Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 27 Apr 2024 04:08:08 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Repost: Sind Noten in der Schule notwendig? https://condorcet.ch/2024/04/repost-sind-noten-in-der-schule-notwendig/ https://condorcet.ch/2024/04/repost-sind-noten-in-der-schule-notwendig/#respond Fri, 26 Apr 2024 09:31:37 +0000 https://condorcet.ch/2024/04/sind-noten-in-der-schule-notwendig-copy/

Die Notendebatte scheint die Deutschschweiz zu bewegen. Nicht der grassierende Lehrkräftemangel, nicht die PISA-Leistungen, nicht die Probleme, die sich durch eine undurchdachte Inklusion ergeben, nein, offensichtlich scheinen die Schulnoten nun das fundamentale Problem unseres Bildungssystems darzustellen. In dieser erregten Debatte haben wir uns dazu entschlossen, einen älteren Artikel aus dem Jahr 2022 noch einmal zu veröffentlichen. Kein Geringener als der emer. Professor Juergen Oelkers legt in seinem Beitrag den aktuellen Forschungsstand dar und erklärt die Vor- und Nachteile der "Ziffernbeurteilung". Sein Fazit: Noten werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen, können aber verbessert werden.

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Juergen Oelkers, em. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich: Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig.

Zeugnisse und Noten stehen in der Kritik und mehr noch, sie gelten als gefährlich und werden als überflüssig hingestellt. Sie werden sozusagen benotet, meistens mit folgenden Argumenten: Noten sind unpräzise, ihr Zustandekommen ist intransparent, sie wirken als eine Art Schicksal, sind vor allem ein Machtfaktor und sicher kein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit.

Das „starre Ziffernotensystem” ist der Lieblingsfeind vieler Schulreformer. „Motivieren ohne Noten” war schon vor 25 Jahren ein immer wieder vorgebrachtes Stichwort der Schulkritik (Olechowski/Rieder 1990). Unterstellt wurde, dass die Schülerinnen und Schüler besser lernen, wenn sie nicht durch Noten geleitet werden und den eigenen Lernweg bestimmen können.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt, da sie dem Ideal des „intrinsischen” Lernens widerspricht. Aber man lernt auch, wenn man motivationale Widerstände überwinden muss und man stelle sich vor, wohin man käme, wenn alles Lernen in der Schule von der Zustimmung intrinsischer Motivation abhängig wäre.

Noten als positive Anreize sind auch deswegen suspekt, weil sie eine Hierarchie voraussetzen. Nur wenige Schüler können Bestnoten erreichen und das, so die Kritik, fordert die anderen nicht etwa heraus, sondern schreckt sie ab und hindert sie am Lernen. Es soll, mit anderen Worten, keinen Wettbewerb geben und niemand soll mit anderen verglichen werden. Das bekanntlich schon Jean-​Jacques Rousseau 1762 in seinem Erziehungsroman Emile ou de l’éducation postuliert.

Schüler können damit umgehen.

Es ist danach immer wieder versucht worden, Alternativen zu der Notenskala zu entwickeln. Radikale Entwürfe gehen davon aus, dass nur die Lernfortschritte des einzelnen Schülers beschrieben werden können und sich ein Vergleich in der Lerngruppe verbietet, weil der ohnehin nicht objektiv sein kann und zudem die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden ignoriert.

Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001).

Noten setzen die Klassennorm voraus und basieren so auf einem Vergleich der Leistungen mit anderen. Diese Beschreibung hat sich bewährt, sie ist ökonomisch und vergleichsweise leicht zu handhaben. Zudem zeigt die Forschung, dass die Urteile der Lehrpersonen im Blick auf ihre Klasse im Allgemeinen verlässlich sind (Weinert 2001). Die Kritik bemängelt allerdings die fehlenden Bezugsnormen (Fischer 2012, S. 50).

Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Aber ist die gestufte und vergleichende Beurteilung ungerecht? Die Antwort lautet ja, wenn die Bewertungen willkürlich erfolgen würden. Ein Bewertung ist willkürlich, wenn sie die Aufgaben und Leistungen mit verschiedenen Massstäben interpretiert, einzelne Schüler gegenüber anderen bevorzugt, ohne Kriterien erfolgt oder unfaire Massstäbe anwendet, also mehr oder anderes erwartet, als gelernt werden konnte.

Der Grundsatz ist, dass nur das geprüft werden darf, was unterrichtet worden ist und so gelernt werden konnte. Wenn dieser Grundsatz verletzt wird, ist das ungerecht. Wenn ein Schüler schlecht beurteilt wird oder nicht die Note erreicht, die er erreichen wollte, ist das nicht ungerecht, sofern die Kriterien der Benotung klar waren und keine Bevorzugung erkennbar ist.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt.

Noten erfassen Leistungen im Blick auf bestimmte Aufgabenstellungen, die von Lehrkräften im Blick auf eine bestimmte Gruppe bewertet werden. Endnoten nach einem bestimmten Unterrichtsabschnitt, meistens am Ende eines Schulhalbjahres, werden gebildet, indem verschiedene Einzelnoten addiert und ein (gewichteter) Durchschnitt errechnet wird.

Motivieren mit Noten ist die vermutlich meist verbreitete Motivationspraxis in der Schulwirklichkeit, aber die wird als anrüchig hingestellt.

Dieses Verfahren ist leicht handhabbar und nicht so schlecht, wie die Kritik häufig annimmt. Die Lehrpersonen stellen Aufgaben und bewerten Leistungen aufgrund langjähriger Erfahrungen und handeln vermutlich in den wenigsten Fällen wirklich „willkürlich” in dem genannten Sinne. Insofern muss man fragen, wieso sich die Notenkritik so hartnäckig immer wieder bemerkbar zu machen versteht. Wenn Medien die bessere Schule propagieren, dann sind die immer notenfrei. Freilich, oft sind diese Alternativen kleine Privatschulen und nie Gymnasien.

Vermeidet man die Karikaturen, dann lässt sich im Blick auf die schulische Notenpraxis festhalten: Schulnoten bewerten Leistungen und können nur begrenzt eine Aussage darüber machen, was die tatsächlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sind. Vieles, was für das Zustandekommen der Leistung mitverantwortlich ist, wird mit einer Ziffernote auch gar nicht erfasst, etwa die allgemeine Leistungsfähigkeit, schulisches Engagement, Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft oder das Interesse für bestimmte Unterrichtsfächer.

Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen. Screenshot aus der BAZ.

Aber jede Bewertung hat Grenzen und keine umfasst alles. Noten haben den Vorteil, dass sie einfach sind, leicht zu kommunizieren und keinen übermässigen Aufwand verlangen. Sie passen ins Arbeitsfeld der Schule, gelten als bewährt und werden als Beschreibungsform auch ausserhalb der Schule breit angewendet. Niemand stört sich daran, dass Fussballprofis jede Woche Noten erhalten, Filmkritiker vergeben Noten ebenso wie Restaurantkritiker, ein Hotel ohne Noten würde man kaum buchen und saldo könnte ohne Noten den Betrieb einstellen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen.

Unter den Schülerinnen und Schülern sind vergleichend benotete Leistungsunterschiede meist gar nicht strittig, zumal sie ja wissen, wie die Leistungen zustande kommen. Sie wissen auch, dass die Anstrengungen je nach Lage verschieden sind, zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede bestehen und nicht erreichte Leistungen durchaus hätten erreicht werden können, wenn die Anstrengung grösser gewesen wäre. Die Zuschreibung „Streber” ist leicht einmal ein Indikator für eigenen Minimalismus.

Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium.

Noch etwas ist auffällig: Die Notenkritik richtet sich primär auf das Zustandekommen der Noten und die Beschreibung in Form von Ziffern. Wenig gefragt ist der prognostische Wert von Schulnoten. Inzwischen liegen zahlreiche empirische Studien vor, die die gute prognostische Validität der Schulnoten für den späteren Studienerfolg belegen. Die Durchschnittsnote im Maturitätszeugnis gilt als der valideste Einzelprädiktor für den Erfolg im anschliessenden Studium. Die Notenkritik übersieht gerne diesen Zusammenhang.

In einer deutschen Metastudie aus dem Jahre 2007wird die Validität der Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs nochmals detailliert beschrieben (Trapmann-​Hell/Weigand/Schuler 2007). Dabei wirkt sich gerade die Breite des Notensystems positiv aus. Je höher der Durchschnitt in den Fachnoten liegt, desto besser kann der Studienerfolg vorhergesagt werden

Eine der zentralen Begründungen für die Notenkritik bezieht sich auf die Folgen von schlechten Bewertungen, die blockierte Motivation und Schulunlust nach sich ziehen würden. Gute Noten werden akzeptiert, schlechte lösen Krisen aus. Das Prinzip der vergleichenden Graduierung in der Beschreibung des Leistungsverhaltens setzt wie gesagt voraus, dass nicht jeder gute Noten erhält und man so einen Diskriminierungseffekt auffangen muss, wenn man auf ein Ziffernotensystem setzt.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen.

Eine jüngere Studie über den Zusammenhang von Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch sieht zwischen diesen Konzepten signifikante geringe bis mittlere Interkorrelationen. Am stärksten hängen Prüfungsangst und die schulbezogene Anstrengungsvermeidung mit den Schulnoten zusammen (Weber/Petermann 2016, S. 562). Das ist eigentlich trivial: Wer Angst vor Prüfungen hat, vermeidet Anstrengungen, weil die Vorstellung vorherrscht, die Prüfung sei ohnehin nicht zu bestehen. Anderseits minimiert die Anstrengungsvermeidung die Chancen des Bestehens, wenn die Prüfung nicht vermieden werden kann.

