender Mensch» zu überleben. Bei Prüfungen solle man schreiben, was die Obrigkeit sich wünsche. Daheim dann solle man noch einmal für sich aufschreiben, was tatsächlich wahr sei. Doppeldenk.

Und anders als in Schweizer Schulen in den 1980er-Jahren, in denen sich aufgebrachte Schülerinnen und Schüler mit ihren Geschichtslehrern über das Verhalten der Eidgenossenschaft im Krieg stritten, oder in Schweizer Schulen der 2030er-Jahre, wo sich Schülerinnen und Schüler über – dereinst vielleicht total falsche – Nachhaltigkeitsansätze aufregen (wer weiss), ist es in Russland tatsächlich gefährlich zu widersprechen.

Da ist es fast schon rührend, wie fest sich manche über den Zeitgeist aufregen können, der heute durch unsere Schulen weht.Solange die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigem Denken und kritischem Fragen erzogen werden: alles easy.

https://www.derbund.ch/ideologie-an-schulen-wie-links-ist-unser-bildungssystem-660998667555

 

 

 

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“Ich brauche keinen Deutschunterricht!” https://condorcet.ch/2024/03/ich-brauche-keinen-deutschunterricht/ https://condorcet.ch/2024/03/ich-brauche-keinen-deutschunterricht/#comments Wed, 27 Mar 2024 13:21:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=16298

Was ein Prädikat ist, weiß kaum jemand, der Wortschatz ist so winzig wie die Aufmerksamkeitsspanne – und die meisten Kinder bestreiten offen, dass sie sich für die deutsche Sprache interessieren. Der Autor, Thomas Brey, ist in einer Realschule als Deutschlehrer eingesprungen. Sein Bericht, der in der WELT erschien, schockiert.

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Nach fast vier Jahrzehnten als Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa) kommt der Anruf des Schuldirektors: Ob ein “Feuerwehreinsatz” als Deutschlehrer möglich sei? Denn ein teils dramatischer Lehrermangel lasse einige Klassen ganz ohne Deutschunterricht. Die eigentlich für wenige Wochen geplante Aushilfe dauert am Ende vier Monate. Eine aussergewöhnliche Gelegenheit, in die Praxis einzutauchen, um die vielen Vorurteile auszuräumen oder zu bestätigen.

Gastautor Thomas Brey

Vorweg: Ja, es gibt sie noch – die interessierten, schlauen, mitarbeitenden und sozial agierenden Schülerinnen und Schüler. Und ja – viele Pädagoginnen und Pädagogen bemühen sich nach Kräften und manchmal auch mit bemerkenswerten Erfolgen und Lernresultaten. Hier ist jedoch die Rede von der Mehrzahl, vom schulischen Mainstream.

“Ich spreche so, wie ich spreche und das reicht mir!”

 

Tatort: Deutschunterricht in Realschulklassen mit Schülerinnen und Schülern zwischen 12 und 14 Jahren. Das deprimierende Urteil: Die Kenntnisse der Muttersprache sind erschreckend niedrig. Und was noch bedenklicher ist: Die meisten Kinder bestreiten offen, dass sie sich für die deutsche Sprache interessieren. Im Gegenteil. “Ich spreche so, wie ich spreche und das reicht mir!” und “Ich brauche keinen Deutschunterricht!”, lauten die “Rechtfertigungen”. Ob Deklinationen, Konjugationen, ob Tempora von Verben, die Bestimmung von Satzgliedern, Pronomen, Adverbien oder der Unterschied von Aktiv und Passiv – böhmische Dörfer für die meisten Schüler. Was Subjekte, Prädikate oder Objekte in deutschen Sätzen sind, weiss kaum jemand und will auch niemand wissen. 

Sprachliche Defizite

Ein schludriger Sprachgebrauch, ein sehr eingeschränkter Wortschatz und gravierende grammatische Fehler sind das Ergebnis schon auf den ersten Blick. Über das generelle Weglassen des “e” bei Verben in der ersten Person Präsens (ich fahr, schrei, hab, spiel) kann man vielleicht noch hinwegsehen. Doch beim Präteritum unregelmäßiger Verben (ich fliegte, schlafte, blaste, laufte) muss dann doch der Rotstift her. Die Schulbücher haben sich auf diese geringe Sprachkompetenz eingestellt und übersetzen in Fussnoten deutsche Vokabeln, die Schülerinnen und Schülern angeblich nicht geläufig sind.

