Gastautor - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 28 Sep 2023 10:49:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Gastautor - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wie überzeuge ich eine Lehrkraft vom Austritt aus der Gewerkschaft? https://condorcet.ch/2023/09/wie-ueberzeuge-ich-eine-lehrkraft-vom-austritt-aus-der-gewerkschaft/ https://condorcet.ch/2023/09/wie-ueberzeuge-ich-eine-lehrkraft-vom-austritt-aus-der-gewerkschaft/#respond Tue, 26 Sep 2023 07:38:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=14992

Peter Greene hat heute einen ausgezeichneten Beitrag über die politischen Kräfte veröffentlicht, die die Lehrergewerkschaften abschaffen wollen. Einige hassen die Gewerkschaften, weil sie den Arbeitgebern die Freiheit nehmen, ihre Angestellten einem konstanten Lohndruck auszusetzen. Andere hassen sie, weil sie demokratische Kandidaten finanzieren. Einige wollen nicht, dass die Arbeitnehmer eine Stimme haben. Peter Greene, Autor im Diane Ravitch-Blog, ist ein engagierter Gewerkschafter und Lehrer, mit einer pointierten linken Haltung. Er schrieb schon oft für unseren Blog.

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Wenn es irgendetwas Wahres an Lehrern in Gewerkschaften gibt, dann ist es, dass einige Leute wünschen, dass Lehrkräfte grundsätzlich nicht in Gewerkschaften organisiert sein sollten. Dieser Tage kursieren solche Ideen wieder einmal in einigen republikanisch dominierten Staaten. Aber wenn man sich einige der Akteure in diesem gewerkschaftsfeindlichen Raum ansieht, sollte man sich schnell wieder an den Tag der Arbeit und seine Geschichte erinnern.

Gastautor Peter Greene, Lehrer, Autor des Diane Ravitch-Blog

In einigen Staaten besteht die Taktik darin, die Gewerkschaften einfach zu entmachten, so dass sie A) nichts mehr ausrichten können und B) die Lehrer sie verlassen, weil sie nichts mehr ausrichten können.

In anderen Staaten besteht die Taktik darin, den Lehrern die Idee des Ausstiegs direkt schmackhaft zu machen. Wir haben eine Vielzahl dieser Methoden gesehen, die ich Ihnen hier kurz zusammenfassen möchte.

Verlasse deine böse Gewerkschaft!

Zu den ersten Anbietern gehörte Free To Teach, ein Unternehmen der Americans for Fair Treatment, einer Tarnorganisation der rechtsgerichteten Commonwealth Foundation in Pennsylvania.

Da ist die Freedom Foundation, die einmal damit prahlte, dass sie “einen bewährten Plan für den Bankrott und die Niederlage der Regierungsgewerkschaften durch Bildung, Rechtsstreitigkeiten, Gesetzgebung und Gemeindeaktivierung hat (…) wir werden uns mit nichts zufrieden geben, was nicht den totalen Sieg gegen die Regierungsgewerkschaftsschurken bedeutet.” Die Freedom Foundation wurde von der Bradley Foundation, der Koch Foundation und dem Searle Freedom Trust gegründet.

Dann gibt es noch die Organisation Speak Out For Teachers, die vom Center for Union Facts ins Leben gerufen wurde, einer gewerkschaftsfeindlichen Gruppe, die Teil der Konstellation von Schwarzgeldgruppen unter der Leitung von Richard Berman war, der seit langem ein entschiedener Kämpfer gegen die Gewerkschaften ist.

Rebecca Friedrichs formuliert einen ganzen Leitfaden darüber, wie man einen Lehrer zum Austritt aus der Gewerkschaft überreden kann.

Da ist For Kids and Country, das Unternehmen der ehemaligen Lehrerin Rebecca Friedrichs, die vor fast einem Jahrzehnt das Gesicht einer großen gewerkschaftsfeindlichen Klage war und seitdem eine Karriere als Talkmasterin bei Fox-Breitbart gestartet hat. Sie formuliert einen ganzen Leitfaden darüber, wie man einen Lehrer zum Austritt aus der Gewerkschaft überreden kann.

Oder es gibt My Pay My Say, die “Willst du nicht aus der Gewerkschaft austreten”-Initiative des Mackinac Center for Public Policy, einer rechten Pressure Group mit Sitz in Michigan, die erwartungsgemäss mit einem Haufen DeVos-Geldern sowie mit Walton-, Koch- und Schwarzgeld finanziert wird.

Unverblümte Ziele

Die Janus-Entscheidung, die das Recht von Lehrern erfand, Trittbrettfahrer in Gewerkschaften zu sein und Leistungen zu erhalten, aber keine Beiträge zu zahlen, hat viele dieser Gruppen auf den Plan gerufen. Sie argumentieren, dass Lehrer keine Gewerkschaftsbeiträge mehr zahlen sollten, weil sie dann mehr Geld bekämen (Spoiler-Alarm: keine dieser Gruppen oder ihre Unterstützer haben sich jemals für höhere Lehrergehälter eingesetzt).

Es gibt auch gewerkschaftsfeindliche Lehrkräfte, die Argumente wie “Ich könnte einen besseren Vertrag für mich selbst aushandeln, wenn ich nicht an diese Gewerkschaft gebunden wäre” vorbringen, und die sind einfach nur naiv. Man sollte ihnen auch nichts vom Weihnachtsmann erzählen. Die Gewerkschaftsgegner lieben es, diese Leute anzufeuern, und vielleicht können sie sogar den Lehrerberuf für einen bequemen Job in einem Büro verlassen.

Die Überlegung: Gibt es die Gewerkschaften nicht mehr, gibt es auch keine Unterstützung der Demokraten.

Es gibt allerdings auch unverblümte Ziele, die Gewerkschaften gründlich in Frage zu stellen. Denn die Lehrergewerkschaften gelten als stramme Verbündete der Demokraten. Und sie sind finanzstark. Die Überlegung: Gibt es die Gewerkschaften nicht mehr, gibt es auch keine Unterstützung der Demokraten. Und, als Bonus, entmachtet man die Gewerkschaften, und die Lehrer werden nicht mehr so selbstbewusst für anständige Verträge und Arbeitsbedingungen kämpfen.

Verheerende Bildungspolitik der Demokraten

Es sind mehrheitlich nur realitätsferne Gedankenspiele, trotz der erstaunlichen Resonanz, die sie an einigen Orten erzielen. Für sie sind die öffentlichen Schulen eine Geldmaschine: Lehrkräfte erhalten Geld und leiten es an ihre Verbündeten, die Demokraten und Liberalen. Im Gegenzug – so die Erzählung, können die Lehrer und Lehrerinnen des Landes „faul auf der Haut liegen und müssen keine Leistung zeigen. “Lehrer” hätten einen Scheinjob, bei dem sie nicht wirklich versuchen, jemanden zu unterrichten. Natürlich werden sie auch hören, dass die Gewerkschaftsführer “korrupt” sind, und dann ist es nicht mehr weit bis zur Wahlmanipulationstheorie der Trump-Anhänger.

Ein anderer Flügel dieser gewerkschaftsfeindlichen Bestrebungen sind die Anti-Gewerkschaften. Das sind Gruppen, die gegründet wurden, um eine alternative Organisation für Menschen zu bieten, die zwar von den Gewerkschaften enttäuscht sind, aber trotzdem einen Verband im Rücken haben wollen. Vor einem Jahrzehnt entstanden sogenannte Lehrerkollektive, die gegründet wurden, um die Lehrkräfte bei den Common Core und Testbatterien zu unterstützen, denn diese wirken sich bekanntlich auch auf die Finanzierung der Schule aus. Hier wird geschickt eine direkte Hilfe geboten, die auch gerne genommen wird. Und hier sind natürlich die herkömmlichen Gewerkschaften nicht ganz unschuldig, haben sie doch viel zu zaghaft die verheerende Bildungspolitik der Demokraten unterstützt.

Letztendlich sind die Gewerkschaften zwar nicht fehlerlos, aber dennoch für das Check-and-Balance-System unersetzlich.

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“Die woke Cancel-Culture lähmt Fortschritt und Entwicklung, schläfert Schüler ein und macht den Lehrberuf madig” https://condorcet.ch/2023/09/die-woke-cancel-culture-laehmt-fortschritt-und-entwicklung-schlaefert-schueler-ein-und-macht-den-lehrberuf-madig/ https://condorcet.ch/2023/09/die-woke-cancel-culture-laehmt-fortschritt-und-entwicklung-schlaefert-schueler-ein-und-macht-den-lehrberuf-madig/#respond Mon, 25 Sep 2023 05:52:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=14996

Ogi-Französisch, Rastalocken und das woke Minenfeld – Betrachtungen eines alten, weissen Mannes. Gerd Dönni unterrichtet seit 1991 am Kollegium Spiritus Sanctus Brig die Fächer Latein, Englisch und Geschichte. Unter seinen ehemaligen Schülern findet sich vom SVP-Nationalrat, Mitte-Fraktionschef des Grossrates bis zum Grünen-Kantonalpräsidenten und der queeren Aktivistin alles. Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen.

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Bundesrat Ogis Französisch: charmant und authentisch, Bundesrätin Amherds Ausführungen in Hochdeutsch: autochthon wie Walliser Weisswein. Und doch freue ich mich als Englischlehrer, dass Joel, geboren und aufgewachsen in Zermatt, mit einem fast perfekten Cockney-Akzent parliert und Sara, aus einem anderen Walliser Seitental mit langem Zufahrtsweg, Amerikanisch mit «blaccent» redet, als lebte sie in der Bronx. Besorgten Eltern sei gesagt, dass Netflix-Serien und Gaming, in Massen konsumiert, erfreuliche Nebenwirkungen haben können.

Das Niveau, das viele Schüler, nicht nur des Kollegiums Brig, gerade im Fach Englisch erreichen, ist phantastisch. Freilich, dürfen Sara und Joel in der politisch korrektelnden Schweiz so klingen? War da nicht einmal ein Konzert, das abgesagt wurde, weil sich Schweizer erdreisteten, Rasta-Locken zu tragen? Ein unerhörtes Vergehen, im Katechismus der Postmoderne als kulturelle Aneignung gebrandmarkt und aufgeführt unter den himmelschreienden Sünden. Somit, Joel und Sara, muss ich als Lehrer eingreifen und euch auf bundesrätliche Aussprache trimmen, da es nicht angeht, dass ihr als privilegierte Schweizer den Akzent unterdrückter Minderheiten annehmt.

Absurd? Klar!

Nun unterrichtet Sara und Joel kein gewokter Jungspund, sondern ein alter, weisser Mann (huch!), ein Relikt aus der Zeit, als man schwarze Tafeln noch mit weisser Kreide beschrieb und sich nichts Politisches dabei dachte – Kreidezeit eben. Auch nach 32 Jahren im Beruf betrete ich mit sehr viel Freude jeden Morgen mein Zimmer (meistens finde ich es), und das an einer tollen Schule, die nicht trotz, sondern wegen 360 Jahren Geschichte und Tradition jung und dynamisch geblieben ist. Die Jugendlichen unseres Kollegiums sind offen, interessiert, verspielt, unbekümmert.

Sollte die Diskussion einmal doch schleppend sein, so brauche ich nur meine stockkonservative Meinung kundzutun, und die Fetzen fliegen – und am Schluss mögen wir uns immer noch und lächeln uns versöhnt an.