Schülerinnen und Schüler lernen oft subversiv.

Die Schülerinnen und Schüler lernen auch subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können, oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt. Sie kalkulieren im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz und gehen keineswegs immer „intrinsisch motiviert” vor, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Die Schüler machen immer einen Unterschied, was sie gerne lernen und was nicht.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach nur mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen massiv beeinflussen. Auch im Falle der Lernstrategien überwiegen die Modellannahmen, die unabhängig vom tatsächlichen Erfahrungsraum „Schule” gedacht werden.

Jahrzehntelange Erfahrungen mit Lernberichten und Ähnlichem zeigen die Steigerung der Komplexität und damit einhergehend der drohenden Unverständlichkeit (Bos et al. 2010). Noten müssen klar und verständlich sein, die Abstände im Leistungsverhalten wiedergeben und hohe und tiefe Grade kennen. An dieser Anforderung sind die Alternativen zu messen und so lange keine besseren Alternativen zum Ziffernsystem vorliegen, wird dieses auch weiterhin die Praxis bestimmen. Umgekehrt gesagt, Noten sind überflüssig, wenn sie keine Abstände erfassen.

Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

In der Prüfungspraxis sind bis heute Noten zentral, also die Einschätzung der Leistungen von Schülerinnen und Schüler auf einer für alle Lehrkräfte verbindlichen Skala, die die Unterschiede von Fähigkeiten in Sachgebieten erfassen soll. Trotz einer Vielzahl von scheinbaren oder tatsächlichen Alternativen ist die Notenskala das bei weitem gebräuchlichste Instrument der Leistungsbeurteilung.

Für dieses Instrument spricht, dass Leistungen in Schulklassen tatsächlich immer mit Niveauunterschieden zustande kommen. Wer sie abbilden will, muss daher ein gestuftes Schema verwenden, wobei das Problem nur ist, welche Stufen zur Anwendung kommen und wie die tatsächlichen Leistungsunterschiede in der Beurteilung abgebildet werden. Die realistische Perspektive ist die Beibehaltung des Ziffernsystems unter der Voraussetzung, dass die Notengebung fair und transparent ist. Dafür müssen die einzelnen Schulen Kriterien festlegen, die für die Lehrerinnen und Lehrer verbindlich sind. Diese Kriterien beeinträchtigen nicht das Urteil der Lehrpersonen, sondern machen es für Schüler, Eltern und andere Lehrer transparent.

Die Notengebung kann verbessert werden

Bei der Bewertung von Leistungen in der Schule werden Noten und Zeugnisse als Formen des verbindlichen Feedbacks weiterhin eine zentrale Rolle spielen, die Instrumente sind bewährt und begrenzen den Aufwand. Aber die Notengebung kann verbessert werden. Zentrale Aufgaben sind neben der Klarheit der Kriterien die Präzisierung der Stufung, die zur Bewertung passende Aufgabenkultur und die schulischen Lernziele als Bezugsnorm. Die bessere Berücksichtigung des Lernwegs kann fünftens durch Portfolios erreicht werden. Insgesamt handelt es sich also um eine lösbare Aufgabe. 

* Prof. em. Dr. Jürgen Oelkers war u. a. seit 1999 bis zu seiner Emeritierung 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, Reformpädagogik im internationalen Vergleich, Analytische Erziehungsphilosophie, Inhaltsanalysen öffentlicher Bildung, Bildungspolitik.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zuger Schulinfo und ist hier mit freundlicher Genehmigug des Autors aufgeschaltet.

Literatur

Bos, W./Beutel, S.-I./ Berkemeyer,N./Schenk, S.: LUZI. Leistungsbeurteilung ohne Ziffernzeugnisse. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung. Dortmund: IFS 2010.
Fischer, Chr. (Hrsg.): Diagnose und Förderung statt Notengebung? Problemfelder schulischer Leistungsbeurteilung. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2012.
Olechowski, R./Rieder, K. (Hrsg.): Motivieren ohne Noten. Wien u.a.: Verlag Jugend und Volk 1990. (= Schule, Wissenschaft und Politik, Band 3)
Trapmann, S./Hell, B./Weigand, S./Schuler, H.: Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs – Eine Metaanalyse. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie Band 2, Heft 1 (2007), S. 11-27.
Weber, H.M./Petermann, F.: Der Zusammenhang zwischen Schulangst, Schulunlust, Anstrengungsvermeidung und den Schulnoten in den Fächern Mathematik und Deutsch. In: Zeitschrift für Pädagogik Band 62, Heft 4 (Juli/August 2016), S. 551-570.
Weinert, F.E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2001.

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«Denn alles Lehren ist mehr Wärmen als Säen» Teil 2 https://condorcet.ch/2024/04/denn-alles-lehren-ist-mehr-waermen-als-saeen-teil-2/ https://condorcet.ch/2024/04/denn-alles-lehren-ist-mehr-waermen-als-saeen-teil-2/#respond Thu, 25 Apr 2024 10:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=16581

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: «Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten.» * Wir bringen den Teil 2 des Essays unseres Condorcet-Autren Georg Geiger.

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«Hingegen über die Erziehung schreiben heisst beinahe über alles auf einmal schreiben» 

Im Juli 1805 begann Jean Paul mit der Arbeit an seinem pädagogisch-theoretischen Werk «Levana», das kein geschlossenes wissenschaftliches System sein sollte und dessen Eklektizismus sowohl bei den Leserinnen aus den adligen und bildungsbürgerlichen Kreisen wie beispielsweise bei Herders Witwe oder beim sonst Jean Paul gegenüber sehr reservierten Goethe  auf äusserst positive Resonanz stiess. Kurz nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches, nach der Niederlage Preussens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen die Truppen Napoleons  im November 1806 beendet er das Ergänzungsblatt zur Erziehlehre. Das in einer Auflage von 2500 Exemplaren erschienene Werk zählte in dieser Zeit zu den beliebtesten Büchern Jean Pauls, so dass 1808 sogar ein «Wörterbuch zur Levana» erschien.

Condorcet-Autor Georg Geiger, pensionierter Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

«Levana oder Erziehlehre» ist in 9 sogenannte «Bruchstücke» aufgeteilt, wobei das letzte als «Schlussstein» bezeichnet wird. In der Vorrede zur ersten Auflage von 1806 macht er gleich zu Beginn klar, von wem er sich inspirieren liess und wer ihn in seiner Pädagogik prägte: «Er hat nicht alles gelesen, was über die Erziehung geschrieben worden, sondern etwa nur eines und das andere. Rousseau’s Emil nennt er zuerst und zuletzt. Kein vorhergehendes Werk ist seinem zu vergleichen;» Pestalozzi wird dann noch namentlich als der «stärkende Rousseau des Volkes» gelobt.

Erstes Bruchstück: Der Stellenwert der Erziehung

 Im ersten Kapitel geht es um die «Wichtigkeit der Erziehung», die Jean Paul mit einer fiktiven «Antrittsrede im Johanneum-Paulinum, oder Erweis, dass Erziehung wenig wirke» beginnen lässt: «Verehrtestes Scholarchat, Rektorat, Kon- und Subrektorat, Terziat! Werteste Lehrer der untern Klassen und Kollaboratores! Ich drücke , hoff’ ich, mein Vergnügen, als letzter Lehrer in unserer Erziehanstalt angestellt zu sein, nach meinen Kräften aus, wenn ich meinen Ehrenposten mit dem Erweise antrete, dass Schulerziehung sowie Hauserziehung weder üble Folgen haben, noch andere. Bin ich so glücklich, dass ich uns allen eine ruhige Ueberzeugung von dieser Folgenlosigkeit zuführe: so trage ich vielleicht dazu bei, dass wir alle unsere schweren Aemter leicht und heiter bekleiden – ohne Aufblähen – mit einer gewissen Zuversicht, die nichts zu fürchten braucht;»

Wer aber erzieht denn nun gemäss Jean Paul wirklich? Es ist der «Volks- und Zeit-Geist», der mit dem Prinzip der Wiederholung und der «lebendigen That» erziehe.

 

Wie entlastend ist es doch, dass Jean Paul seine Erziehlehre mit einem solchen Plädoyer für heitere pädagogische Bescheidenheit beginnt! Das können wir uns auch in unserer Gegenwart zu Herzen nehmen! Wer aber erzieht denn nun gemäss Jean Paul wirklich? Es ist der «Volks- und Zeit-Geist», der mit dem Prinzip der Wiederholung und der «lebendigen That» erziehe. «Kein Volkslehrer bleibt sich so gleich, als das lehrende Volk.» Und dadurch, dass er die schulische Bildung in ein gesellschaftliches Ganzes setzt, kommt er auch zu dem Schluss, «dass wir wenig oder nichts durch Erziehung wirken.» Denn es sind viele Kräfte, die auf das Kind einwirken: «Das Schulgebäude der jungen Seele besteht nicht aus blossen Hör- und Lehrzimmern, sondern auch aus dem Schulhof, der Schlafkammer, der Gesindestube, dem Spielplatze, der Treppe und aus jedem Platze. Himmel! Welche Verwechslungen  anderer Einflüsse immer zum Vorteil und Vorurteil der Erziehung!»