“Absurd” wird mit “abwegig, verrückt” erklärt, “er stritt” mit “er kämpfte” und “unwirtlich” mit “arm, karg”. Selbst das Verb “posieren” (“eine gekünstelte Haltung einnehmen”) ist den Kindern laut Schulbuch unbekannt. Das gilt demnach auch für Begriffe wie Motel, Orchidee, Terrarium, Kuvert, Pforte, Stube, Wache, Beute, Makkaroni, Sweater oder ein Dutzend, die allesamt übersetzt und damit erklärt werden sollen.

Vokabeln wie behände (flink, geschickt), töricht (dumm), hoch aufgeschossen (gross), hervorlugen (schauen), nahm sich Urlaub (nahm sich frei), flau im Magen (schwach) und dramatische Turbulenzen (spannende Entwicklung) kommen laut dieser Annahme im Wortschatz Heranwachsender nicht vor. Diese Reihe könnte um dutzende Beispiele verlängert werden.

Schulbücher mit Aktualisierungsbedarf

Das Themenkapitel “Balladen erschliessen” beginnt mit diesem Text: “Ab dem 16. Jahrhundert bis ins 18./19. Jahrhundert zogen sogenannte ‘Bänkelsänger’ durch die Ortschaften, um auf Marktplätzen und Jahrmärkten schauerliche Geschichten (z.B. von Morden oder unglücklicher Liebe) zu erzählen”. Welches Kind soll mit solchen Texten angesprochen werden?

Das Kapitel “Fabeln” stützt sich wesentlich auf die Stücke des griechischen Dichter Äsop aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die dann noch in einer antiquierten deutschen Übersetzung daherkommen, die für viele nicht mehr zu verstehen ist. Die Schulbuchtexte als Anschauungs- und Übungsmaterial – ob aus der Literatur oder aus den Medien – stammen vorwiegend aus den Neunzigerjahren, sind also drei Jahrzehnte als. Die Schulbücher müssten in kürzeren Zeiträumen aktualisiert werden, um wieder einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der jungen Menschen zu finden.

Die Corona-Pandemie bot eine gute Gelegenheit, sich mit Krankheiten und Medizin während der verschiedenen Epochen zu beschäftigen.

 

Das gilt offensichtlich auch für den Geschichtsunterricht, in dem Kaiser, Könige und Schlachten nach wie vor dominieren. Statt Schülerinnen und Schüler mit faktografischem Kleinklein abzuschrecken, sollten die Themen an die Aktualität anknüpfen: Die Corona-Pandemie bot eine gute Gelegenheit, sich mit Krankheiten und Medizin während der verschiedenen Epochen zu beschäftigen. Themen wie Hygiene (besonders die Geschichte der Toiletten), Ernährung, Familie oder Wohnverhältnisse und Haustiere kommen ebenfalls für einen “Ritt durch die Geschichte” infrage. Mit dieser “Geschichte zum Anfassen” könnten tiefer gehende Probleme und Analysen einzelner Abschnitte der Historie verknüpft werden.

Kein Wunder, dass auch beim letzten Bildungsvergleich Pisa deutsche Schülerinnen und Schüler besonders im Fach Deutsch schlecht abschneiden. Extrem kritisch sieht es beim Textverständnis aus. In einer anderen Realschule hatte ich mit 10- und 11-Jährigen ein Lied einstudieren wollen. Dazu bat ich mehrere Kinder, die einzelnen Strophen mit jeweils vier Zeilen vorzulesen, dann den Text zur Seite zu legen und mit eigenen Worten zusammenzufassen, was gerade vorgelesen wurde. In vielen Fällen waren die Schülerinnen und Schüler dazu ausserstande. Folgerichtig haben die Bundesländer Bayern und Mecklenburg-Vorpommern fürs kommende Schuljahr für die Klassen drei bis zehn die Aufstockung von Deutsch im Stundenplan beschlossen.