Nein, das Kollegium Brig mit dem bescheidenen Namen Spiritus Sanctus ist kein Paradies von Heiligen, auch hier gibt es rotznäsige Leistungsflüchtlinge, maulige Teenager, vorlaute Bengels und freche Gören. Aber gerade dadurch ergeben sich die vielen erfrischenden Debatten der Jugendlichen, geführt in gegenseitigem Respekt, in denen alle Meinungen im gesetzlichen Rahmen gesagt werden dürfen, ohne dass der andere als Mensch niedergeknüppelt wird.

Sie leben vielleicht noch den Geist des heiligen Augustinus, der dazu ermunterte, den Irrtum zu töten, den Irrenden aber zu lieben. Sollte die Diskussion einmal doch schleppend sein, so brauche ich nur meine stockkonservative Meinung kundzutun, und die Fetzen fliegen – und am Schluss mögen wir uns immer noch und lächeln uns versöhnt an.

Umso grösser meine Bedenken, als ich kürzlich in der «NZZ am Sonntag» einen Artikel las über das Lachverhalten von Gymnasiasten an einer Zürcher Schule. Worüber man vor zwanzig Jahren herzhaft prustete, das scheint nun Schockstarre auszulösen. Humor steht unter Generalverdacht, Lachen wird zum Indiz, xenophob, biphob, ableistophob, fatphob, irgendwasphob zu sein.

Lauter Probleme

Zuwanderung, Polarisierung oder Stadt-Land-Graben: Die Schweiz hat verschiedene Herausforderungen zu bewältigen. In einer Artikelserie widmen sich verschiedene Persönlichkeiten – bekannte und weniger bekannte – einem Problem, das es zu lösen gilt.

Die Zwangsjacke schmallippiger Ideologien wurde schon viel zu oft um Jugendliche gezurrt. Bitte keine neue Inquisition im Schulzimmer, sogar wir traditionsbewussten Katholiken haben die Scheiterhaufen abgeschafft. Auch das Stresslevel vieler Lehrpersonen bewegt sich im tiefroten Bereich, insbesondere die Newcomer, an den Unis auf Political Correctness getrimmt, erfahren das Schulzimmer zu oft als Ort gequälten Eiertanzes oder gar als wokes Minenfeld.

Humor steht unter Generalverdacht, Lachen wird zum Indiz, xenophob, biphob, ableistophob, fatphob, irgendwasphob zu sein.

Was darf man überhaupt noch sagen, ohne dass die Übersensiblen den Unerleuchteten umstellen wie eine Meute Wölfe ein Walliser Schaf und die Leserbriefspalten vor Empörung zu dampfen beginnen? Lehrer sein ist, auch und gerade zu Beginn, aufreibend genug. Da braucht es nicht noch Wokeismus als dräuendes Damoklesschwert, das am Gender-Sternchen-Faden über dem Lehrerpult baumelt.

Schule braucht Konsens, Kompromiss, Ausgleich, Verständnis und Wohlwollen (und gut sind wir in der Schweiz damit gefahren), keine giftelnde Gehässigkeit, keine sprungbereite Feindseligkeit, kein schrilles Denunzieren. Entstanden aus edlen Motiven und guten Gründen – Kampf gegen Diskriminierung und Herabsetzung des Anderen –, ist Wokeness zu Wokeismus mutiert, der wie alle Ideologien totalitär, eifernd, intolerant und – das Schlimmste – völlig humorlos ist. Je mehr wir unsere Schüler gängeln und je länger der Index der verbotenen Bücher, Ideen, sogar Wörter wird, umso stickiger, langweiliger, öder und banaler wird das Klima an einer Schule.

Athen hat unsere Kultur geprägt mit Philosophie und Offenheit, nicht Sparta mit Gleichschritt und Zwang. Ja, Amerika ist Stoff für eine Tragikomödie mit einem Irren und einem Senilen als Protagonisten, aber wer möchte nicht lieber dort leben als in Russland oder China? Am liebsten aber lebe ich in der Schweiz, diesem wunderbaren Land, klein, manchmal kleinkariert, sauber, manchmal bünzlig, neutral, manchmal feige, vor allem aber ein bunter Haufen von Kantonen, Sprachen, Religionen, Überzeugungen.

Bitte keine neue Inquisition im Schulzimmer, sogar wir traditionsbewussten Katholiken haben die Scheiterhaufen abgeschafft.

Die woke Cancel-Culture lähmt Fortschritt und Entwicklung, schläfert Schüler ein und macht den Lehrberuf madig. Bleiben wir die Schweiz, die in ihren Traditionen und ihrer Vielfalt kunterbunter ist als jeder Regenbogen. In dieser schillernden Schweiz muss es Platz haben für woke Veganer genauso wie für urige Sennen in Rastalocken, Kids, die Indianerlis spielen, Lehrer, die nicht gendern und, natürlich, für Cockney-Joel und Bronx-Sara.

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Brennende Schulen und Proteste gegen Sexualkunde-Unterricht https://condorcet.ch/2023/09/brennende-schulen-und-proteste-gegen-sexualkunde-unterricht/ https://condorcet.ch/2023/09/brennende-schulen-und-proteste-gegen-sexualkunde-unterricht/#respond Sun, 24 Sep 2023 17:44:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=15002

Nachdem in Belgien bereits die sechste Schule gebrannt hat, sollen Terrorexperten die Lage analysieren. Denn der Verdacht liegt nahe, dass es einen Zusammenhang mit der Einführung des Sexualkundeunterrichts gibt. Islamistische Gruppen hatten dagegen protestiert. Wir bringen einen Bericht der dpa, der in der "Welt" publiziert worden ist.

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Die belgische Regierung hat nach einer Serie von Brandstiftungen in Schulen einen verstärkten Polizeieinsatz angekündigt. “Wir greifen unsere Schulen nicht an”, schrieb Innenministerin Annelies Verlinden am Freitag auf der früher als Twitter bekannten Plattform X. Sie habe die Bundespolizei angewiesen, die örtlichen Behörden zu unterstützen und eine Eskalation zu vermeiden.

Kurz zuvor war in Charleroi zum sechsten Mal in dieser Woche eine Schule angezündet worden. Auch in Brüssel wurde Feuer gelegt. In Lüttich wurden Medien zufolge zwei Schulen verwüstet. An mehreren Tatorten sind Protestzeichen gegen das Sexualkundeprojekt Evras gefunden worden, das im neuen Schuljahr in Brüssel und der Wallonie erstmals verpflichtend ist. Die Staatsanwaltschaft Charlerois erklärte Medienberichten zufolge, Ermittlungen hätten bislang keinen Zusammenhang zwischen den Brandstiftungen in der Stadt ergeben.

“Wir werden niemals hinnehmen, dass unsere Schulen zur Zielscheibe gemacht werden.”

Alexander De Croo, Ministerpräsident von Belgien

 

Ministerpräsident Alexander De Croo sagte, er habe die für Terror zuständigen Sicherheitsbehörden gebeten, die Lage zu analysieren. “Wir leben in einem Land der Toleranz, und Toleranz bedeutet, dass wir debattieren und unterschiedliche Standpunkte vertreten können, aber das darf niemals zu Gewalt führen, insbesondere nicht an Orten, die unsere Kindern nutzen”, sagte er. “Wir werden niemals hinnehmen, dass unsere Schulen zur Zielscheibe gemacht werden.”

Das Programm gibt es seit vier Jahren. Bislang war die Teilnahme freiwillig.

Im Übrigen gebe es Sexualkunde in Belgien schon seit 50 Jahren. “Unsere Schulen müssen ein sicherer Ort für alle unsere Kinder sein”, sagte De Croo bereits Donnerstag in einem auf Facebook veröffentlichten Video.

Anfang des Monats hatte das Parlament der französischsprachigen Regionen Belgiens einen Vorschlag für verpflichtende Sexualkunde für Schüler angenommen, wie die Nachrichtenagentur Belga berichtete. Bei Evras handelt es sich um insgesamt vier Stunden Unterricht zum Beziehungs-, Gefühls- und Sexualleben für Elf- bis Zwölfjährige beziehungsweise für 15- bis 16-Jährige. Das Programm gibt es seit vier Jahren. Bislang war die Teilnahme freiwillig.

Diese Graffitis wurden an einer Schule in Charleroi entdeckt (Bild: picture alliance/dpa/Belga)

Im Internet kursierten Gerüchte über den Unterrichtsinhalt. In Brüssel haben mehrere Hundert Menschen gegen das Programm protestiert. Islamistische Gruppen verurteilten Evras, weil sie befürchteten, es fördere eine “Hypersexualisierung” von Kindern. Bei den Bränden, die in der Nacht zum Mittwoch gelegt wurden, sehen die Ermittler demnach einen Zusammenhang mit Protesten gegen die neue Regelung, da an den Tatorten Graffitis mit Slogans gegen die Reform gefunden wurden. Bei einer Schule, die in der Nacht zum Donnerstag brannte, wurden keine derartigen Slogans entdeckt, wie der Sender RTBF berichtete. Angaben zu möglichen Verletzten und Schäden gab es zunächst nicht.

“Der Zugang zur Sexualerziehung darf nicht infrage gestellt werden. Sie macht unsere Kinder widerstandsfähig und ist die Grundlage für eine gute sexuelle Gesundheit.”

Alexander De Croo, Ministerpräsident von Belgien

 

Die wallonische Bildungsministerin Caroline Desir rief zur Besonnenheit auf. Es seien eine Menge Lügen über Evras im Umlauf, sagte sie. “Nein, es wird kein pädophiles System vorbereitet. Nein, es ist nicht geplant, Kinder dazu zu bringen, das Geschlecht zu wechseln. Nein, es ist nicht geplant, Kindern beizubringen, wie man sexuelle Aktivitäten betreibt”, betonte Desir.

“Der Zugang zur Sexualerziehung darf nicht infrage gestellt werden. Sie macht unsere Kinder widerstandsfähig und ist die Grundlage für eine gute sexuelle Gesundheit”, sagte de Croo.

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“Wir müssen handeln. Und zwar schnell.” https://condorcet.ch/2023/09/wir-muessen-handeln-und-zwar-schnell/ https://condorcet.ch/2023/09/wir-muessen-handeln-und-zwar-schnell/#comments Fri, 22 Sep 2023 07:13:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=14979

Der Basler Erziehungsdirektor gibt zu, dass das Pendel wohl etwas stark in die Richtung der ausnahmslosen Integration geschwungen ist. Das soll nun korrigiert werden. Wir bringen ein Interview des BaZ-Journalisten Sebastian Briellmann, das in der Basler Zeitung erschienen ist.

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Conradin Cramer, die integrative Schule steht in Basel-Stadt schon lange in der Kritik – nun unterlegt ein “Reporter” des Schweizer Fernsehens diese Kritik mit erschreckenden Bildern. Wie tief sitzt bei Ihnen der Schock?

Von einem Schock mag ich nicht sprechen. Der Film bestätigt aber meine Einschätzung: Wir müssen handeln. Und zwar schnell. Und deshalb haben wir ja bereits ein Massnahmenpaket auf den Weg gebracht, das wir noch dieses Jahr dem Grossen Rat vorlegen (vgl. Box 1). Damit – und das möchte ich betonen – solche Zustände nicht länger bestehen. Aber ich möchte auch sagen: Diese Klassen sind eine Ausnahme und nicht die Regel in Basler Schulhäusern.