Das Buch als Inbegriff des Wahren und Guten

Die Erfindung des Buchdruckes ist gemäss dem Redner für die Schule von zentraler Bedeutung: «Nun ist keiner mehr allein, ja nicht einmal eine Insel im fernsten Meer», wobei das Buch zum Inbegriff des Wahren und Guten wird: «Die Bücher stiften eine Universalrepublik, einen Völkerverein, oder eine Gesellschaft Jesu im schönern Sinne». Zwar bewirke das Buch, «dass kein Volk einen unverfälschten, mit keinen fremden Farben besprengten Blumenflor mehr ziehen» könne, aber andererseits sei «durch das ökumenische Concilium der Bücherwelt kein Geist mehr der Provinzialversammlung seines Volkes knechtisch angekettet»! Das tönt ähnlich wie die Lobeshymnen zu Beginn des Internet-Zeitalters!

Ein Hoch auf die frühkindliche Erziehung

Zum Schluss des ersten Bruchstückes erfolgt noch ein Plädoyer für die Bedeutung der frühkindlichen Erziehung: «Daher giebt man der Erziehung den Rat, im ersten Lebensjahre am meisten zu thun, weil sie hier mit halben Kräften mehr bewegt als im achten mit doppelten bei schon entfesselter Freiheit und bei der Vervielfältigung aller Verhältnisse; und wie Wirtschafter im Nebel am fruchtbarsten zu säen glauben, so fällt ja die erste Aussaat in den ersten und dicksten Nebel des Lebens.»

An dieser Stelle taucht noch eine stereotype Figur auf, die durch die ganze Erziehlehre hindurch immer wieder erwähnt wird, ohne dass auf sie auch nur an einer einzigen Stelle (!) näher eingegangen würde: es geht um «den Wilden» oder «den Neger». In der Vorrede taucht er zum ersten Mal auf, wenn dort von der «Unwissenheit der Wilden» die Rede ist, «welche Schiesspulver säeten, anstatt es zu machen». Dieser einfältig-naive Wilde wird auch im Zusammenhang mit der Bedeutung der «Sittlichkeit» in der frühkindlichen Phase nochmals erwähnt: «Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiss geboren und vom Leben zum Schwarzen gefärbt.»

Fragwürdige rousseauistische Idealkonzeption: bei der Geburt sind wir alle rein, weiss, unschuldig – auch die Schwarzen….

Gegen jede biologische Plausibilität erzählt Jean Paul hier diesen Unsinn über die Hautfarbe bei der Geburt eines schwarzen Menschen, denn der Typus des Wilden soll seine rousseauistische Idealkonzeption des reinen Menschen von der individuellen auf die gattungsmässige Ebene der Menschheit heben und so zur Natur des Menschen erklärt werden: bei der Geburt sind wir alle rein, weiss, unschuldig, und erst der Prozess der Zivilisation färbt ab und macht uns dunkler. Es ist anzunehmen, dass Rousseau für den stereotypen, völlig unhistorischen Jean Paulschen «Wilden» die Inspirationsquelle war.

Als das «eigentlich tückische Erbe von Rousseau» bezeichnen Graeber/Wengrow aber nicht die Idee des «edlen Wilden», sondern die des «faulen Wilden».

 

Wer Interessantes zu diesem Aufklärungsstereotypus erfahren möchte, dem oder der empfehle ich das erste Kapitel «Abschied von der Kindheit der Menschheit» des englischen Archäologen David Wengrow und des vor vier Jahren verstorbenen US-amerikanischen Anthropologen David Graeber in ihrem grossartigen Werk «Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit» aus dem Jahre 2022. Die beiden Autoren machen darin klar, dass es keine «lineare Geschichte vom Naturzustand des besitzlosen, egalitären Jägers und Sammlers zum kriegerischen Bauern mit Privatbesitz» gegeben habe, wie es Alexandra Böhm in ihrer Rezension in der Basler Zeitung vom 5.Februar 2022 gut verständlich zusammenfasst.

Rousseau und die europäische Aufklärung waren für diese falsche Erzählung zentral. Obwohl Rousseau seine Ueberlegungen zum «edlen Wilden» lediglich als unhistorisches Gedankenexperiment verstand, klingt sein Narrativ als evolutionsmässige Abfolge bis in die aktuellen Werke von Yuval Noah Harari und Jared Diamond nach. Als das «eigentlich tückische Erbe von Rousseau» bezeichnen Graeber/Wengrow aber nicht die Idee des «edlen Wilden», sondern die des «faulen Wilden». In dieser Variante wird er uns auch noch in den weiteren Bruchstücken von Jean Pauls aufklärerischem Erziehungsbuch immer wieder begegnen.

Zweites Bruchstück: Ueber den «Geist und Grundsatz der Erziehung».

Es beginnt mit einer Tirade gegen egoistische Eltern und duckmäuserische Lehrer: «Viele Eltern erziehen die Kinder nur für die Eltern, nämlich zu schönen Steh-Maschinen, zu Seelen-Weckern, welche man so lange nicht auf das Rollen und Tönen stellt, als man Ruhe begehrte.» Und er doppelt heftig nach, indem er die Reduzierung von Bildung auf reine Ausbildung kritisiert: «Verwandt den Lehrmeistern, welche Maschinenmeister zu sein wünschten, sind die Erzieher nach aussen und zu Staatsbrauchbarkeit, eine Maxime, die, rein durchgeführt, nur Zöglinge oder Säuglinge gäbe, allfolgsam, knochenlos, abgerichtet, alltragend – (…) – das Staatsgebäude würde von toten Spinnmaschinen, Rechenmaschinen, Druck- und Saugwerken, Oelmühlen und Modellen zu Mühlen, Saugwerken, zu Spinnmaschinen u.s.w. bewohnt.»

Was hält er dem entgegen? Diesen wunderbar einfachen Satz: «Gleichwohl ist der Mensch früher als der Bürger und unsere Zukunft hinter der Welt und in uns grösser, als beides:» Und seine Kritik umfasst auch die Kirche: «Viel davon gilt sogar gegen die häuslichen Waisenhausprediger, welche die ganze Kinderzucht in eine Kirchenzucht und Bibelanstalt verwandeln und die frei- und frohgeborenen Kinderseelen in gebückte Kloster-Novizen.»

Interesse für metaphysische Urbedürfnisse

Jean Pauls Gottesverständnis sprengt die kirchlichen Mauern und verhilft dem Individuum zu einer emanzipatorischen Freiheit: «Erinnere dich, dass du ein Mensch, erinnere dich, dass du ein Gott oder Vice-Gott bist, auch für Kinder gälte!» Das erwachte Selbstbewusstsein paart sich mit der Einbettung in die Dimension des unüberschaubaren Ganzen in einem ganz aktuellen Sinne des heutigen ökologischen Bewusstseins im Sinne eines Bruno Latour: «Je älter die Erde wird, desto leichter kann sie als Alte prophezeien und wird prophezeien. Aus der Vorwelt spricht ein Geist, eine alte Sprache, zu uns, die wir nicht verstehen würden, wenn sie uns nicht angeboren wäre. Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschaut.»

Für diesen «religiösen Sinn» im Sinne eines «metaphysischen Urbedürfnisses» (H.Pfotenhauer) interessiert sich Jean Paul auch in der Pädagogik. Und die Poesie und die Philosophie spielen dabei fast eine wichtigere Rolle als die Theologie. Sie sollen helfen, das Kind mit Widerstandskräften auszurüsten, um «der Entkräftung des Willens, der Liebe, der Religion» begegnen zu können. Die Religion  ist für ihn keine «Nationalgöttin» mehr: «Wo Religion ist, werden Menschen geliebt und Tiere und alles All. Jedes Leben ist ja ein beweglicher Tempel des Unendlichen.»

Der rechte Glaube bezieht sich nicht auf das Dogma, «sondern auf die Erblindung gegen das Ganze».

 

Wie soll das Kind in diese spirituelle Welt geführt werden? Seine Antwort: «Durch Beweise nicht.» Und nur diejenigen können Religion lehren, «als wer sie besitzt.» Und der rechte Glaube bezieht sich nicht auf das Dogma, «sondern auf die Erblindung gegen das Ganze.» Jean Paul liefert hier wichtige Hinweise für den Umgang mit dem Religiösen in der Welt der Erziehung, die auch heute noch hoch aktuell sind. Und natürlich «giebt es keinen schöneren Priester für die junge Seele, der sie vor dem Hoch-Altar der Religion gleichsam unter Tänzen und Entzückungen führe und geleite, als der Dichter ist, welcher eine sterbliche Welt einäschert, um auf ihr eine unsterbliche zu bauen».

Jean Paul war spirituell radikal

Auch Pfotenhauer würdigt diese spirituelle Radikalität von Jean Paul: «Deshalb sei dem Kind und uns als seinem Erzieher auch jede Religion  heilig wie die eigene. Selbst wer nur an das Unendliche, an das Göttliche in der Natur glaube, nicht an den Unendlichen selbst, einem personifizierten Gott, wer also wie Spinoza alles Leben für heilig und wundersam halte, habe und gebe Religion, da das Höchste immer den Höchsten spiegle. Jean Paul geht hier, um seiner liberalen, unorthodoxen Religionspädagogik willen, weit, sehr weit: Sein Freund Jacobi bezeichnet solchen Spinozismus als Atheismus, weil darin kein persönlicher Gott mehr vorkomme. Jean Paul aber ist die anthropologische Herleitung des Religiösen als einem menschlichen und somit auch kindlichen Grundbedürfnis wichtiger als philosophische Linientreue.»

Drittes Bruchstück: «Wann fängt die geistige Erziehung ihr Werk an?»