Fragwürdiges Klassenklima

Neben den inhaltlichen Defiziten erschwert das Klassenklima nicht selten den Unterricht überhaupt. Die Kombination von Handy, Süssem und Trinken führt zu ständiger Unruhe, die in ziellosem Aktionismus mündet: Kaum jemand kann länger als ein paar Minuten in üblicher Körperhaltung auf seinem Stuhl sitzen, um dem Unterricht zu folgen. Viele hocken mit angezogenen Beinen auf ihren Plätzen. Dem Nachbarn oder Hintermann werden ohne Grund die Stifte oder das gesamte Etui mit Schreibutensilien weggenommen. Stifte werden zerbrochen und andere damit “abgeworfen”, wie es im Jargon der Jugendlichen heisst. Durch die Klassen geworfene Papierkügelchen gehören zum Unterrichtsalltag.

An manchen Tagen sieht der Boden des Klassenzimmers aus wie ein “Schlachtfeld”: abgerollte Papierhandtücher, leere Flaschen und zerbrochene Stifte… – Nicht ohne Grund gibt es in jeder Klasse einen Fegedienst, weil sich die Putzkräfte sonst weigern, diese “verwüsteten” Klassenräume nach Schulschluss zu säubern.

Das Dauertrinken erinnert ebenfalls stark ans längst vergangene Babyalter. Die top gestylten Trinkflaschen – oft mit süssem Saft – sind für die Sitznachbarn eine ständige Quelle der Begierde.

 

Regelmässig fallen dauerkippelnde Schülerinnen und Schüler unter großem Jubel der Klasse mit ihren Stühlen um. Einzelne krabbeln unmotiviert wie Kleinkinder auf dem Boden unter Tischen und Stühlen herum. Besonders aktive Jungen werfen sich ohne ersichtlichen Grund auf den Boden und behaupten, sie hätten sich den Fuss verstaucht oder gar einen Muskelfaserriss zugezogen. Das sorgt für lautstarke Heiterkeit. Das Dauertrinken erinnert ebenfalls stark ans längst vergangene Babyalter. Die top gestylten Trinkflaschen – oft mit süssem Saft – sind für die Sitznachbarn eine ständige Quelle der Begierde. Wenn es gelingt, die zu “entwenden”, steht nicht nur in dieser Sitzreihe “Aufruhr”, der sich in konzentrischen Kreisen ausweitet.

Handys sind im Dauereinsatz – wenig erfindungsreich getarnt unter dem Tisch, im aufgeklapptem Federmäppchen oder Schulbuch. Ein Dauerthema. “Meine” Schule versucht es jetzt mit einer “Handygarage”: Zu Beginn des Schultages müssen Schülerinnen und Schüler ihre liebsten Spielgeräte dort deponieren. Am Ende nehmen sie ihre Mobiltelefone wieder an sich.

Das Kämmen langer Haare im Unterricht wird ebenso als selbstverständlich angesehen wie das ständige Aufsuchen der Toiletten. Natürlich geht es in den wenigsten Fällen wirklich ums Klo. Der Toilettengang wird als willkommene Unterbrechung des Unterrichts betrachtet – mit entsprechender Unruhe in der gesamten Klasse.

Fehlende Medienkompetenz

Diese ständige Unruhe und das Ablenken vom Unterrichtsstoff führt zu einer Aufmerksamkeitsspanne, die oft nicht länger als zwei, drei Minuten währt. Möglicherweise ist die intensive Nutzung von TikTok mit standardmässigen Videos von 30 bis 60 Sekunden für dieses Konzentrationsdefizit mitverantwortlich.

Nicht unbegründet ist vor diesem Hintergrund das von der EU-Kommission gegen TikTok eröffnete Verfahren. Denn in der Tat steht die Online-Plattform im Verdacht, durch die Analyse des Nutzerverhaltens Blasen zu bilden, die Suchtgefahren hervorrufen und den Jugendschutz unterlaufen könnten. Schliesslich will Brüssel untersuchen lassen, ob die Algorithmen zulassen, dass sich junge Menschen von diesem Kanal “losreissen” können.

In einer kleinen Unterrichtseinheit für eine 10. Hauptschulklasse konnte ich besichtigen, dass es Schülerinnen und Schülern beinahe vollständig an Einsichten in die Funktion der Medien fehlt, mit denen sie sich nonstop beschäftigen.

 

Um den Gefahren der extremen Nutzung von Social Media etwas entgegenzustellen, müssten Schulen dem Training von Medienkompetenzen viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Themen wird zwar nicht in Abrede gestellt. Doch es fehlt an Lehrkräften, Unterrichtsmaterialien und an der Finanzierung eines solchen Angebots. In einer kleinen Unterrichtseinheit für eine 10. Hauptschulklasse konnte ich besichtigen, dass es Schülerinnen und Schülern beinahe vollständig an Einsichten in die Funktion der Medien fehlt, mit denen sie sich nonstop beschäftigen.