Wenn eine erfahrene Lehrerin in die Kamera sagt, dass sie hilflos, kraftlos sei, sie so nicht mehr weitermachen könne, fragt man sich: Wieso sind solche Zustände nicht schon viel früher erkannt und behoben worden?

Weil die Anzahl Kinder, die Sondersettings benötigen, in den letzten Jahren dramatisch angestiegen ist (vgl. Box 2). Das ist tatsächlich beängstigend. Bei gewissen Klassen ist deswegen eine Grenze erreicht oder überschritten worden: Wenn Lehrpersonen nicht mehr unterrichten können, ist das ein grosses Alarmzeichen.

Hätten Sie nicht früher schärfer eingreifen müssen? Sie sind seit sechseinhalb Jahren im Amt – und man hat von aussen schon das Gefühl, dass die Probleme nicht wirklich offen diskutiert worden sind, wegen eines LDP-SP-Nichtangriffspakts.

Also ich finde schon, dass gerade über die integrative Schule sehr offen debattiert wird. Aber zur Frage: Wenn ich die Zahlen von besonderen Unterstützungsmassnahmen, die nötig sind, zwischen meinem Amtsantritt und jetzt, also innerhalb von sechseinhalb Jahren, vergleiche: Dieser Anstieg ist enorm. Den hat man nicht voraussehen können. Ich wäre gerne zwei Jahre früher dran, aber die Pandemie hat uns ausgebremst.

 

“Es gibt eben nicht die eine Kausalität, an der wir ansetzen und sagen können: Wenn wir das und jenes behoben haben, gehts den Kindern wieder besser.”

 

Die Missstände sind nicht erst seit Corona bekannt. Gibt es nun wenigstens Erkenntnisse, warum so viele Kinder ein Sondersetting – oder nicht selten sogar mehrere – benötigen?

Wir kennen gewisse Gründe, allerdings hat auch die Forschung nicht die alles erklärende Antwort. Man diagnostiziert früher – und mehr. Es gibt mehr psychische Erkrankungen in der Gesellschaft. Ebenfalls ist eine Zunahme an problematischen Familienkonstellationen erkennbar. Aber es gibt eben nicht die eine Kausalität, an der wir ansetzen und sagen können: Wenn wir das und jenes behoben haben, geht’s den Kindern wieder besser. Sehen Sie: Wir sind für alle Kinder da, die kommen – und jedes hat Anspruch auf die Förderung, die es braucht.

Ein Vorschlag, der im Film von Lehrern geäussert wird: Anstatt allein soll zu zweit in der Regelklasse unterrichtet werden. Damit müssten auch nicht so viele Kinder auf dem Gang oder draussen arbeiten. Überzeugt Sie dieser Vorschlag?

Das Doppel-Unterrichten gibt es heute schon, deshalb: ja. Und es zeigt sich, dass in schwierigen Klassen das Unterrichten allein oft nicht mehr geht – dann braucht es mehr als eine Lehrperson. Klar ist: Wir müssen mehr Ruhe in die Klassen bringen. Das ist denn auch das Ziel unseres Massnahmenpakets.

Vor 18 Monaten haben Sie im BaZ-Interview gesagt: “Es gibt kein Geläuf in den Klassen.” Im Film ist ersichtlich: Doch, das gibt es …

Auch das wollen wir mit unserem Massnahmenpaket verbessern. Wenn es zu viele Kinder mit besonderer Unterstützung gibt, entsteht diese Unruhe. Aber nochmals: Die im Film gezeigten Klassen sind Ausnahmen. Eine der Massnahmen, die wir deshalb vorschlagen, sind Lerninseln. Sie sollen die Möglichkeit bieten, unruhige Kinder vorübergehend aus der Regelklasse zu nehmen.

 

“Es wird neue separative Elemente geben, die die Situation stark entlasten sollen. Das sind substanzielle Eingriffe.”

 

Aber solche Klassen sind doch keine Einzelfälle mehr. Sie rütteln jedoch nicht an der integrativen Schule – und sagen: Das braucht einfach seine Zeit.

Ja. Dazu stehe ich auch. Ich muss jedoch betonen, dass ich innerhalb der integrativen Schule wirklich Reformbedarf sehe. Das Massnahmenpaket wird grundlegend sein. Es wird neue separative Elemente geben, die die Situation stark entlasten sollen. Das sind substanzielle Eingriffe. Aber wir möchten nicht zurück zu den Kleinklassen – weil alle Studien zeigen: Integration vor Separation ist der erfolgversprechende Weg für Kinder, die es schwer haben. Sei es wegen ihrer Herkunft und der Sprache, sei es wegen einer Beeinträchtigung.

Ihr Argument ist doch vor allem jenes: Kleinklässlern hat früher ein Stigma angehaftet. Ist es nicht umgekehrt? Wer ständig aus einer Regelklasse in ein Setting muss, spürt doch auch: Bei mir ist etwas anders …

Natürlich. Kinder merken sehr gut, was vorgeht. Aber die Lehrpersonen sind Profis – und schauen, dass sich die Schüler nicht stigmatisiert fühlen, dass Fördermassnahmen niemanden ausgrenzen. Das Problem bei den Kleinklassen ist für mich der Weg zurück in die Regelklasse, der für diese Schülerinnen und Schüler so schwierig ist. Einmal dort, immer dort. Und dann fehlen die Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Das sagt auch die Wissenschaft. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sind in Basel nicht für die ausnahmslose Integration. Aber das Pendel ist wohl etwas stark in diese Richtung geschwungen. Das soll nun korrigiert werden.

Sind die Missstände überhaupt noch eine Frage des integrativen Modells – und nicht eher ein grundlegendes Problem der öffentlichen Schule?

Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das ungefiltert auf die Schulen prallt. Kinder, die sehr wenig von zu Hause mitbringen, weil sie noch nie im Wald gewesen sind, ihre Schuhe nicht selber binden und nicht auf einem Bein stehen können: Das ist Realität an Basler Schulen – und ja: Das überfordert sie zunehmend. Denn klar ist: Unsere Kernaufgabe ist eigentlich nicht die Erziehung, sondern die Bildungsvermittlung.

 

“Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.”

 

Ist Letzteres überhaupt noch möglich?

Gewisse Bereiche muss man ganz neu denken. Es muss schon vor der Schule viel mehr passieren. Die Betreuung in den Kitas ist top, am Zentrum für Frühförderung kann Logopädie schon im Kleinkindalter helfen – und es gibt die obligatorische Deutschförderung für Dreijährige. Diese wollen wir jetzt weiter ausbauen. Das braucht auch mehr Geld, kein Zweifel.

Ist das noch realistisch? Es gibt so viele Probleme – und viele Lehrer geben nach wenigen Jahren im Beruf entnervt auf …

Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen. Aber wir haben genügend Bewerbungen von jungen Lehrern, die genau an solchen Schulen etwas bewegen wollen – und nicht in einem Dorf fernab auf dem Land.

Sie haben im Fernsehen gesagt: Änderungen brauchen eine Generation, bis sie wirken. Haben wir diese Zeit noch?

Wir sind nicht zu spät dran, aber es ist höchste Zeit für die Massnahmen, die wir vorschlagen. Aber nochmals eine Reform, die alles auf den Kopf stellt: Das sehe ich nicht als zielführend an. Das System ist an einer kritischen Grenze angekommen, aber noch immer tragfähig.

 

Kommentar:

Sebastian Briellmann, Journalist bei der Basler Zeitung BaZ

Schon eine ganze Weile lang verbleibt nicht mehr einfach jeder verhaltensauffällige Schüler in einer Regelklasse: Es gibt kleine Gruppen – und ebenfalls Kleinstklassen mit nur zwei, drei Kindern. Aber dass das schon lange nicht mehr reicht: Das weiss auch Conradin Cramer. Aus Überzeugung will er nun weitere Massnahmen präsentieren, das schon auch – aber vor allem, weil es da eben auch noch die Förderklasseninitiative, die wieder deutlich mehr auf Separation setzt, gibt und die wie ein Damoklesschwert über der Politik des Erziehungsdirektors hängt. Kommt dazu: Zuletzt hat Cramer auch im Parlament mehr Widerstand erfahren müssen, hat eine Mehrheit einer Motion der FDP für Einführungsklassen – wenn ein Kind nach dem Kindergarten noch nicht reif für die Primarschule ist, soll es die 1. Klasse in zwei Jahren absolvieren dürfen – gegen seinen Willen zugestimmt. Nun also wird Cramer in diesem Jahr ein grosses Massnahmenpaket vorlegen, das den Förderklasseninitianten weit entgegenkommen soll. Ob das reichen wird, um einen Rückzug der Initiative zu erreichen, ist derzeit allerdings unsicher. (sb)

 

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, waren es im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen». Die Schülerzahlen der separativen Angebote sind in den letzten sieben Jahren von 525 auf 474 zurückgegangen. «Dies entsprechend dem gesetzlichen Auftrag (Sonderpädagogik- Konkordat), wonach Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf vermehrt in Regelklassen zu fördern sind», schreibt das ED. (sb)

Sebastian Briellmann

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“Es gibt überall die Cleveren und die weniger Cleveren” https://condorcet.ch/2023/08/es-gibt-ueberall-die-cleveren-und-die-weniger-cleveren/ https://condorcet.ch/2023/08/es-gibt-ueberall-die-cleveren-und-die-weniger-cleveren/#comments Mon, 28 Aug 2023 06:43:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=14855

Zum Schulstart: Worauf kommt es im Schulzimmer an? Eine Bilanz des Primarlehrers Hansjörg Tanner. Ein einfühlsames Porträt des NZZ-Journalisten Samuel Tanner, das in der NZZ erschienen ist.

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In diesen Tagen, wenn die Schulen nach den Ferien erwachen, erscheinen wieder die Berichte über den Lehrkräftemangel. Es gibt zu wenige Lehrerinnen, und zu wenige Lehrer sowieso. Laien werden porträtiert, die aus irgendeiner Werkstatt ans Lehrerpult gewechselt sind. Klagelieder erklingen: über immergleiche, immer neu variierende Reformen. Und die oberste Lehrerin der Schweiz fordert, wie zuletzt in einem Interview mit der Zeitung “Die Zeit”: “Wir dürfen diesen Beruf nicht demontieren.”

In diesem Sommer bin ich zu dem Dorfschulhaus in Marbach, Kanton St. Gallen, zurückgekehrt, in dem ich die Mittelstufe besucht hatte. Fast alles war noch da: unten auf dem roten Platz der Torpfosten, an dem ich mir meine Frontzähne ausschlug, oben im Treppenhaus die Scherenschnitte an den Wänden. Das Schulhaus Feld ist für mich ein besonderer Ort, auch weil einer der Lehrer mein Vater war.

Ich sass hinten, auf einem der Kinderstühle, und fragte mich, worauf es als Lehrer ankommt.