Auf diese gleich zu Beginn gestellte Frage folgt umgehend die dezidierte Antwort: «Bei dem ersten Atemzuge des Kindes, aber nicht früher.» Früher, das wäre die Zeit des Embryos in der Gebärmutter, deren Bedeutung Jean Paul mit gröbster Rhetorik kleinredet: «Himmel! Wenn der Ekel an Speisen und Menschen, die Gier nach Unnatürlichkeiten, die Furcht, die Weinerlichkeiten und Schwächlichkeiten so geistig einflössen, dass der Mutterleib die erste Adoptionsloge und Taubstummenanstalt der Geister, und die Weiblichkeit das Geschlechtskuratorium der Männer wäre: welche sieche, scheue, weiche Nachwelt fortgepflanzter Schwangerer! – Es gäbe keinen Mann mehr – jeder lebte und thränte und gelüstete und wäre nichts.»

So wie der stereotypisierte Wilde unreflektiert durch die Erziehlehre geistert, so patriarchal pauschalisierend nimmt Jean Paul grossmaulig das Wort «Weib», nicht «Frau»!, ständig in den Mund und geht von einer natürlichen, Gott gegebenen wesensmässigen Unterschiedlichkeit von «Weib» und «Mann» aus, die in allen Kapiteln immer wieder thematisiert wird. Er will unter keinen Umständen, «dass die Neun-Monate-Mutter über Geistes- und Körper-Gestalt entscheide», denn mit dem ersten Atemzug tritt der Vater in der zentralen Rolle des Erziehers auf: «Endlich kann das Kind zum Vater sagen: Bilde höher, denn ich atme.»

«Alles Erste bleibt ewig im Kinde»

Die ersten paar Lebensjahre sind in der Entwicklung des Menschen für Jean Paul entscheidend, denn: «Alles Erste bleibt ewig im Kinde» und so müsse man «beim Kinde einen ersten Abschnitt der drei ersten Jahre machen, innerhalb welcher es, aus Mangel an Kunstsprache, noch im tierischen Kloster lebt und nur hinter dem Sprachgitter der Naturzeichen mit uns zusammen kommt.» Anfangs verlange der Säugling nur Wärme: «Und was ist Wärme für das Menschenküchlein? – Freudigkeit.» Er nennt es auch Heiterkeit im Gegensatz zu Verdruss und Trübsinn und grenzt es ab von Genuss: «Wenn der Genuss eine sich selber verzehrende Rakete ist, so ist die Heiterkeit ein wiederkehrendes lichtes Gestirn, ein Zustand, der sich, ungleich dem Genusse, durch die Dauer nicht abnützt, sondern wiedergebiert.» Und hier kommt das Spiel ins Spiel: «Spiele, d.h. Thätigkeit, nicht Genüsse erhalten Kinder heiter.» Und dieses Spielen bezeichnet er als die «erste Poesie des Menschen».

«Das frühe Spiel wird ja später Ernst.»

 

Dabei dürfe die das Kind umgebende Wirklichkeit nicht zu reich sein, das schade nur der Phantasie: «Folglich umringt eure Kinder nicht, wie Fürsten-Kinder, mit einer Kleinwelt des Drechslers; reicht ihnen nicht die Eier bunt und mit Gestalten übermalt, sondern weiss;  sie werden sich aus dem Innern das bunte Gefieder schon ausbrüten.» Kinder sollten vor allem mit Kindern spielen und Kinder sollten durch Kinder geschult werden.» Das Spielen und Treiben meint er «ernst- und gehaltvoll an sich und in Beziehung auf ihre Zukunft», denn: «Das frühe Spiel wird ja später Ernst». Er plädiert dafür, dass sich die Kleinkind-Erzieher als «Freuden- und Spielmeister» verstehen. (Was würde Jean Paul wohl zu den Lernberichten in unseren heutigen Kindergärten sagen?) Er propagiert leere Spielzimmer, Spielgärten und Spielschulen vor den Lernschulen. «Das Kind tändle, singe, schaue, höre;» Dabei ist ihm das Sprechen das «schönste und reichste Spiel»! Auch lobt er in diesem Zusammenhang den Tanz und die Musik.

Tiere und Wilde hätten nie Langeweile und der Tanz könne nicht früh genug kommen.

Jean Paul setzt den Prozess der Individuation in Analogie zur Evolution der Gattung Mensch: «In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt.» Und schon wieder taucht «der Wilde» auf , wenn er im Zusammenhang mit der Bedeutung des Spielens das Kind als «halb Tier, halb Wilder» versteht. Tiere und Wilde hätten nie Langeweile und der Tanz könne nicht früh genug kommen: «Tanz ist unter allen Bewegungen die leichteste, weil sie die engste und vielseitigste ist; daher der Jubel nicht ein Renner, sondern ein Tänzer wird; daher der träge Wilde tanzt und der müde Negersklave, um sich nach und durch Bewegung wieder zum Bewegen anzufachen;» Hier erfährt man implizit auch, dass eine der Quellen, was denn nun ein «Wilder» eigentlich für Jean Paul sein soll, wohl aus der Welt der Sklaverei stammt.

«In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt.»

 

Das sechste Unterkapitel «Gebieten, Verbieten, Bestrafen und Weinen» beginnt mit einer klaren Abgrenzung zu seinem grossen Vorbild: «Diesen Paragraphen könnte Rousseau nicht schreiben, denn er war anderer Meinung.» Er glaubte nämlich gemäss Jean Paul, dass der Zögling sich von selbst und ohne äusseren Zwang zum Guten entschliesse, wenn er «die schlimmen oder guten Folgen seines Thuns regelmässig zu tragen habe und alle erzieherische Einwirkung, alles Belohnen und Strafen nicht als solches, sondern ebenfalls als eine natürliche, notwendige Folge seines Verhaltens sich ihm darstelle.»

Bestrafen soll nie zu einer Schandstrafe werden

Jean Paul dagegen plädiert für «entschiedene feste Strenge und Kraft ohne Nachgeben, im Wechsel mit längerer Milde und Liebe». Er ist gegen zu viel bestrafendes Reden und Belehren, stattdessen empfiehlt er das konsequente Schweigen. Das Nachzürnen lehnt er auch ab, höchstens ein «Nachleiden» sei erlaubt. Am schlimmsten ist für ihn das pauschalisierende Richten: «Was schon als Klugheits-, ja Gerechtigkeits-Regel gegen Erwachsene zu befolgen ist, dies gilt noch mehr als eine gegen Kinder, die nämlich, dass man niemals richtend ausspreche z.B.: Du bist ein Lügner, oder (gar) ein böser Mensch, anstatt zu sagen: Du hast gelogen, oder böse gehandelt.» Das Bestrafen soll nie zu einer Schandstrafe werden und der elterliche Gram wegen kindlichem Ungehorsam soll nie mit schmerzendem Spott vermischt werden.

Eine patriarchale Stereotypisierung der Geschlechterrollen, dass es fast nicht zum Aushalten ist.

Beim Thema Strafe taucht «der Wilde» öfters auf in Kombination mit einer patriarchalen Stereotypisierung der Geschlechterrollen, dass es fast nicht zum Aushalten ist. Die väterlichen Verbote werden nach Ansicht Jean Pauls aus folgenden Gründen besser erfüllt als die mütterlichen: «der erste, seine stärkere und doch weit vom Zorne entlegene Stimme, ist schon angesagt. Der zweite ist, dass der Mann meistens, wie der Krieger, immer nur Ein und folglich dasselbe Schlag- und Wurzelwort und Kaiser-Nein sagt, indes Weiber schwerlich ohne Semikolon und Kolon und nötigste Frag- und Ausrufzeichen zum Kinde sagen: Lass! (…) Der dritte Grund ist, dass der Mann das Neinwort seltener zurücknimmt.» Die Mütter würden eben leichter ins Nachstrafen geraten als die Väter, «schon weil dieses ihrer sich gern ins Kleine zerteilende Thätigkeit mehr zusagt und sie gern, nicht wie der Mann mit Stacheln den Stamm besetzen, sondern mit Stechspitzen die Blätter.»

Abgründe tun sich auf in dieser unreflektierten Begrifflichkeit!

 

Beim Bestrafen kommt eine Schattenseite des «edlen Wilden» zum Vorschein, wie sie auch dem Kinde eigen sei: «Kinder haben, wie Wilde, einen Hang zur Lüge, die sich mehr auf Vergangenheit bezieht.» Woher hat er diese Pauschalisierung wohl, dass Wilde einen Hang zur Lüge hätten? Haben nicht alle Menschen diesen Hang oder diese Anlage, kaum können sie sprechen, oder doch eher nur diese «Wilden», von denen man nie weiss, was genau darunter zu verstehen ist? Wenn er denn beim Wilden an den Sklaven denkt: ist dort nicht eher das System des ganzen Sklavenhandels eine institutionelle Lüge? Abgründe tun sich auf in dieser unreflektierten Begrifflichkeit!

Plädoyer für Abhärtung

Zum Schluss kommt Jean Paul noch auf das «Schrei-Weinen der Kinder» und auf die «physische Erziehung» zu sprechen. Das «weiche und fünfsinnliche Herz» der Weiber führe in Kombination mit ihrer «weichen, mitleidenden Mutterstimme zu nichts: «fremdes Mitleiden flösst ihm eines mit sich selber ein , und es weint fort zur Luft.» Nur beim  Weinen über Krankheit sei die «milde und mildernde Mutterstimme am rechten Ort.»