“Deutsch als Zweitsprache”

Ein zweiter Schwerpunkt meines Feuerwehreinsatzes waren zwei Kurse für Migrantenkinder (“Deutsch als Zweitsprache – DaZ”). Es handelte sich um Flüchtlinge aus der Ukraine, aus Russland, Syrien, Afghanistan und Serbien. Die DaZ-Gruppen waren sehr inhomogen und verlangsamten damit Sprachfortschritte. Es gab Teilnehmer, die vorher vergleichsweise gute Schulen im Heimatland besucht hatten und andere, die über Jahre keine Schule von innen gesehen hatten bzw. solche Schülerinnen und Schüler, die schon in ihrer Heimatsprache prinzipielle Lücken aufwiesen. Hier ist die Alphabetisierung erstes Ziel, bevor überhaupt mit dem Deutschunterricht begonnen werden kann. Vor allem Kinder aus der Ukraine nehmen oft nur widerwillig an diesem Unterrichtsangebot teil. Sie behaupten, ihre Familien kehrten bald in ihre angestammte Heimat zurück. Daher lohne es sich nicht, Deutsch zu lernen.

Der Unterricht wird oft in Eigenregie der Lehrkräfte gestaltet, meist ohne klare Standards, Curricula und Angebote zur Weiterbildung oder gar Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern. Dem DaZ-Unterricht müsste viel mehr Bedeutung eingeräumt werden. Denn nur eine sprachliche Teilhabe macht gesellschaftliche Integration überhaupt erst möglich.

Mit den hier beschriebenen Zuständen ist das Thema natürlich längst nicht erschöpft. Allerorten wird beklagt, dass Universitäten am Bedarf der Schulen vorbei ausbilden. Musiklehrkräfte fehlten auf weiter Flur, weil die Unis zu hohe Massstäbe ans Beherrschen von Instrumenten anlegten, Englischlehrer seien rar, weil immer weniger Studierende bereit und finanziell in der Lage seien, ein Jahr im englischsprachigen Ausland zu absolvieren.

Wichtige kognitive Fähigkeiten erwerben

Warum arbeiten heute trotz jahrelangen Lehrermangels sage und schreibe 42,3 Prozent der deutschen Lehrkräfte nur in Teilzeit? Und ist an der jüngsten „Lehrerschelte“ des OECD-Bildungsdirektors Andreas Schleicher (auch im Interview mit der Welt) etwas dran? Schließlich: Stimmt es, dass Familien immer weniger Zeit für die Erziehung ihrer Kinder haben und diese Aufgaben an die Schulen abschieben, die damit überfordert sind?

Warum arbeiten heute trotz jahrelangen Lehrermangels sage und schreibe 42,3 Prozent der deutschen Lehrkräfte nur in Teilzeit?

 

Im Prinzip sind sich Eltern, Lehrer und die Wissenschaft einig, dass Schulen die junge Generation befähigen müssen, wichtige kognitive Fähigkeiten zu erwerben. Die werden als zentrale Zukunftsressource für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik angesehen. Doch diese schulischen Grundaufgaben werden offensichtlich immer weniger erbracht. Mit weitreichenden Folgen für die Forschung, den Arbeitsmarkt und nicht zuletzt für die Funktion des demokratischen Systems.

Denn gebildete Bürger sind die unverzichtbare Voraussetzung für parlamentarische Demokratien. Sie müssen fähig sein, politische Angebote zu beurteilen und zu diskutieren, um ihre Stimme für gesellschaftspolitische Konzepte abzugeben. Damit stehen wir alle vor der wohl grössten innenpolitischen Herausforderung. Die meisten Anzeichen sprechen aber dafür, dass die länderspezifisch zersplitterten Bildungspolitiker dieses Themenfeld immer noch nicht als das zentrale Zukunftsanliegen Deutschlands identifiziert haben, das von ihnen schnelle Reaktionen verlangt.

Meine – sicher zunächst selektive – Erfahrung lässt nur diesen Appell zu: An der Finanzierung des Bildungssystems darf nicht gespart werden. Denn diese Gelder müssen als Zukunftsinvestitionen betrachtet werden. Ihr Ausbleiben birgt kaum abschätzbare Gefahren.

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