An dem Nachmittag sass er vorne am Klavier und begleitete seine Klasse zu einem letzten Lied. Dann begannen die Sommerferien – und endete sein Leben als Lehrer. 42 Jahre lang unterrichtete er die Kinder im Dorf. Er war in der Stadt St. Gallen aufgewachsen, in einer Zeit von Lehrerüberfluss. Er hätte überall unterrichtet, am Ende bewarb er sich auf eine kleine Notiz, die die Schulgemeinde Marbach im Amtlichen Schulblatt publiziert hatte: “Tüchtige Bewerber/innen finden bei uns günstige Klassenbestände und neuzeitlich eingerichtete Schulräume.”

Als er im Winter 1981 zum ersten Mal nach Marbach kam, war das Wetter eisig. Einer seiner zukünftigen Schüler lag mit einer Platzwunde in der Einfahrt – er war beim Eisschlittern gestürzt. Mein Vater bekam die Stelle, er sollte hier seine Frau kennenlernen, eine Familie gründen und nie mehr eine andere Stelle antreten, bis zu diesem Tag am Klavier, seinem letzten Schultag.

Ich sass hinten, auf einem der Kinderstühle, und fragte mich, worauf es als Lehrer ankommt: Was sind die Lektionen, die er hier gelernt und gelehrt hat?

I. Die Welt als Schulstoff

Als er am Tag seiner Pensionierung am Klavier sass, waren die Wände um ihn herum schon kahl. Nur ein kleiner Vespa-Kalender hing noch über seinem Pult. Sein Schulzimmer im obersten Stock unter dem Dach, mit riesigen Fensterfronten, war eine eigene Welt. Jetzt, als wir uns in den Sommerferien treffen, richtet er sie mit Worten noch einmal ein.

Der Vater hat zu den Kindern gesagt, sie müssten wie ein Schwamm sein: aufsaugen und behalten.

“Ich hatte nie eine perfekte Ordnung”, sagt er, “ich wollte einen Ort, an dem es einem wohl ist. Es lagen Spiele aus, oder die ‘Tierwelt’, oder Lexika. Die Hoffnung war immer: Wenn sie unter H den Hund suchen, werden sie auf der Doppelseite noch anderes finden.” Er habe zu den Kindern gesagt, sie müssten wie ein Schwamm sein: aufsaugen und behalten. Das Behalten, sagt er, war manchmal schwierig.

Nach dem Unfall im Gotthard-Basistunnel ein aktuelles Thema für den Schulunterricht: Warum ist der Gotthard wichtig? ICE in Erstfeld UR.

Aus seinem Schulzimmer sah man hinauf in die Berge, hinaus ins Riet. “Das Leben draussen lehrt dich mehr als die Schule”, glaubt mein Vater, “ich sagte oft: ‘Hey, lueged emol use!'” Früher begann der Geschichtsunterricht in der Mittelstufe bei den Pfahlbauten und den Alemannen. Aber anderes war ihm ein grösseres Anliegen: In der vierten Klasse zeigte er den Kindern das Dorf, in der fünften den Kanton, in der sechsten die Schweiz. Wenn die Tour de Suisse durch das Land fuhr, unterrichtete er über die Distanzen und Zeiten im Velorennen und lehrte nebenbei auch noch die Alpenpässe. Er habe zu den Kindern gesagt, sie müssten wie ein Schwamm sein: aufsaugen und behalten. “Gäbe ich jetzt noch Schule”, sagt er, “hätte mir der aktuelle Unfall im Gotthardtunnel sicher zwei Lektionen gefüllt: Wo ist der Gotthard? Warum ist er wichtig? Was ist ein Basistunnel? Die Kinder sollten merken, wie alles miteinander verknüpft ist.” Ich glaube, mein Vater war ein Lehrer, der in der Welt den Schulstoff suchte und nicht im Schulstoff die Welt.

“Gäbe ich jetzt noch Schule, hätte mir der aktuelle Unfall im Gotthardtunnel sicher zwei Lektionen gefüllt.”

Zu seiner Pensionierung hat ihm eine andere Lehrerin aus dem Dorf einen Film geschnitten, in dem ehemalige Schülerinnen und Schüler erzählten, was ihnen aus der Schulzeit “beim Herrn Tanner” geblieben ist: der Ausflug zur Portalpina, das Skilager, die Erkundigungen im Engadin. Mein Vater kam mir manchmal vor, als sei er eine Art Andreas Moser unter den Lehrern: Als Schüler bekam ich mit, wie seine Schülerinnen und Schüler mit Lupen in den Wald ausrückten, oder mit dem Velo an den Alten Rhein.

“Es ist ein hoher Anspruch”, sagt mein Vater, “aber im Idealfall kannst du alle Kinder irgendwie packen, auch wenn es nicht im Schulzimmer ist.”

II. Der “Tüpflischiisser” am Klavier

In den Wochen nach seinem Schulabschluss hat mein Vater sein Archiv sortiert. Er zeigt mir einen Notizzettel, den er aus seiner Anfangszeit aufbewahrt hat. Titel: “Regeln”.

– Wenn es läutet, sitzen wir auf unseren Plätzen

– Wir halten den Finkenraum in Ordnung

– In der Pause dürfen alle mitspielen

– Die Schulsachen tragen wir im Tornister nach Hause

Er hat die Regeln über die Zeit gerettet. Mein Vater galt im Dorf als strenger Lehrer. Es hiess, wenn er am Morgen auf seinem Velo pfeifend zum Schulhaus fahre, sei alles gut. Wenn er nicht pfeife, werde der Unterricht anders als sonst. “Ich war ein ‘Tüpflischiisser'”, sagt er, “aber ich wusste, warum ich einer war. Ich glaube, die Kinder haben es leichter, wenn sie wissen, was von ihnen erwartet wird, und wenn sich die Regeln nicht ständig verändern.”

Bei ihm entstanden die ausgelassenen Momente aus der Ordnung, nicht aus der Verwegenheit.

Was ihn als Lehrer vielleicht charakterisiert, ist sein Morgenritual: Zuerst wollte er jedem Kind die Hand schütteln, auch um zu sehen, wer müde und wer schon wach war. Dann setzte er sich ans Klavier, um mit der Klasse zu singen. Jeden Morgen. Bei ihm entstanden die ausgelassenen Momente aus der Ordnung, nicht aus der Verwegenheit. Abends im Skilager, an der Handorgel, sang er mit den Kindern “Von den blauen Bergen kommen wir / Unser Lehrer ist genauso dumm wie wir”, bis sie aufgedreht waren – aber dann drehte er auch wieder herunter.

Ende der neunziger Jahre, vor seinem ersten Bildungsurlaub, geriet er in eine Krise. Jüngere Lehrer zogen ins Schulhaus ein, und mit ihnen ein neuer Stil. Sie liessen die Kinder durch die Gänge rennen, die Türe schletzen, alles easy. “Ich fragte mich: Bin ich noch zeitgemäss?”, sagt mein Vater. Als er im Bildungsurlaub in einer Werkstatt von Polymechanikern mitarbeitete, sagte ihm einer der Lehrlinge: Dieses Tuch bitte dahin, jenes Werkzeug dahin, so will es der Chef. “In dieser Werkstatt bekam ich das Gefühl: Ich bin schon auf dem richtigen Weg. Wenn 5,20 Millimeter gefragt sind, dann sind es nicht 5,15 Millimeter. So ist das Leben nicht immer, aber so ist es auch.”

III. Die Angst vor Hunden

Mein Vater unterrichtete schon gerne, als er noch Schüler war. Auf der Primarstufe war er ein sogenannter Stellvertreter des Lehrers – und wenn dieser nicht erschien, was ab und zu vorkam, übernahm er den Laden und liess, schon damals, aus dem Gesangbuch singen. Er leitete Lager im Cevi. Und dann ging er ans Lehrerseminar. Nach der Probezeit wollte er wegen einiger schlechter Noten aber zu einem Psychologen. Er fragte sich: Bin ich clever genug? Mein Vater sagt, wenn er Eltern jeweils darüber informierte, dass ihr Kind in der Realschule besser aufgehoben wäre als in der Sek, dann habe er manchmal von sich erzählt: “Man kann es auch zu etwas bringen, wenn es einmal stockt.”

In der Zeit, in der er in Marbach anfing, unterrichteten ältere Lehrer noch mit der Krawatte, die sie wie eine Unantastbarkeitsurkunde vor sich hertrugen. Wenn ich an meinen Vater als Lehrer denke, dann trägt er kurze Hosen und ein Kurzarmhemd. Er war auch am Wochenende erreichbar, aber er gab seine Handynummer nicht heraus. Er unterrichtete gerne frontal, “um die Filaxe im Auge zu behalten”, wie er sagt, aber die Kinder konnten sich an Sechsertische setzen, wenn sie trotzdem aufpassten. Er brauchte das Whiteboard, das sie ihm gegen Ende ins Schulzimmer stellten, nicht mehr richtig, aber als Leinwand, um den Kindern einen Film über die Schneeräumung am Sustenpass zu zeigen.

“Man kann es auch zu etwas bringen, wenn es einmal stockt.”

Ihm war es wichtig, dass es weiterhin Prüfungen gibt, aber er wollte, dass man auch Schwächen zeigen darf. “Die Kinder wissen sowieso genau, wer wo gut ist und wo eine Pfeife”, sagt er. “Sie merkten sofort, dass ich nicht zeichnen kann. Wenn ich einen Elefanten zeichnete, musste ich darunterschreiben: Elefant. Und sie wussten, dass ich Angst habe vor Hunden. Es gab Klassen, die mich dann in die Mitte nahmen auf einem Ausflug.”

Ich glaube, mein Vater stand als Lehrer immer ein bisschen zwischen den Trends und den Reformen, die über die Schule hereinbrachen.

IV. Du bist mir nicht Wurst

Seine Schulreisen führten immer mal wieder auf den nahen Kronberg, da konnten sich die Zeiten rundherum noch so verändern. In der ersten Klasse hatte er noch kein Migrantenkind, nachher kamen sie aus Vietnam, aus dem früheren Jugoslawien, aus Sri Lanka, dann aus Kosovo, aus Afghanistan. In seiner letzten Klasse hatte er einen Buben aus der Ukraine.

Möglichst schnell Deutsch lernen. Das ist für Migrantenkinder nicht nur für den Unterricht wichtig, sondern auch für die Pause.

“Es gibt überall die Cleveren und die weniger Cleveren”, sagt mein Vater, “alle haben irgendwo ihre Stärken. Elementar ist einfach: möglichst schnell Deutsch lernen. Das ist nicht nur für den Unterricht wichtig, sondern auch für die Pause.”

Die Kinder sind selbstbewusster geworden – “und kritischer, zusammen mit den Eltern”. Im besten Fall sei das schön, sagt mein Vater, aber der Lehrerberuf sei sicher “vielbräuchiger” geworden. Er hatte Eltern, die ihm sagten, ein Übertritt in die Realschule bedeute “eine Katastrophe”. Ein Bub zog die Hosen herunter, um zu zeigen, wo der Vater zuschlug. Mein Vater schaltete die Schulsozialarbeit ein. Und als er an ein schwieriges Elterngespräch nicht allein gehen wollte, nahm er den Schulpräsidenten mit. Ein anderes Kind schickte er in eine Time-out-Klasse ausserhalb des Dorfs. Aber am Ende fand man meistens den Rank.

Mein Vater lässt die Dinge nicht schleifen, ihm ist nichts egal. Inzwischen glaube ich, es geht nicht anders, wenn einem etwas wichtig ist. Das ist eine Lektion, die ich von ihm gelernt habe.