Beim Plädoyer für körperliche Abhärtung ist nicht mehr der Wilde mit dem Hang zur Lüge, sondern der stämmige wilde Krieger gefragt: «Jäger, Wilde, Aelpler, Soldaten fechten alle mit ihrer Kraft für die Vorteile der freien Luft;» Auch der Hunger dient der gesunden Abhärtung: «das Kind werde, wie der Wilde, im Schlaf und Essen öfters frei und irre gemacht; die leibliche Natur wird dann entweder geübt oder besiegt, und die geistige krönt sich in beiden Fällen.» In der Welt der «freundlichen, lobenden, nachsichtigen Weiber-Zirkeln» werde das Kind «mehr verdreht und entkräftet als in den kalten, trockenen Herren-Gelagen.»

Man hat den Eindruck, dass Jean Paul mit seiner Polemik gegen die Frauen eigentlich auch über sich selbst und seinen eigenen weiblichen Anteil daherzieht.

 

Die Männer seien von Natur aus den Frauen in diesen Belangen der Erziehung haushoch überlegen: «Da Weiber schon an sich, als geborenes Stubengeschlecht, als Hausgötter – indes wir blosse Meer- und Land- und Luftgötter sind, oder gegen jene Haustauben nur sanftwilde Feldtauben – die Wärme lieben, wie den Kaffee, und daher neben den Schleiern Erwärmhüllen suchen». Nichts gegen barfuss gehen, Luftbad und kaltes Wasserbad oder eine erfrischende Regenpartie, aber das Poltern gegen die «geistreichen Weiber» mit ihrem angeblichen Hang zur Verweichlichung wirkt mit der Zeit ermüdend.

Weiber-Schelte

Und man hat den Eindruck, dass Jean Paul mit seiner Polemik gegen die Frauen eigentlich auch über sich selbst und seinen eigenen weiblichen Anteil daherzieht, wenn er schreibt: «Da Weiber so gerne ihre Empfindungen in Worte übersetzen (aber das ist doch gerade eine Spezialität von Jean Paul selbst, oder nicht?) und durch Vielberedsamkeit mehr, als wir uns, sich von den Papageien unterscheiden, worunter die weiblichen wenig reden – daher nur männliche nach Europa kommen: – so halte man kleinen Mädchen das Vorreden zu Reden, nämlich einiges Weinen und Schreien, als Ueberfliessungen des künftigen Stromes zu gute. Ein Knabe muss seinen Schmerz trocken verdauen, ein Mädchen mag einige Tropfen nachtrinken.»

Es gibt sogar eine Stelle, wo durchschimmert, dass ihm bewusst ist, dass er mit seiner Weiber-Schelte auch als Mann mitgemeint ist: «Woher kommt diese Unart der Heilsucht den Weibern und – lassen sie uns dazusetzen – den andern Menschen, z.B. mir (mein ganzer Brief bezeug’ es) und den vorigen Menschen,  wie ein langes lateinisches Sprichwort und Eulenspiegel beweisen, dem jeder Vorbeigehende gegen sein Vexier-Zahnweh ein Mittel verschrieb?»

ENDE TEIL 2

 

(* Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Karl Lange in der «Bibliothek Pädagogischer Klassiker» herausgegebene «Levana», die 1892 in Langensalza in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen ist. Der Text kann aber auch online und kostenlos beim Projekt Gutenberg gelesen werden.)

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Es braucht den starken Druck der Förderklassen-Initiative! https://condorcet.ch/2024/04/es-braucht-den-starken-druck-der-foerderklassen-initiative/ https://condorcet.ch/2024/04/es-braucht-den-starken-druck-der-foerderklassen-initiative/#respond Thu, 25 Apr 2024 05:49:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=16577

Für den aktuellen Newsletter der Starken Volksschule Zürich zeigt sich Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz verantwortlich

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Schon seit zwanzig Jahren wird am Modell der integrativen Volksschule herumgeflickt, ohne dass sich ein überzeugender Erfolg abzeichnet. Begründet durch das Dogma vom Recht aller Schüler auf eine Schullaufbahn in Regelklassen, wird den Lehrpersonen ein Auftrag zugemutet, den sie in vielen Fällen trotz unermüdlichem Einsatz nicht befriedigend erfüllen können. Die Unterstützung in wenigen Lektionen durch Heilpädagoginnen reicht bei Weitem nicht, um in einer heterogenen Klasse oft mehrere verhaltensauffällige Schüler zu stabilisieren. Diese können den Unterricht in den Regelklassen arg durcheinanderbringen, wenn die Lehrerin überall gefordert ist.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Die Förderklassen-Initiative ist ein konstruktiver Vorschlag

Benötigen einzelne Schüler aussergewöhnlich viel pädagogische Aufmerksamkeit, geht dies klar auf Kosten des Lernfortschritts der ganzen Klasse. Ganz schwache Schüler wiederum, die mit dem Schulstoff generell überfordert sind, fallen im Unterricht zwar weniger auf. Aber sie sind die grossen Verlierer, da ihnen die Erfolgserlebnisse fehlen und sie sich in der Klasse oft ausgegrenzt fühlen. Das Beharren auf dem Dogma der totalen Integration führt zu schulischen Tragödien, die sich im Rahmen einer gut betreuten Förderklasse nicht abspielen würden.

Es liegt an der Politik, flexible Lösungen mit Förderklassen zu ermöglichen

Es wirkt lähmend, dass sich die aktuelle Bildungspolitik in der Integrationsfrage überhaupt nicht flexibel zeigt. Statt das Scheitern der bisherigen Bemühungen einzugestehen und Offenheit für Lösungen mit Förderklassen zu signalisieren, wird das Stigma der Ausgrenzung einzelner Schüler bis zum Überdruss ins Feld geführt. Das anhaltende Beschönigen der Probleme droht unterdessen zu einem ernsten Konflikt mit den Schulpraktikern zu führen. Diese haben absolut genug von den finanziellen und personellen Versprechungen, die von der Bildungspolitik nicht eingelöst werden können.

Die Förderklassen-Initiative ist ein konstruktiver Vorschlag, um die gegenwärtige Krise zu überwinden. Im Gegensatz zur Zürcher Bildungsdirektion nimmt das breit abgestützte Initiativkomitee die Notsignale aus den Schulklassen ernst und verlangt eine Neuorientierung beim Integrieren. Mit der Unterschriftensammlung kommt Bewegung in eine Sache, die unerträglich lang auf die lange Bank geschoben wurde. Man muss nicht in allen Details mit der Initiative einverstanden sein, um sie zu unterstützen. Aber sie ist ein guter Wegweiser, um aus der Sackgasse herauszukommen.

Es steht der Bildungsdirektion frei, einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative auszuarbeiten. Macht sie dies im Sinne einer Öffnung zugunsten der Führung von finanziell vom Kanton besser unterstützten Förderklassen, kann ein Rückzug der Initiative ins Auge gefasst werden. Unternimmt die Regierung nichts oder präsentiert sie nur alten Wein in neuen Schläuchen, kommt die Initiative voll zum Zug.

Eine Diskussionsrunde deckt grosse Frustration an den Schulen auf

Wie die Berichte meiner Redaktionskollegin Marianne Wüthrich und von Condorcet-Redaktorin Claudia Wirz eindrücklich belegen, hat das fair geleitete Podiumsgespräch vom 11. April über die Förderklassen-Initiative den Nerv der Zeit getroffen. Es wurde leidenschaftlich diskutiert und es zeigte sich, dass sich im Publikum ein gewaltiger Frust über die aktuelle Lage in den Klassenzimmern angestaut hat. In überzeugenden Voten gab es heftige Kritik am belastenden System der integrierten Schule. Die gelungene Veranstaltung war ein unüberhörbarer Appell an die Bildungspolitik, sich endlich den Herausforderungen zu stellen und Hand für überzeugende Lösungen zu bieten.

Thomas Minder, Präsident des VSLCH löst Kopfschütteln aus

Abschaffung der Noten als zusätzliche Grossbaustelle?

Nach wie vor löst die vom Vorstand des Schulleiterverbands und anderen Bildungsorganisationen konzertiert vorgetragene Idee einer Abschaffung der Zeugnisnoten grosses Kopfschütteln aus. Ausgerechnet jetzt, wo sich herausstellt, dass eine ganze Reihe von Reformen die Erwartungen bei Weitem nicht erfüllt, soll eine weitere Grossbaustelle eröffnet werden. Das Dreisprachenkonzept der Primarschule erweist sich als hohles Versprechen, das überladene Bildungsprogramm des neuen Lehrplans bleibt ein Papiertiger und von einer wirkungsvollen Bildungssteuerung durch ein übergeordnetes Monitoring kann angesichts des Deutschdebakels im PISA-Test nicht die Rede sein. Dazu kommt die erwähnte Integration, die krachend gescheitert ist.

Die in vielen Medien geführte Diskussion über die Schülerbeurteilung lenkt davon ab, dass es für mehr Schulqualität sehr viel dringendere Massnahmen braucht als eine allfällige Abschaffung der Zeugnisnoten. Es wirkt wie eine Flucht nach vorn, wenn an den offenen Baustellen vorbeigerast und ein weiteres Heilsversprechen in Form einer Schule ohne Noten angekündigt wird. Man fragt sich schon, wie lange diese Art der Schulpolitik noch weitergehen soll.

Oberflächliche Notendiskussion lenkt von zentralen Herausforderungen ab

Bei genauerem Hinsehen auf die Vorschläge zur Abschaffung der Noten fällt auf, dass vieles überhaupt nicht neu ist. An die in Reformschulen praktizierte Grundidee, dass demotivierende schlechte Noten vermieden werden sollen, halten sich gute Pädagogen auch im Rahmen der bisherigen Notenpraxis schon lange. Werden Prüfungen so konzipiert, dass faire Grundanforderungen für das Erreichen einer genügenden Note bei seriösem Üben gestellt werden, entfällt ein zentraler Konfliktpunkt. Wie Carl Bossard zu diesem Thema schreibt, ist es viel wichtiger, dass Lehrpersonen in regelmässigen Schülergesprächen über individuelle Leistungsziele sprechen. Wenn ein im Französisch schwacher Schüler die Grundanforderungen im Hauptteilung der Prüfung (mit begrenztem Stoffumfang) erfüllt und deshalb mindestens eine Vier erreicht, wird er den Kurzkommentar «gut gelernt» neben der Note durchaus schätzen. Dazu braucht es weder Farben für halbwegs noch für vollständig erreichte Ziele oder gar die Abschaffung der Noten.

Die aktuelle Notendiskussion verläuft in höchstem Mass oberflächlich. Sie blendet weitgehend aus, dass ein überladener Lehrplan, ein überforderndes Mehrsprachenkonzept und massiv störende Mitschüler erfolgreiches Lernen in den Klassen weit mehr beeinflussen als jedes Notensystem mit den bekannten Schwächen. Verantwortungsvolle Bildungspolitik zeichnet sich aus durch das Anpacken der zentralen Herausforderungen und nicht durch Schaumschlägerei an Nebenschauplätzen. Für diese Art der Politik besteht zurzeit einiges an Nachholbedarf.

Unsere Textsammlung weist eine ganze Reihe hoch politischer Texte und gründlicher Analysen zu Bildungsthemen auf. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der spannenden Lektüre!

 

 

 

 

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Frühjahrsputz im Bildungswesen: Was muss weg? Was muss her? https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/ https://condorcet.ch/2024/04/fruehjahrsputz-im-bildungswesen-was-muss-weg-was-muss-her/#comments Tue, 23 Apr 2024 07:05:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=16563

Viele neue Lernkonzepte entmutigen die Schüler und verringern ihre Kompetenzen. Daher wäre es richtig, ein paar bewährte Bildungsprinzipien zu rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln. Die Heilpädagogin und Dozentin Mirjam Stiehler nimmt sich im 5. Teil ihrer Kritik am deutschen Bildungssystem diesmal die Bildungsforscher und -planer vor. Vom Kindergarten bis zum Abitur hat ein ideologisch begründeter Wandel stattgefunden, der die Qualität von Erziehung und Unterricht gesenkt hat. Die Einstellungen der Bildungspolitiker und -forscher müssen sich ändern, damit unsere Kinder wieder etwas Handfestes lernen können.

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Neue Besen kehren gut. Aber die alten wissen, wo der Dreck sitzt! Das gilt in vielerlei Hinsicht für unsere Schulen. Bevor es nun heißt, die Stiehler will zurück zur Rohrstockpädagogik: Nichts läge mir ferner. Aber die neuen konzeptuellen Besen haben sich als fadenscheinige Waschlappen entpuppt, die Schüler entmutigen und Kompetenzen verringern statt aufzubauen.

Gastautorin Mirjam Stiehler, Heilpädagogin, Dozentin und Schulleiterin

Daher sollten wir ein paar bewährte Bildungsprinzipien rehabilitieren. Und zwar in Kombination mit modernsten Mitteln – für mich ist es kein Widerspruch, gezielte Diktate und zugleich die Messung der Lesegeschwindigkeit einzuführen; mehr Handschrift zu fordern und zugleich das elende Vokabelheft flächendeckend durch Apps abzulösen; Schüler gezielt nach Leistungsfähigkeit zu gruppieren, aber zugleich die Anwesenheitspflicht durch eine Lernpflicht zu ersetzen.

Es geht mir nicht um eine Methodensammlung, sondern ein grundlegendes Umdenken: Nicht nur “Was müssen wir tun?”, sondern auch “Wie müssen wir sein?” (Paul Moor). Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben. Es erfordert eine veränderte Einstellung von der Schwangerschaft bis zum Abitur, und zwar bei einer Mehrheit von Bildungspolitikern, Eltern, Ärzten und Pädagogen. Dieses Umdenken müsste sich in konkreten Änderungen zeigen:

Selbsterziehung der Eltern von Tag 1 an fördern

Viele frischgebackene Eltern können schlecht unterscheiden, ob ihr Kind aus Unlust, Trauer oder Angst schreit. Sie glauben, gute Eltern dürften ihren Kindern keine dieser Emotionen zumuten. Angst und Trauer sollten tatsächlich die Ausnahme sein – das Erleben und Aushalten von Unlust hingegen ist notwendig und erstrebenswert, denn Unlust gelassen auszuhalten ist Frustrations-Toleranz. Es ist so unvermeidbar wie harmlos, seinem Kind täglich vielfach Unlust zu bereiten, denn Kinder sind zunächst sehr lustgetriebene Wesen. Sie müssen erst lernen, einem größeren Ziel zuliebe auf Triebbefriedigungen zu warten oder zu verzichten.

Das Leitprinzip darf nicht länger Unlustvermeidung sein, sondern Mut zur Tatkraft und zur Leistung. Solches Umdenken ist nicht für Geld zu haben.

 

In diesem Sinne müssen Hebammen aufhören, die Mär vom Stillen und Schlafen nach Bedarf zu verbreiten. Wir müssen kindliche Antriebe mit Maß und Rhythmus befriedigen, damit Kinder Resilienz entwickeln. Eltern müssen Taktgeber sein, denn berechenbare Rhythmen geben seelischen Halt – und nur wer ausgeschlafen ist, kann sich kognitiv gut entwickeln.

Kinderärzte müssen aufhören, Bachblüten und Globuli zu verkaufen und Eltern davor warnen, beim Sturz aufs Knie dramatisch die Rescue-Creme zu zücken. Ein Pflaster und ein aufmunterndes Wort stärken. Wer immer gleich Tabletten einwirft, fokussiert auf sein Leid. Hospitäler sollten Schwangeren weder den Wunschkaiserschnitt noch die PDA pauschal andienen, denn auch elterliche Resilienz ist ein hohes Gut.

Ich spreche hier nicht von Notfällen, sondern ganz normalen Schwangerschaften. Die Vorbereitung auf eine natürliche Geburt hilft Eltern bei der Selbsterziehung, bei ihrem eigenen Umgang mit Unlust und Ängsten, bei der Abkehr von einer Full-Service-Mentalität. Und nur wer sich selbst erzieht, kann andere erziehen.

KiTas: Weniger Wohlstandsverwahrlosung, mehr Qualität

Im Kindergarten ist eine Abkehr vom Situationsansatz, von “romantischen Vorstellungen” und falsch verstandenem Konstruktivismus nötig (Verbeek). Konzepte, die den Erzieher zur Passivität verurteilen, führen zu einer “für das Kindeswohl gefährlichen Mischung zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung” (ebd. 99). Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres. Prof. Veronika Verbeek bildet seit 30 Jahren Fachkräfte für KiTas aus und konstatiert, dass dem Gros der Fachkräfte die Anstrengungsbereitschaft und die kognitiven Kompetenzen fehlen, um in ihrem Fach schlussfolgernd zu denken oder wichtige Konzepte in die Anwendung zu übertragen (ebd. 160).

Werden Kinder nur halbtags betreut, können Familien Mängel in der Betreuungsqualität ausgleichen. Aber weder Eltern noch KiTas sollten sich einbilden, dass man neun Stunden Betreuung anbieten kann, ohne systematischer Elternersatz zu sein. Ganztägig betreute Kinder müssen vom Händewaschen bis zur deutschen Sprache fast alles in der KiTa lernen. Die meisten Eltern wollen ihr Kind in den verbleibenden drei Wachstunden “genießen”, statt die anstrengenden ungelösten Erziehungsaufgaben anzupacken oder mit ihm zu üben, wie man mit der Schere schneidet und Wörter reimt.

Wir brauchen nicht bloß mehr Personal, sondern klügeres, leistungsbereiteres und kenntnisreicheres.

 

Solange Kinder aber in der KiTa primär nach den Lustprinzip leben, sind sie am Abend besonders anstrengend, worauf viele Eltern wiederum mit Verwöhnung oder Ablenkung reagieren. Das verstärkt Egozentrik und narzisstische Überempfindlichkeit weiter, statt ein Gegengewicht zu schaffen. Wer zugunsten der Erziehungsarbeit beruflich nicht kürzer treten möchte, wäre oftmals mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit oder einem Haustier besser bedient.

Sprachdefizite verschlimmern die Lage zusätzlich. Wer mit Kindern einwandern will, sollte deshalb vorher seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen müssen, und wer bereits hier lebt und Kindergeld beziehen will, erst recht. Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist. Ich wandere auch nicht nach Gouadeloupe aus, ohne vorher mit meiner Familie Französisch zu lernen – Sprachlern-Apps und Lehrbücher gibt es genug.

Dass ich einen gewissen Kenntnisstand und ein eigenes Einkommen nachweisen muss, ehe ich Ressourcen des Gastlands nutzen darf, wäre nur logisch. Alternativ gibt es teure, private internationale Schulen. Wenn ich mir die nicht leisten kann und die Sprache nicht auf eigene Faust lernen möchte, scheidet das Einwanderungsziel aus.

Grundschulen: Lesen, Schreiben, Rechnen aus dem Effeff

Die Grundschulen müssen sich auf die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen zurückbesinnen und hier nicht bloß rudimentäre Kenntnisse, sondern felsenfeste Routine erreichen. Zusätzliche Stunden lassen sich gewinnen, indem man Religionsunterricht durch eine Stunde verbindlichen Ethikunterricht ersetzt und das in seiner Effektivität sehr umstrittene Frühenglisch streicht. Den Werkunterricht hingegen sollte man m.E. nicht kürzen wie in Bayern, sondern ausbauen, da handwerkliche Tätigkeiten wichtig sind und schon jetzt zu wenig Zeit ist, um ausgiebig zu üben und anschließend ein Werkstück anzufertigen, auf das man stolz sein kann.