“Du musst das Vertrauen der Kinder gewinnen”, sagt er, “indem du dich für sie interessierst: Wieso sind sie gestresst? Haben sie ein familiäres Problem? Und dann sagte ich ihnen oft: Das Reiben aneinander, zwischen Schüler und Lehrer, ist ein Zeichen, dass einem jemand wichtig ist. Wenn du mir Wurst bist, setz ich dich in eine Ecke, und du schreibst irgendwas ab. Wir sitzen jetzt zusammen und suchen eine Lösung, weil du mir nicht Wurst bist.”

Als ich ihm zuhöre, denke ich, er rede über mich, über uns. Obwohl ich nie zu ihm in die Schule ging. Als Kind fragte ich mich manchmal, wieso er nicht ein bisschen lockerer sein konnte, wenn wir zu Hause die Schuhe nicht schön nebeneinandergestellt hatten. Mein Vater lässt die Dinge nicht schleifen, ihm ist nichts egal. Inzwischen glaube ich, es geht nicht anders, wenn einem etwas wichtig ist. Das ist eine Lektion, die ich von ihm gelernt habe.

Was von einem Lehrerleben bleibt? Verblichene Schulzimmerwände, wo früher Postkarten hingen.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen

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Ende des Elitedenkens? Besser für Individuum und Gesellschaft https://condorcet.ch/2023/08/ende-des-elitedenkens-besser-fuer-individuum-und-gesellschaft/ https://condorcet.ch/2023/08/ende-des-elitedenkens-besser-fuer-individuum-und-gesellschaft/#respond Thu, 17 Aug 2023 14:50:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=14830

Erst haben niederländische Schulbehörden das Prädikat “exzellente Schule” aufgegeben. Jetzt schaffen immer mehr medizinische Fakultäten die Auszeichnung ab, weil sie Studierende ins Burn-out treibt. Wir bringen einen Beitrag von Stephan Schleim. Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

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Seit 2012 verlieh die Inspektion für die Schulen hier in den Niederlanden das Prädikat “Exzellente Schule”. Damit sollte die Profilierung von Schulen, die in der Breite guten Unterricht anbieten, für die Spezialisierung auf bestimmten Gebieten belohnt werden.

Zum 1. August dieses Jahres wurde das Prädikat auf Betreiben des Unterrichtsministers aber abgeschafft. Mitte Juni wurde es zum letzten Mal an 42 Schulen verliehen.

Stephan Schleim, Professor für Kognitionswissenschaft an der Universität Groningen: Zurück zur Kultur des Durchschnitts.

Natürlich sind damit nicht alle einverstanden: Insbesondere die so ausgezeichneten Schulen bedauern die Abschaffung des Prädikats. Es sei eine Motivation gewesen, sein Angebot zu verbessern. Nun kehre man zur “Kultur des Durchschnitts” zurück.

Kritiker aus der Politik fanden aber, dass die Auszeichnung falsche Anreize setzte. Es seien zu viele Ressourcen in das Erwerben des Prädikats gesteckt worden, anstatt damit den Unterricht zu verbessern. Außerdem hätten Eltern die Aussage missverstanden: Eine “exzellente Schule” sei nicht eine der besten Schulen, sondern schlicht eine Schule mit gutem Unterricht und einem herausragenden Angebot auf einem speziellen Gebiet.

Paul Zevenbergen, der der Jury zur Verleihung des Prädikats vorsaß, bedauert jedoch die Abschaffung: Damit hätte man Schulen dazu motiviert, über ihre Entwicklung nachzudenken. Außerdem hätte man dank der Initiative Praxiswissen teilen können.

Im zuständigen Ministerium denkt man nun über ein anderes Instrument nach, um den Unterricht zu verbessern. (Nebenbei: An niederländischen Schulen herrscht ein großer Personalmangel. Auch Deutschlehrer sind gefragt. Fast alle arbeiten in Teilzeit, um den Stress auszuhalten.)

Auszeichnung an medizinischen Fakultäten

In zeitlicher Nähe zu dieser Entscheidung für die Schulen findet nun auch bei medizinischen Fakultäten ein Umdenken statt. Nachdem die Freie Universität Amsterdam den Studienabschluss “cum laude” (mit Auszeichnung) abgeschafft hat, werden an den Unis in Maastricht, Rotterdam und Utrecht jetzt auch solche Schritte unternommen.

Vize-Dekanin Christa Boer der Freien Universität Amsterdam: Notn werden überbewertet.

Die Regeln für das Prädikat unterscheiden sich von Ort zu Ort. Meist geht es eine Kombination der Durchschnittsnote mit anderen Faktoren, dass man beispielsweise nie eine Klausur wiederholt hat. Das Tückische: Je näher man dem Studienabschluss kommt, desto weniger Möglichkeiten bleiben, eine weniger gute Note auszugleichen. Wenn man keine Klausur wiederholen darf, erhöht das den Stress.

Kritiker meinen, in der Ausbildung solle der Schwerpunkt auf dem Lernen liegen, nicht der Leistung in der Klausur. Aus studentischen Kreisen heißt es beispielsweise, die Unis sollten keine “Notenfabrik” sein.

An der Freien Universität Amsterdam, die als erste Abschied von der Auszeichnung nahm, gibt man im Masterstudium gar keine Noten mehr. Auch die Vize-Dekanin Christa Boer meinte, dass das alte System die Bedeutung der Noten gegenüber dem tatsächlichen Lernen überbewertete. Man müsse weitere Evaluationen abwarten, doch die bisherigen Erfahrungen seien positiv. Die dortige Programmdirektorin Hester Daelmans gab zudem zu bedenken, dass der Fokus auf exzellente Noten der Teamarbeit im Weg stehen könne.

Erste Mitte Juli berichtete die studentische Interessenvertretung “De Geneeskundestudent” (deutsch: Der Medizinstudent), dass 27 Prozent der Bachelorstudierenden und 34 Prozent der Studierenden im Praktikum ein hohes bis sehr hohes Risiko für ein Burn-out haben.

Burn-out Gefahr

Vertreter der Studierendenvertretung ISO hoffen, dass an weiteren Unis ein Umdenken stattfinden wird. Das sei auch gut für die psychische Gesundheit der Studierenden und angehenden Ärztinnen und Ärzte.

Erste Mitte Juli berichtete die studentische Interessenvertretung “De Geneeskundestudent” (deutsch: Der Medizinstudent), dass 27 Prozent der Bachelorstudierenden und 34 Prozent der Studierenden im Praktikum ein hohes bis sehr hohes Risiko für ein Burn-out haben. Die Datenerhebung fand Ende 2022 statt und basiert auf den Antworten von rund 2.700 Studierenden.

Deutsche Exzellenz

Im großen Nachbarland Deutschland versucht man seit 2005, die Unis mit der “Exzellenzinitiative” zu Verbesserungen anzuspornen. Seit 2019 sind die Gelder durch die “Exzellenzstrategie” abgelöst. Trotzdem (oder deswegen?) bleiben die deutschen Hochschulen im internationalen Vergleich eher Mittelmaß.

Das Thema ist komplex – doch dass vor allem diejenigen Einrichtungen als “exzellent” eingestuft werden, die vorher schon die besten Voraussetzungen hatten, liegt auf der Hand. Kritiker monieren auch hier falsche Anreize, beispielsweise eine weitere Vernachlässigung der Lehre gegenüber der Forschung und ein weiteres Auseinanderdriften zwischen den besten Unis und dem Rest.

Das heißt, dass man mit einer breiten Förderung der Masse mehr Punkte gewinnen kann, als mit einer Konzentration auf die Spitze.

Jedenfalls für die PISA-Initiative zur Bewertung der Schulen zeigte ich einmal auf, dass Eliteförderung die Platzierung von Deutschland kaum verbessern wird. Die Ergebnisse spiegeln nämlich Durchschnittswerte wider. Das heißt, dass man mit einer breiten Förderung der Masse mehr Punkte gewinnen kann, als mit einer Konzentration auf die Spitze.

In China soll man eine besonders kreative “Lösung” gefunden haben: Leistungsschwachen Schülern würde nahelegt, sich an den Prüfungstagen krank zu melden. Das kommt dann dem Endergebnis zugute. In diesem Sinne: Es lebe die “Exzellenz”, es leben die “objektiven” Messungen!

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Integration und Individualisierung des Unterrichts passen nicht zusammen https://condorcet.ch/2023/08/integration-und-individualisierung-des-unterrichts-passen-nicht-zusammen/ https://condorcet.ch/2023/08/integration-und-individualisierung-des-unterrichts-passen-nicht-zusammen/#respond Thu, 17 Aug 2023 05:07:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=14827

Dr. Beat Kissling, pens. Gymnasiallehrer , Psychologe und Buchautor, widerspricht der Montessori-Kindergärtnerin, Clarita Kunz Matossi (https://condorcet.ch/2023/08/schulen-vergeuden-zu-viel-potenzial/), wenn sie behauptet, dass die totale Individualisierung sei die Lösung bei der Integrationsproblematik. Er verweist auch auf die Hattie-Studie.

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Mit ihrem Gastkommentar profiliert sich Clarita Kunz Matossi ganz im Sinne des Zeitgeistes mit dem aktuell gängigen Schulmotto der individuellen Selbstoptimierungsideologie (NZZ 7. 8. 23). Sie lobt Lehrer und Schulen, die mit «konsequent individualisierenden Unterrichtsformen wie etwa der Montessori-Methode arbeiten», als besonders innovativ, dies ganz im Gegensatz zu den Vertretern des «veralteten Systems» mit der engagierten Lehrperson als wichtigstem Medium für guten Unterricht und gutes Vorankommen der Schülerinnen und Schüler.

Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, Psychologe, und pens. Gymnasiallehrer: Der Mensch ist ein ultrasoziales Wesen.

Im Brustton der Überzeugung – gänzlich ohne Beleg oder Veranschaulichung – behauptet sie, es sei «schlicht falsch», zu meinen, Lehrpersonen seien wichtiger für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode. Man müsse lediglich den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit und Verantwortung beim Lernen übergeben, dann würden sie gut arbeiten können – da kann man nur staunen.

Arrangeure der Lernumgebung?

Historisch gesehen gab es die romantisierende reformpädagogische Vorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Kind würden sich die individuellen kreativen Keime von selbst entfalten, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu gäbe. Schon damals sollten die Erwachsenen ausschliesslich Arrangeure einer funktionalen Lernumgebung zur Selbstbedienung der Kinder sein.

In Wirklichkeit zeigen die heutigen sozial- und humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen bei Kindern und Jugendlichen unmissverständlich auf, dass der Mensch ein «ultrasoziales» Wesen ist.

Dementsprechend ist auch die Beziehung der Schülerinnen und Schüler zur Lehrperson und untereinander wesentlich dafür verantwortlich, wie der Umgang und die emotionale Atmosphäre innerhalb einer Klasse sind und wie sich aufgrund dessen das allgemeine Niveau des Lernens bei jedem Kind positiv entwickeln kann.

Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.