Anstatt zu versuchen, alles irgendwie aufzufangen, müssen wir ausländischen Eltern klar machen, dass Schulbildung ohne sehr gute Deutschkenntnisse einfach nicht machbar ist.

 

Besonders die schwächeren Schüler sollten derweil in homogenen, aber durchlässigen Klassen gefördert werden, nicht in leistungsgemischten Klassen. Eine große soziologische Studie zeigt, dass dies negative Herkunftseffekte stark verringert. Bei intelligenteren Schülern hingegen können gemischte Gruppen förderlich sein, zumindest schaden sie weniger. Wo der Zugang zu den weiterführenden Schulen anhand von Leistung und Intelligenz streng geregelt ist, lernen die Kinder auf allen weiterführenden Schularten besser.

Ein Pilotversuch in Franken zeigte ganz konkret, dass Kinder mit Legasthenie-Diagnose innerhalb von nur einem Halbjahr einen normalen Leistungsstand im Lesen und Schreiben erreichten, also “geheilt” waren, sobald sie für drei Stunden pro Tag die Fördergruppe einer gut ausgebildeten Lehrkraft besuchen durften. Eltern, Lehrer und Schüler waren begeistert. Dennoch verbot das Kultusministerium die Fortsetzung dieser Fördermaßnahme, da sie “segregativ” sei und nicht mit der Inklusions-Ideologie vereinbar. Sprich: Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

Sachgemäß statt spielerisch rechnen und schreiben

Im Bereich Mathematik sollten Experten aus der Dyskalkulie-Forschung an Unterrichtskonzepten mitarbeiten. Im ersten Halbjahr müssen alle Erstklässler das kleine EinsPlusEins und EinsMinusEins (1+ 9  = 10, 2 + 8 = 10…) auswendig beherrschen, ohne dabei zu zählen. Das Dezimalsystem muss als Prinzip und daher bis zur 100 im zweiten Halbjahr erarbeitet werden. Materialien wie Muggelsteine, die zum Zählen verleiten, sollten keinen Platz im Unterricht haben.

Was zählt, ist die irrationale Selbstdarstellung der Bildungspolitik und nicht der Lernerfolg der Kinder.

 

Die Handschrift muss gestärkt werden: Grundschüler schrieben in den 1960er Jahren etwa sieben Mal so viel wie heute pro Woche. Man weiß inzwischen, dass solche Routine die Auslastung des Gehirns um den Faktor 50 bis 100 senkt und Prüfungsangst verringert. Kinder müssen daher wieder wesentlich mehr schreiben, und zwar als Fließtext, anstatt Lücken auf Arbeitsblättern auszufüllen.

Nachschriften und Diktate sind zur Übung sehr sinnvoll, wenn in ihnen die aktuell thematisierte Rechtschreibregel sehr häufig vorkommt, aber wenige andere Schwierigkeiten. Dabei sollte die Rechtschreibung auf Basis von Ortho- und Basisgraphemen vermittelt werden, anstelle des Silbenkonzepts und des unkorrigierten Schreibens nach Gehör. Schüler müssen ab der 2. Klasse systematisch lernen, ihre eigenen Fehler zu analysieren und deren Schwere einzuschätzen.

In normalem Sprechtempo lesen lernen

Im Lesen muss ein verbindliches Ziel für die Lesegeschwindigkeit pro Trimester eingeführt werden. Aktuell kann die Mehrheit der Schüler nach vier Jahren Unterricht noch nicht einmal in normaler Sprechgeschwindigkeit lesen. Dieses Tempo entspricht 150 Wörtern pro Minute (WPM). Fleißige Leser erreichen dies bereits in der 2. Klasse, zum Ende der 4. Klasse muss es das Ziel für alle normal intelligenten Kindern sein.

Dazu sind wesentlich mehr verpflichtende Lesezeiten und eine strengere Regelung des Medienkonsums zuhause notwendig. In Sprechgeschwindigkeit lesen zu können ist sowohl entscheidend für das genussvolle, noch schnellere stille Lesen als auch für die Informationsaufnahme in der weiterführenden Schule. Nur, wer schneller als Sprechgeschwindigkeit liest, kann in einer Stunde das lesen, was andere aus drei Stunden Videos entnehmen.

Gezielte Förderung statt Medikalisierung

Eltern, Lehrer und Psychiater müssen sich bei der Diagnose von Legasthenie und Dyskalkulie stärker zurückhalten. Diese Diagnosen sind oft nicht kriteriumsgemäß, perpetuieren Lernrückstände und verstärken, im Sinne J. Haidts, das Selbstbild als machtloses Opfer. Wie man im o.g. Projekt sieht, kann man erfolgreich die Zuständigkeit fürs Lesen, Schreiben und Rechnen aus der Psychiatrie zurück an die Schulen verlagern, wo sie hingehört. Schließlich besteht die Therapie dieser “Störungen” ausschließlich in einem ermutigenden, qualifizierten Unterricht mit hohem Übungsanteil.

Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen.

 

Mit diesen Veränderungen würden wir erreichen, dass alle Kinder auf Basis ihrer angeborenen Möglichkeiten ein gutes Leistungsniveau erreichen und die weiterführende Schule wählen können, die zu ihnen passt. Wenn man die richtige weiterführende Schule gewählt hat, sollte man dort mit etwas Fleiß gute Noten erlangen. Es ist besser, an der Mittelschule der Klassenbeste zu sein als sich mit Gewalt durchs Gymnasium zu quälen. Für die weiterführenden Schulen wünsche ich mir noch radikalere Veränderungen – zu lesen im nächsten und letzten Teil dieser Serie.

 

Literatur:

Esser, Hartmut und Seuring, Julian: Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit. In: Zeitschrift für Soziologie 49, 2020.

Gaidoschik, Michael: Rechenschwäche – Dyskalkulie: Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern (1. bis 4. Klasse)

Moor, Paul: Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern, 1965

Thomé, Günther: Deutsche Orthographie – Historisch, systematisch, didaktisch. Oldenburg 2023

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Swjatoslaw Teofilowitsch Richter über das Üben https://condorcet.ch/2024/04/swjatoslaw-teofilowitsch-richter-ueber-das-ueben/ https://condorcet.ch/2024/04/swjatoslaw-teofilowitsch-richter-ueber-das-ueben/#comments Sun, 21 Apr 2024 16:13:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=16554

Mit Svatoslav Richter möchten wir der Intrinsic-Expertin und Musikpädagogin Regula Schwarzenbach antworten. Sie meinte kürzlich (https://condorcet.ch/2024/03/intrinsic-eine-wahre-fundgrube/) ihre Schüler entwickeln ihr Können mit intrinsischer Motivation, Partizipation und Improvisation.

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Swjatoslaw Teofilowitsch Richter, russischer Klavierspieler 1915 – 1997: Ich muss jeden Tag üben

Swjatoslaw Teofilowitsch Richter (1915 – 1997) war ein begnadeter russischer Pianist und ab 1960 ein Weltstar. Über seine Magie des Klavierspiels sagte er:

“Ich muss jeden Tag üben. Wenn ich es einen Tag lang nicht tue, merke ich es. Wenn ich es zwei Tage lang nicht tue, merken es meine Orchestermusiker und wenn ich es eine Woche lang nicht tue, laufen mir die Zuhörer davon.”

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Kostet Selektion 30’000’000’000 (Milliarden) Franken? https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/ https://condorcet.ch/2024/04/kostet-selektion-30000000000-milliarden-franken/#respond Sun, 21 Apr 2024 12:31:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=16547

Nach Condorcet-Autor Felix Schmutz (https://condorcet.ch/2024/03/der-vorstand-des-vslch-bemueht-sich-um-schulrevolution/ ) untersuchte auch der Stellvertretende Geschäftsführer des aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes, Beat Gräub, die ominöse Wyman-Studie, die als Hauptkronzeuge für die Abschaffung der Selektion in Feld geführt wird.

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Wahrscheinlich war das Consulting-Unternehmen OliverWyman selbst überrascht, über die Resonanz auf ihre Studie zum Thema «Fachkräftemangel» (jedenfalls vermittelte die freundliche Dame am Telefon diesen Eindruck). OliverWyman kam zum Schluss, dass 14’000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz ihr schulisches und berufliches Potenzial nicht ausschöpfen. Dies wiederum führe zu volkswirtschaftlichen Schäden von bis zu 30 Milliarden Franken pro Jahr!

Beat Gräub, Stv. Geschäftsführer des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands alv und KV-Lehrer für Wirtschaft und Recht am Zentrum Bildung KV Aargau Ost in Baden.

Und weil OliverWymann zwei Mal die Selektion nach der 6. Primarschulklasse (8. Schuljahr inkl. Kindergarten) also am Ende des zweiten Zyklus ansprach, entstand in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien rasch der Eindruck, die 14’000 Kinder und die 30 Milliarden Franken seien eine Folge dieser Selektion.

Für Selektionsgegner und -gegnerinnen, wie bspw. die Geschäftsleitung des Schweizer Schulleitendenverbandes VSLCH bzw. ihre Exponenten Thomas Minder und Jörg Berger, ist spätestens damit klar, die Selektion nach der 6. Klasse muss weg. Die 30 Milliarden Franken stehen seither im Raum und werden implizit oder explizit regelmässig wiederholt. Beispielsweise in einem Blick-Artikel von Karen Schärer, vom 9.März 2024.