Gerade die langjährige Erfahrung in den Primarschulen mit den sehr unterschiedlichen Leistungsvermögen und Voraussetzungen innerhalb einer Klasse (im Prinzip handelte es sich bei einer klassischen Volksschulklasse stets um gelebte Integration) hat uns immer veranschaulicht, dass erfolgreicher Unterricht auf Dauer nur dann möglich ist, wenn es der Lehrperson gelingt, die teilweise äusserst heterogen zusammengesetzte Klasse als Gemeinschaft zu fördern, in der ein Klima der Freundschaft, der gegenseitige Rücksichtnahme und des Respekts lebt.

Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.

Das anregende Unterrichtsgespräch

«Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik.

Mit der Individualisierung des Unterrichts kommen nur die sehr vifen, von zu Hause sehr gut geförderten und begleiteten Schülerinnen und Schüler zurecht, während die meisten Lernenden, ganz besonders die schwachen, zwangsläufig auf sich selbst zurückgeworfen sind und im Lernen resignieren.

Da wir Europäer uns so gerne am grossen Vorbild USA orientieren, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich in der angelsächsischen Welt in den letzten bald zwanzig Jahren ein wirklich innovativer Forschungszweig zur Unterrichtsgestaltung entwickelt hat, bei dem von «Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik gesprochen wird.

Das anregende Unterrichtsgespräch wird in sehr differenzierter Weise analysiert, stets vertiefend weiterentwickelt und den Lehrpersonen als zentrales Instrumentarium vermittelt. Befasst man sich näher damit, realisiert man, dass sehr vieles an das interpersonale Verständnis jedes Bildungsprozesses erinnert, das viele Pädagogenpersönlichkeiten der europäischen (humanistischen) Bildungstradition aus unterschiedlicher Perspektive schon länger beschrieben haben.

Beat Kissling war Lehrer und später als Erziehungswissenschafter und Psychologe lange Jahre in der Lehrerbildung tätig. Er ist Autor von «Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung» (2021).

 

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Mein Gott, Wolter! https://condorcet.ch/2023/08/mein-gott-wolter/ https://condorcet.ch/2023/08/mein-gott-wolter/#comments Tue, 01 Aug 2023 10:30:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=14707

Roger von Wartburg, ehemaliger Präsident des lvb, konfrontiert die Aussagen im Bildungsbericht von Professor Wolter mit den Reaktionen von der Basis.

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Die 1974 gegründete Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) ist eine gemeinsame Institution der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Langjähriger Direktor der SKBF ist Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern.

Herr Wolter hat es in den letzten Jahren geschafft, eine medial gefragte Ansprechperson für allerlei Bildungsthemen zu werden. Durchaus selbstbewusst gibt er jeweils Auskunft. Zu Höchstform läuft er auf, wenn er einen neuen Bildungsbericht der SKBF vorstellen kann, zuletzt geschehen im März 2023. Der Bildungsbericht Schweiz vermittelt Daten und Informationen aus Statistik, Forschung und Verwaltung zum gesamten schweizerischen Bildungswesen und soll als Grundlage für die Formulierung gemeinsamer Bildungsziele von Bund und Kantonen dienen.

Da die integrative Schule aktuell in mehreren Kantonen kontrovers diskutiert und Anlass respektive Ziel verschiedener politischer Vorstösse ist, erstaunt nicht, dass Wolter im Kontext der Publikation des Bildungsberichts 2023 dazu Stellung und klare Positionen bezog: Der verbreiteten Klage integrativ überlasteter Lehrkräfte hielt Wolter entgegen, statistisch würden lediglich drei Prozent der Kinder, die eine Regelschule besuchen, besondere Lehrpläne oder verstärkte Massnahmen benötigen. Anstelle «kolportierter Geschichten» würden «die harten Fakten eine andere Sprache» sprechen.

Generell betont der Bildungsbericht die Vorteile der integrativen Schulung für Kinder mit besonderem Bildungsbedarf. Eine – schweizweit einzige – Langzeitstudie aus dem Kanton St. Gallen zeige, dass die schulische Integration empirisch fast durchwegs positiv bewertet werden könne. Kurzum: Die Beschwerden des unterrichtenden Personals gleichen Phantomschmerzen, das Ganze ist in Wahrheit eine grosse Erfolgsgeschichte.

Aufschlussreich war, was passierte, als Wolters Aussagen am 10. März 2023 in einem Artikel Alessandra Paones in der «Basler Zeitung» publiziert wurden. Innert kürzester Zeit hinterliessen fast 100 Leserinnen und Leser, darunter augenscheinlich viele Lehrpersonen, Online-Kommentare mit entgegengesetzter Stossrichtung. Hiervon eine Auswahl:

«Meines Wissens war es das erklärte Ziel im Kanton Zürich, die Quote der Sonderschulungen nach unten zu bringen (aus Kostengründen). In unserer Schulgemeinde wurde dies von der Schulpflege offen kommuniziert. Es wurde auch eine «Fachstelle Sonderpädagogik» geschaffen, die darüber entscheidet, welche Schülerinnen und Schüler den «Status IRS» (integrierte Sonderschulung in der Regelklasse) erhalten. Nach meinen Erfahrungen (auch) mit dem Ziel, die Vorgabe der Quotensenkung umzusetzen. Aus diesem Grund scheint mir diese Studie fragwürdig zu sein, das Resultat eigentlich erwartbar und von den politischen Entscheidungsträgern so gewollt.»

«Wieder einmal eine Studie aus dem Elfenbeinturm, die genau an der Realität im Schulzimmer vorbeigeht. Es mag ja sein, dass der Förderbedarf, wie er offiziell berechnet wird, korrekt bezeichnet ist in der Studie, die so zu sehr geringen Zahlen gelangt. Nur: In der Realität hat es eben nicht nur «offizielle» Kinder mit Förderbedarf, nein, es hat eben zunehmend auch solche, die z.B. wenig bis keine Erziehung erhalten, was dann durch die Lehrpersonen aufgefangen werden muss, aber leider in keiner Statistik erscheinen. Aus der Studie scheint sich nun klar zu zeigen: Kein Problem! Und genau das ist falsch, wie sich zeigt, wenn man sich im Bildungswesen an der Front bewegt, im Gespräch ist mit all jenen, die täglich in der Schulstube stehen. Vielleicht einen Monat unterrichten an der Volksschule, um seine Sichtweise etwas anzupassen, wäre doch mal ein Ansatz?»

«In meiner Klasse sind 21 Kinder, die theoretisch betrachtet alle das Anrecht auf ein Einundzwanzigstel meiner Aufmerksamkeit hätten. In der Praxis funktioniert der Unterricht aber nur, weil regelmässig zwei Drittel meiner Kinder auf ihr Einundzwanzigstel verzichten, damit ich dem Drittel der Klasse, dem tagtäglich sein Einundzwanzigstel nicht reicht, irgendwie gerecht werden kann. Das ist nicht korrekt, und es wird immer augenfälliger.»

«Die integrative Förderung ist doch nichts als eine Sparübung, bei der die Gratismehrarbeit der Lehrpersonen einkalkuliert wurde.»

«Jeder, der Sozialwissenschaften an der Universität studiert (hat), weiss, dass 90% der Studien in Sozialwissenschaften falsch sind, weil nicht sämtliche Alternativhypothesen berücksichtigt werden. Klar finden dann viele Studien gerade eben das heraus, was gesellschaftspolitisch opportun ist. Wäre es nicht an einer Tageszeitung, die sich als «kritisch» verkauft, die Stimmen der Praktiker/-innen zu Wort kommen zu lassen?»

«Aufgrund solcher Berichte bin ich zur Überzeugung gelangt, dass jeder Bildungspolitiker spätestens nach drei Jahren Forschung o.ä. verpfl chtet sein sollte, mindestens ein Jahr eine Klasse zu 100% zu unterrichten. So kämen diese Politiker auch in den Genuss der Früchte ihrer Arbeit – und ich bin absolut überzeugt, wir hätten plötzlich nicht nur eine ganz andere Sorte Bildungspolitiker, sondern auch ganz andere Forschungsergebnisse.»

«Stefan C. Wolter hat Nationalökonomie und Psychologie an der Universität Bern studiert – im Klartext: Er besitzt keine einzige Ausbildung im Zusammenhang mit dem Bildungswesen, geschweige denn konkreter Unterrichtspraxis. Erstaunt es da tatsächlich jemanden, dass Herrn Wolters Forschungsergebnisse in der Regel das belegen, was die Politik will?»

«Wer den Bericht genau liest, merkt ziemlich schnell, dass dieser sich an der Oberfläche von verfügbaren Zahlen bewegt, welche einer vertieften praxisnahen Überprüfung nicht standhalten. Wie man hier von «harten Fakten» schreiben kann, ist mir völlig schleierhaft.»

«Also stimmen gemäss Tages-Anzeiger die Studien eines Professors, der noch nie ein Klassenzimmer von innen gesehen hat, aber die Rückmeldungen von zig Lehrpersonen, die Tag für Tag mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, nicht. Mit diesen Studien, die einfach der Politik des Sparens nachrennen, statt die Probleme der Schule im Klassenzimmer aufzugreifen, kommt man nicht weit.»

Man kann diesen – und vielen weiteren – Kommentarschreibenden nun natürlich samt und sonders «Wissenschaftsfeindlichkeit» vorwerfen und sie dergestalt diskreditieren. Nun bin allerdings auch ich in den letzten 20 Jahren mehrfach über «wissenschaftliche Gutachten der öffentlichen Hand für die öffentliche Hand» (respektive deren tatsächliche Aussagekraft) gestolpert, nicht zuletzt hinsichtlich der Legitimation des Frühfremdsprachenkonzepts (zufälligerweise gemäss EDK-Strategie). Die harten Fakten, ohne jede Kolportage, besagen, dass die EDK den Vollzug des Sonderpädagogik-Konkordats sicherstellt. Und den Bildungsbericht Schweiz in Auftrag gibt.

Frei nach Mike Krügers Klamauk- Song «Mein Gott, Walter» aus dem Jahr 1975 – also nur ein Jahr nach der Gründung der SKBF veröffentlicht – die folgende Strophe:

Wolter lebt sein Leben,
Ist recht unbeschwert,
Und was andere sagen,
Scheint ihm meist verkehrt.
Die Klagen der Lehrpersonen
Sind für Wolter Gepolter,
Darum schreiben sie in Kommentaren: Mein Gott, Wolter!

 

Dieser Artikel ist zuerst in der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB erschienen.

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UNESCO für Handy-Verbot an Schulen https://condorcet.ch/2023/07/unesco-fuer-handy-verbot-an-schulen/ https://condorcet.ch/2023/07/unesco-fuer-handy-verbot-an-schulen/#respond Mon, 31 Jul 2023 05:21:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=14690

Kehrtwende der Unesco in Sachen Handy an Schulen. In ihrem Global education monitoring report (2023) empfiehlt die UNO-Organisation eine Regulierung des Handygebrauchs an Schulen. Dies nachdem Frankreich und die Niederlande ähnliche Restriktionen erlassen haben. Interessant: Noch im Jahr 2014 unterstützte die Unesco das Handy als Hilfsmittel zur Förderung des Lesens explizit. Condorcet-Autor Urs Kalberer hat einen Artikel des Guardian für unsere Leserinnen und Leser übersetzt.

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Smartphones sollten aus den Schulen verbannt werden, um Störungen im Unterricht zu bekämpfen, das Lernen zu verbessern und die Kinder vor Cybermobbing zu schützen, so die Empfehlung eines UNO-Berichts.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer, Übersetzer dieses Beitrages

Die Unesco, die UNO-Agentur für Bildung, Wissenschaft und Kultur, erklärte, es gebe Beweise dafür, dass die übermäßige Nutzung von Mobiltelefonen mit schlechteren schulischen Leistungen zusammenhänge, und dass ein hohes Maß an Bildschirmzeit negative Auswirkungen auf die emotionale Stabilität der Kinder habe.

Die Forderung nach einem Smartphone-Verbot sei eine klare Botschaft, dass die digitale Technologie insgesamt, einschließlich der künstlichen Intelligenz, immer einer “menschenzentrierten Vision” von Bildung untergeordnet sein und niemals die persönliche Interaktion mit Lehrern ersetzen sollte.

Die Unesco warnte die politischen Entscheidungsträger vor einer unreflektierten Umarmung der digitalen Technologie und argumentierte, dass ihre positiven Auswirkungen auf die Lernergebnisse und die wirtschaftliche Effizienz überbewertet werden könnten und dass das Neue nicht immer besser sei. “Nicht jede Veränderung ist ein Fortschritt. Nur weil etwas getan werden kann, heißt das nicht, dass es auch getan werden sollte”, so die Schlussfolgerung.

Online-Verbindungen sind kein Ersatz für menschliche Interaktion

Angesichts der zunehmenden Verlagerung des Lernens ins Internet, vor allem an den Universitäten, forderte der Bericht die politischen Entscheidungsträger auf, die “soziale Dimension” der Bildung nicht zu vernachlässigen, bei der die Studierenden von Angesicht zu Angesicht unterrichtet werden. “Diejenigen, die auf eine zunehmende Individualisierung drängen, verkennen möglicherweise, worum es bei der Bildung geht”, so der Bericht.

“Die digitale Revolution birgt ein unermessliches Potenzial, aber ebenso wie vor ihrer Regulierung in der Gesellschaft gewarnt wurde, muss auch ihre Nutzung in der Bildung berücksichtigt werden”, sagte die Generaldirektorin der Unesco, Audrey Azoulay.

Wieviel Nutzen bringt die Digitalisierung den Schulen?

Sie fügte hinzu: “Ihr Einsatz muss zu besseren Lernerfahrungen und zum Wohlbefinden von Schülern und Lehrern führen, nicht zu deren Nachteil. Die Bedürfnisse der Lernenden müssen an erster Stelle stehen und die Lehrkräfte müssen unterstützt werden. Online-Verbindungen sind kein Ersatz für menschliche Interaktion”.

“Diejenigen, die auf eine zunehmende Individualisierung drängen, verkennen möglicherweise, worum es bei der Bildung geht.”

In dem Bericht der Unesco heißt es, die Länder müssten sicherstellen, dass sie über klare Ziele und Grundsätze verfügten, um zu gewährleisten, dass die digitale Technologie im Bildungswesen von Nutzen sei und keinen Schaden anrichte, sowohl für die Gesundheit der einzelnen Schüler als auch für die Demokratie und die Menschenrechte im weiteren Sinne, beispielsweise durch die Verletzung der Privatsphäre und das Schüren von Online-Hass.

Die übermäßige oder unangemessene Nutzung von Technologien durch Schüler im Klassenzimmer und zu Hause, seien es Smartphones, Tablets oder Laptops, könne ablenkend und störend sein und sich nachteilig auf das Lernen auswirken, heißt es. Sie zitierte groß angelegte internationale Bewertungsdaten, die auf einen “negativen Zusammenhang” zwischen übermäßiger Nutzung digitaler Technologie und den Leistungen der Schüler hinwiesen.

Ein Grossteil der Nachweise wurde von privaten Bildungsunternehmen finanziert

Obwohl die Technologie potenziell Millionen von Menschen Lernmöglichkeiten eröffnen könnte, seien die Vorteile ungleich verteilt und viele ärmere Menschen auf der ganzen Welt faktisch ausgeschlossen, so die Studie. Eine digitale Bildungsinfrastruktur sei teuer, und ihre Umweltkosten würden häufig unterschätzt.

Es gebe nur wenig solide Forschung, die belege, dass digitale Technologie einen Mehrwert für die Bildung bringe, so die Unesco in ihrem Bericht “2023 Global Education Monitor”. Ein Großteil der Nachweise wurde von privaten Bildungsunternehmen finanziert, die versuchen, digitale Lernprodukte zu verkaufen. Ihr wachsender Einfluss auf die Bildungspolitik in der ganzen Welt sei “ein Grund zur Sorge”, so der Bericht weiter.

Die Unesco schätzt, dass jedes vierte Land Smartphones in der Schule verboten hat, entweder per Gesetz oder auf Empfehlung.

Die Länder würden “aufwachen und erkennen, wie wichtig es ist, die Lernenden in den Mittelpunkt zu stellen”, wenn es um digitale Technologie gehe, so die Unesco. Als Beispiel nannte sie China, das den Einsatz digitaler Geräte als Lehrmittel auf 30 % der gesamten Unterrichtszeit beschränkt hat, wobei von den Schülern erwartet wird, dass sie regelmäßige Bildschirmpausen einlegen.

Sie räumte ein, dass das Online-Lernen “das Abschmelzen des Bildungswesens gestoppt” habe, als Schulen und Universitäten während der Covid-19-Schließungen geschlossen waren. Sie schätzt, dass weltweit mehr als eine Milliarde Schüler während der Pandemie zum Online-Lernen übergegangen sind, fügte aber hinzu, dass Millionen von ärmeren Schülern ohne Internetzugang davon ausgeschlossen sind.

Verbieten, sorgfältig zulassen oder frei Bahn für Mobiltelefone an Schulen?

Auf der Grundlage ihrer Analyse von 200 Bildungssystemen in aller Welt schätzt die Unesco, dass jedes vierte Land Smartphones in der Schule verboten hat, entweder per Gesetz oder auf Empfehlung. Dazu gehörten Frankreich, das seine Politik 2018 einführte, und die Niederlande, die ab 2024 Einschränkungen einführen werden.

Vollständiges Verbot von Mobiltelefonen auf dem Schulgelände würde einige praktische Probleme aufwerfen

Bei der Ankündigung des Verbots in diesem Monat sagte der niederländische Bildungsminister Robbert Dijkgraaf: “Schüler müssen sich konzentrieren können und die Möglichkeit haben, gut zu lernen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Mobiltelefone eine Störung darstellen. Wir müssen die Schüler davor schützen”.

Im Vereinigten Königreich forderte der frühere Bildungsminister Gavin Williamson ein Handyverbot in Schulen im Jahr 2021, um gegen die schlechte Disziplin der Schüler vorzugehen, was jedoch von den Bildungsgewerkschaften als “Ablenkung” abgetan wurde.

Die Smartphone-Richtlinien der britischen Sekundarschulen sind unterschiedlich, da sie von den einzelnen Schulleitern festgelegt werden. In der Regel wird sichergestellt, dass die Telefone auf dem Schulgelände ausgeschaltet und nicht sichtbar sind und im Klassenzimmer nur mit Erlaubnis der Lehrkraft benutzt werden dürfen. Die missbräuchliche Verwendung von Telefonen oder anderen digitalen Geräten auf dem Schulgelände kann zur Beschlagnahmung und zu Sanktionen wie Nachsitzen führen.

“Tatsache ist jedoch, dass die weit verbreitete Nutzung von Smartphones ein gesellschaftliches Problem ist und Probleme, die sich daraus ergeben, eher außerhalb der Schule auftreten.”

Geoff Barton, Generalsekretär der britischen Schulleiter

 

Geoff Barton, Lancaster: Probleme treten grösstenteils ausserhalb der Schule auf.

Geoff Barton, Generalsekretär der Association of School and College Leaders (Vereinigung der Schul- und Hochschulleiter), sagte: “Die meisten Schulen verfügen bereits über solide Richtlinien zum Umgang mit Mobiltelefonen. In den meisten Fällen ist es den Schülern entweder ganz untersagt, sie während des Schultages zu benutzen, oder sie dürfen sie nur unter bestimmten Umständen benutzen.

“Ein vollständiges Verbot von Mobiltelefonen auf dem Schulgelände würde einige praktische Probleme aufwerfen, zum Beispiel für Eltern, die ihre Kinder auf dem Weg zwischen Schule und Zuhause kontaktieren wollen. Einige Schüler werden ihre Handys auch als Zahlungsmittel in öffentlichen Verkehrsmitteln benutzen.

Er fügte hinzu: “Wir haben volles Verständnis für die berechtigten Bedenken in Bezug auf die Nutzung von Mobiltelefonen, einschließlich Cybermobbing, die Auswirkungen ausgedehnter Bildschirmzeit auf die psychische Gesundheit und die mangelnde Regulierung großer Technologieunternehmen. Tatsache ist jedoch, dass die weit verbreitete Nutzung von Smartphones ein gesellschaftliches Problem ist und Probleme, die sich daraus ergeben, eher außerhalb der Schule auftreten”.

Das Ministerium für Bildung wurde um eine Stellungnahme gebeten.

 

Übersetzung: deepl.com und Urs Kalberer

Quelle: Guardian, 26. Juli 2023, ‘Put learners first’: Unesco calls for global ban on smartphones in schools. Patrick Butler and Hibaq Farah.

https://www.theguardian.com/world/2023/jul/26/put-learners-first-unesco-calls-for-global-ban-on-smartphones-in-schools#:~:text=Unesco%2C%20the%20UN’s%20education%2C%20science,effect%20on%20children’s%20emotional%20stability

Der Unesco-Bericht ist online greifbar: Global education monitoring report, 2023: technology in education: a tool on whose terms?

https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000385723

 

Noch im Jahr 2014 sagte die Unesco folgendes:

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System am Anschlag https://condorcet.ch/2023/07/system-am-anschlag/ https://condorcet.ch/2023/07/system-am-anschlag/#comments Sun, 30 Jul 2023 06:41:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=14677

Im Kanton Basel-Stadt hat ein Komitée von Lehrpersonen eine Initiative zur Einführung von Förderklassen eingereicht. Die Integration aller Schülerinnen und Schüler werde von immer mehr Lehrkräften in Frage gestellt. Mit dabei unser Condorcet-Autor und ehemaliger SP-Parteipräsident der Stadt Basel, Roland Stark. Der Bericht von Gastautor Michael Zollinger ist in der Zeitschrift "profil" erschienen, dem Magazin der Schulverlag plus AG.

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Nicht alle Kantone setzten das Postulat gleich konsequent um. Während es etwa im Kanton Appenzell Innerrhoden noch flächendeckend Kleinklassen gibt, hat zum Beispiel der Kanton Basel-Stadt das System am konsequentesten umgesetzt und praktisch alle Angebote ausserhalb der Regelschule abgeschafft. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass gerade im Stadtkanton jetzt besonders viel Bewegung in die Diskussion gekommen ist.

Initiative fordert Einführung von Förderklassen

Ein Komitee von Lehrpersonen hat im August 2022 die Förderklassen-Initiative eingereicht. Diese wird von der Freiwilligen Schulsynode (FSS), dem Berufsverband der Lehr- und Fachpersonen unterstützt. Sie fordert die Einführung von Förderklassen mit maximal 10 Schülerinnen und Schülern, die von Heilpädagoginnen oder Heilpädagogen oder von erfahrenen Lehrpersonen zusammen mit Fachpersonen aus der Sozialpädagogik unterrichtet werden. Dabei soll die minimale und maximale Dauer des Verbleibs von Kindern in einer solchen Klasse festgelegt, und die neuen Klassen sollen an den Standorten der Regel-schulen geführt werden. “Unser Ziel ist es, Kinder mit besonderen Bedürfnissen einerseits wieder umfassender fördern zu können und anderseits ein durchlässiges System zu gestalten”, erklärt Marianne Schwegler, Vizepräsidentin des FSS. Das aktuelle System stellt sie als erfahrene Heilpädagogin nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in Frage. “In der Regel bin ich 3 bis 5 Lektionen pro Woche in einer Klasse.

Heilpädagogin Marianne Schwegler: “Der Weg zur Integration war und ist wichtig und richtig, aber man hat übers Ziel hinausgeschossen.” (Bild: Peter Würmli)

Es gibt Kinder, denen damit gut gedient ist. Andere brauchen aber viel mehr Unterstützung. In der restlichen Zeit muss das die Klassenlehrperson leisten, allenfalls zusammen mit einigen wenigen Stunden Klassenassistenz. Das überfordert viele”, sagt Marianne Schwegler. Die vielzitierte Chancengerechtigkeit sei so nicht gegeben. Wenn Kinder störten, belaste dies oft die ganze Klasse.

Für Marianne Schwegler – da geht sie mit den meisten Lehrpersonen einig – sind nicht die Kinder mit klaren Behinderungen das Problem, sondern jene mit sozialen und emotionalen Störungen, die aufgrund ihrer psychischen Belastung am Lernen gehindert werden. “Wir haben immer mehr Kinder mit deutlich eingeschränkten emotional-sozialen Kompetenzen, vermindertem Durchhaltevermögen und nur minimaler Frustrationstoleranz.” Es gehe jetzt darum, bei den Integrationsbestrebungen in der Schule wieder eine gesunde Balance herzustellen, damit Integration nicht plötzlich für zu viele zum Nachteil werde: “Wenn eine Mehrheit in der Klasse leidet, ist das schlecht für alle”, sagt Marianne Schwegler.

Gesellschaftliche Herausforderung für die Schulen

Klare Integrationsbefürworterinnen und -befürworter bringen gerne das Argument der Stigmatisierung ins Spiel, warum Kinder nicht mehr wie früher in separaten Klassen unterrichtet werden dürften. Wenn man Schülerinnen und Schüler während des Regelunterrichts separiere, sei dies mindestens ebenso stigmatisierend, kontert Marianne Schwegler.

“Wir haben immer mehr Kinder mit deutlich eingeschränkten emotional-sozialen Kompetenzen, vermindertem Durchhaltevermögen und nur minimaler Frustrationstoleranz.”

Heilpädagogin Marianne Schwegler

 

In den letzten Jahren sei die Schule mit zu vielen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, die sie allein nicht lösen könne. “Der Weg zur Integration war und ist wichtig und richtig, aber man hat übers Ziel hinausgeschossen. Es braucht wieder mehr Angebote für möglichst viele kindliche Bedürfnisse, und die Erziehungsberechtigten müssen ihren Teil der Verantwortung wieder stärker übernehmen.” Auch Roland Stark engagiert sich für die Förderklassen-Initiative.

Für Marianne Schwegler und Roland Stark ist man bei der Integration übers Ziel hinausgeschossen. (Bild: Peter Würmli)

Wie viele andere Heilpädagoginnen und -pädagogen war er von allem Anfang an skeptisch gegenüber der umfassenden Integration. Roland Stark ist pensioniert und unterrichtete während 43 Jahren Kleinklassen in Basel. “Wir müssen das heutige System unbedingt aufweichen und von der Vorstellung wegkommen, dass wir alle Kinder in jedem Stadium integrieren können.” Die Schule sei zurzeit viel zu hektisch mit den vielen Lehr- und Fachpersonen sowie Klassenassistenzen. “Da geht es zu wie am Bahnhof zur Rush Hour. Es ist ein Kommen und Gehen. Viele Klassen haben bereits auf der Primarstufe sieben oder acht Lehrpersonen. Unser Schulsystem stiftet Unruhe, statt eine Atmosphäre für ruhiges und konzentriertes Arbeiten zu schaffen.”

Ideologisierte Debatte

Für Roland Stark ist es eine Schönwettervorstellung, dass die paar Lektionen Heilpädagogik und Klassenassistenzen für eine halbwegs adäquate Unterstützung reichten. So könne man schlicht nicht unterrichten. Das höre er von immer mehr Lehrpersonen. In Basel habe sich die Zahl der Kinder, die zusätzliche Unterstützung bräuchten, in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Auch für ihn sind die diagnostiziert beeinträchtigten Kinder nicht der Knackpunkt.

Viel mehr Mühe machten die vielen normal Intelligenten, die aufgrund von sozialen und emotionalen Schwierigkeiten oder sprachlichen und kulturellen Nachteilen am Lernen gehindert würden und deshalb die Leistung nicht erbringen können und/ oder andere stören. “Die heutige integrative Schule bietet nur ein ungenügendes und für alle Beteiligten oft frustrierendes Angebot”, sagt der Heilpädagoge. Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP der Stadt Basel, stört sich an der ideologisierten, von Realitätsverlust geprägten Form der Debatte. “Es passt zum heilen, linken Weltbild, dass nur die vollständige Integration der richtige Weg ist.”

“Wir müssen das heutige System unbedingt aufweichen und von der Vorstellung wegkommen, dass wir alle Kinder in jedem Stadium integrieren können.”

Roland Stark, ehemaliger Kleinklassenlehrer

 

Zahlreiche Zuschriften von früheren Schülerinnen und Schülern aus seinen Kleinklassen bestätigen ihm, dass man dort vielen Kindern besser gerecht worden sei. Es sind eindrückliche Dankesbriefe von heute gestandenen, glücklichen Eltern und erfolgreichen Berufsleuten. Sie bedanken sich für die gezielte Unterstützung, die sie einst in der Kleinklasse erfuhren und betonen, wie wichtig dies für ihre Entwicklung war.

Ehemaliger Kleinklassenlehrer Roland Stark: “Unser Schulsystem stiftet Unruhe, statt eine Atmosphäre für ruhiges und konzentriertes Arbeiten zu schaffen.” (Bild: Peter Würmli)

Geteilte Meinungen in Zürich

Auch Yasmine Bourgeois findet dezidiert, dass die Integration so nicht mehr funktioniert. Die ausgebildete Primar- und Sekundarlehrerin ist seit eineinhalb Jahren Schulleiterin in einer Stadtzürcher Primarschule. “Seit ich Schulleiterin bin, ist diese Einsicht bei mir nur noch gewachsen, weil ich jetzt mit allen Problemen unserer Schule konfrontiert bin”, sagt sie. Man könne weder den verhaltensauffälligen Kindern noch jenen mit schulischen Problemen oder denjenigen, die lernen möchten und normal begabt seien, gerecht werden. Oftmals seien die Kinder mit Sonderschulstatus ausgestellt und eben gerade nicht gut integriert.

Das System löse eine Kettenreaktion aus mit immer mehr Elterngesprächen, endlos vielen Absprachen innerhalb der pädagogischen Teams und mit den zugezogenen Fachleuten. Schulinseln, wie sie die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner als wichtige Unterstützungsmassnahme propagiert hat, sind für Yasmine Bourgeois, die für die FDP im Zürcher Gemeinderat sitzt, ein Tropfen auf den heissen Stein. “So sind die Kinder zwar für ein paar Stunden, vielleicht einmal für eine Woche, zur Entlastung aus der Klasse. Aber eine mittel- oder langfristige Lösung ist das nicht.” Den Ansatz in Basel fände sie auch für den Kanton Zürich richtig, weshalb sie sich für die flächendeckende Wiedereinführung von Klein- oder Förderklassen ausspricht.

ZLV verlangt mehr Ressourcen

Doch wie ist die Haltung der organisierten Zürcher Lehrerinnen und Lehrer? Für den Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband steht der Weg zurück zu Kleinklassen nicht im Vordergrund.

“Die Integrationsbegeisterung geht klar zurück, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land.”

Roland Stark, Heilpädagoge

 

“Der ZLV anerkennt die Forschungsergebnisse zur Integration, die klar darauf hindeuten, dass eine integrative Schule für die allermeisten Kinder Vorteile bietet. Im Einzelfall braucht es trotzdem manchmal separative Massnahmen”, erklärt Christian Hugi, Präsident des ZLV. Das sei kein Widerspruch. In der Regel sei die Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten am aufwendigsten und auch am belastendsten, meint auch er. Zentral sei aber, dass der System-Rahmen stimme. Hugi fordert mehr zeitliche und personelle Ressourcen, damit die Lehr- und Fachpersonen einen individuellen Unterricht auch tatsächlich leisten können, ohne auszubrennen.

Auch die Klassengrösse müsse man anschauen. Als Richtgrösse empfiehlt der ZLV 20 Kinder. Zudem brauche es mehr Teamteaching, Halbklassenunterricht und ausreichend heilpädagogisches Personal.

Bevölkerung ist zunehmend kritisch

Derweil ist man in Basel zuversichtlich, dass die Förderklassen-Initiative im Falle einer Abstimmung gute Chancen hätte. “Die Integrationsbegeisterung geht klar zurück, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land”, beobachtet Roland Stark. Auch im Kanton Zürich scheint die Stimmung in der Bevölkerung allmählich zu kippen. 18 Jahre nach dem Ja zum neuen kantonalen Volksschulgesetz im Jahr 2005, im Rahmen desselben auch die schulische Integration beschlossen wurde, scheint eine Mehrheit nicht mehr von den Vorteilen der schulischen Integration überzeugt zu sein. Zumindest ergab dies kürzlich eine Umfrage, die das Forschungsinstitut GfS Bern im Auftrag der NZZ durchgeführt hatte. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie wieder Kleinklassen einführen und sich vom Prinzip der integrativen Förderung abwenden wollen.

UNO-Menschenrechtskonvention von Salamanca mit Interpretationsspielraum

Befürworterinnen und Befürworter der Integration ziehen häufig die UNO-Menschenrechtskonvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 als Argument heran, warum die Integration möglichst aller Kinder in Regelklassen der einzig richtige Weg sei. Die Salamanca-Erklärung war die Grundlage für die Uno-Behindertenrechtskonvention von 2006. “In der Konvention steht an keiner Stelle, dass Sonderschulen als spezifische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Defiziten abgeschafft werden müssen”, kritisiert Roland Stark, pensionierter Heilpädagoge aus Basel. Ein weiteres Missverständnis basiere auf einem Übersetzungsfehler. So sei damals “general education system” fälschlicherweise mit dem deutschen “allgemeine Schulen” übersetzt worden statt korrekterweise mit dem Begriff “allgemeinbildendes Schulsystem” im Unterschied zu den berufsbildenden Schulen.

Roland Stark ist mit seiner Einschätzung nicht allein. Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, langjähriger Lehrer und Dozent an Schweizer Lehrbildungsinstitutionen, kommt in seinem Buch “Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert?” ebenfalls zum Schluss, dass die UNO-Konvention keineswegs eine vollständige Inklusion postuliere resp. Kleinklassen per se ausschliesse.

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