Was die OliverWyman Studie sagt

Menschen, die sich im Bereich der empirischen Sozialforschung und/oder der Volkswirtschaftslehre und/oder im Schweizer Bildungswesen auskennen, wundern sich:

  • Dieser Entscheid soll solche Auswirkungen, immerhin fast 4 Prozent des Schweizer Brutto-Inland-Produkt, haben?
  • Eine derart komplexe Thematik soll derart klar geschätzt werden können?
  • Wird eine allfällige Fehleinstufung nach der sechsten Klasse nicht durch Berufsmatura, Höhere Fachschulen, Eidgenössische Diplome und ähnlichen Weiterbildungen korrigiert?
  • Müsste man zu denjenigen, die zu tief eingeschätzt werden nicht noch jene in Abzug bringen, die zu hoch eingeschätzt werden?
  • Kann man sagen, dass der volkswirtschaftliche Nutzen eines Menschen umso höher ist, je höher sein Schulabschluss?

Ich machte mir die Mühe, die Studie von OliverWyman genauer anzuschauen. Dasselbe tat Felix Schmutz in einem Blogbeitrag auf Condorcet. Seine Erkenntnisse waren ähnlich.

OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Unzulängliche Studie?

Die Studie besteht aus 20 PowerPoint Folien abgespeichert als pdf-Datei. Einen detaillierten Lauftext gibt es gemäss Rückfrage bei OliverWyman nicht. Auf den Folien 13 und 19 sprechen die Autoren zwei Mal davon, dass die frühe Selektion ein Grund sein dürfte, dass Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. Die Art wie sie zu dieser Aussage kommen, ist allerdings seltsam. Die beliebten und in der Wirtschaft respektierten Weiterbildungen (bspw. Höhere Fachschule, eidgenössische Fachausweise oder Fachhochschulen) werden offenbar weitgehend ignoriert.

Auf Folie 19 präsentieren sie einen breiten Strauss an Massnahmen, mit denen man erreichen könnte, dass mehr Menschen ihr Potenzial ausnutzen. Die meisten sind unbestritten und werden von Bildungsfachleuten seit Jahren empfohlen.

Erfreuliche, wenn jetzt auch Wirtschaftsunternehmen diese Massnahmen ankerkennen und hoffentlich die notwendigen (finanziellen) Massnahmen mittragen.

Und was die Studie nicht sagt

Wer seither allerdings sagt, die Selektion nach dem zweiten Zyklus koste volkswirtschaftlich CHF 30 Milliarden, hat entweder die Studie nicht gelesen oder sie nicht verstanden oder er/sie lügt bewusst. Die OliverWyman jedenfalls schreibt dies in der Studie nicht!

OliverWyman schätzt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen auf 14’000 pro Jahr. Dies entspricht etwa 15 Prozent aller Kinder eines Jahrgangs, also ca. 3-4 pro Klasse. Dabei stützen sie sich auf Interviews mit Jugendlichen aber auch Fachleuten. OliverWyman schreibt selbst, dass die Zahl nicht repräsentativ erhoben wurde.

Trotzdem: Nehmen wir einmal an, dass die Zahl von 14’000 Kindern und Jugendlichen korrekt ist. Zweifellos macht es Sinn, Massnahmen zu ergreifen, die dazu führen, dass Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können. Wie gesagt, auf Folie 19 präsentiert OliverWyman eine breite und weitgehend sinnvolle Palette, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Die Selektion am Ende des zweiten Zyklus ist ein Nebenschauplatz.

Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150’000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1’500’000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Beträgt der volkswirtschaftliche Schaden CHF 30’000’000’000 pro Jahr?

Für Wirbel sorgen ja vor allem die CHF 30 Milliarden (genau genommen sind es 21-29 Milliarden). OliverWyman vertritt in der Studie die These, dass 14’000 Personen ihr Potenzial nicht ausschöpfen, was einen volkswirtschaftlichen Schaden von bis zu CHF 30 Milliarden pro Jahr verursache.

Das würde aber bedeutet, dass diese 14’000 Personen im Durchschnitt pro Kopf rund CHF 2,14 Millionen zusätzliche Wertschöpfung generieren würden.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Eine erstaunliche Aussage. Die Wertschöpfung der Schweiz pro arbeitstätiger Person beträgt im Durchschnitt CHF 800 Milliarden (BIP Schweiz 2022) geteilt durch 5,3 Millionen Arbeitskräfte also CHF 150’000. Würden wir noch externe Effekte annehmen und einen Faktor 10 verwenden (was sicher zu hoch ist), kämen wir auf 1’500’000 Franken. Die 2,14 Millionen Franken sind immer noch weit entfernt.

Im Klartext: Mit den CHF 30’000’000’000 liegt OliverWyman zu hoch – und zwar massiv! Mit der Selektion nach dem zweiten Zyklus hat dieser volkswirtschaftliche Schaden schon gar nichts zu tun.

Meine Mail-Nachfrage bei OliverWyman, wie sie auf diese Zahl kommen, blieb leider unbeantwortet, obwohl dies telefonisch abgemacht war.

Empirie zu Selektion ist uneinheitlich

Wenn also seit ein paar Wochen in sozialen Medien und in der Tagespresse die «späte Selektion» gefordert und so getan wird, als ob die Empirie eindeutig gegen Selektion sei, so ist dies schlicht falsch.

Dazu zwei Beispiele:

  • Der aargauische Primarlehrpersonenverband antwortete auf meine Frage, was die grösste Schwierigkeit im Berufsalltag sei mit «riesige Heterogenität».
  • Auf meine Nachfrage bei mehreren Lehrpersonen der Sek I, welche in allen Leistungszügen unterrichten, erhielt ich übereinstimmend, die Antwort, dass sie die Kinder in homogenen Leistungszügen wohl eher besser fördern können.

Bei den Beispielen handelt es sich um Erfahrungswerte. Doch es gibt auch Empirie. Der erwähnte Felix Schmutz verweist in seinem erwähnten Beitrag auf Studien die, die These der angeblichen Überlegenheit der späten Selektion, widerlegen.

Es gibt Verbesserungspotenzial

Die Primarschule, die dreigliedrige Oberstufe und die Erwachsenenbildung haben übrigens tatsächlich Verbesserungspotenzial. Bspw.:

  • Die Durchlässigkeit sollte verbessert werden.
  • Die Betreuungsverhältnisse sind ungünstig bzw. die Klassen sind meist zu gross.
  • Die Schnittstellen zwischen den Zyklen und der Sek I und der Sek II müssen verbessert werden.
  • Im Bereich der Erwachsenenbildung braucht es ein «Recht auf Weiterbildung». Mit zeitlicher und finanzieller Unterstützung.
    Denn auch die Wirtschaft hat ein Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften, die sich stetig weiterbilden – und allfällige Fehlselektionen nachträglich korrigieren.

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Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon https://condorcet.ch/2024/04/16542/ https://condorcet.ch/2024/04/16542/#respond Sun, 21 Apr 2024 09:43:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=16542

In seinem traditionellen Sonntagseinspruch - wie immer hintersinnig und garstig - setzt sich Mathematikprofessor Wolfgang Kühnel aus Stuttgart mit den Versprechungen der Digitalisierungsprotagonisten auseinander und erkennt - was für eine Überraschung sehr viele Eigeninteressen und wenig Konkretes.

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Überall wird heute die Digitalisierung von allem und jedem gepriesen, auch im Bildungsbereich. Alle sollen daran glauben, dass das ein großer Fortschritt ist und dass allein die “Digitalität” uns im 21. Jahrhundert ankommen lässt, es ist vollmundig von “digitaler Transformation” die Rede usw. Wohlgemerkt, nicht im Hinblick auf industrielle Herstellungsverfahren oder die Raumfahrt, sondern in Bezug auf Kinder schon im Kindergarten,  in der Grundschule und später erst recht. Angeblich ist das die neue pädagogische Wunderwaffe und fördert spürbar die Chancengerechtigkeit und die optimale Schulentwicklung. Einerseits sollen die Kinder selbst mit digitalen Geräten hantieren, andererseits sollen mehr Daten digital verwaltet und ggfs. von den Schulen direkt an die höhere Schulverwaltung weitergeleitet werden. Die beurteilt damit dann die Qualität der Arbeit an dieser Schule.

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Leere  Versprechungen

Wenn man allerdings wissen möchte, was nachweislich über den Nutzen der Digitalisierung in der Bildung bekannt ist, dann findet man kaum etwas. Unabhängige wissenschaftliche Studien, die die ganze Euphorie rechtfertigen, scheint es nicht zu geben. Mancher spricht schon von einem “digitalen Rausch”. Vor 5 Jahren bereits zitierte die Süddeutsche Zeitung

https://www.sueddeutsche.de/bildung/digitalisierung-schule-table-1.4275720

den Augsburger Pädagogik-Professor Klaus Zierer mit den Worten:

“Den Glauben, die digitale Technik werde das Lernen revolutionieren, müssen wir zurückweisen.”

Auch die Thesen von Hattie vermögen das nicht zu entkräften. Auch sonst entsteht nicht der Eindruck, diese Art von Digitalisierung sei ein Anliegen der Pädagogen, der Didaktiker oder anderer Wissenschaftler, die mit dem schulischen Lernen zu tun haben.

Gelegentlich wird auch von Schulpädagogen behauptet, mit mehr Digitalisierung (auch der Schulverwaltung) könne man mehr Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit herstellen, wer kann da widersprechen? Aber nachgewiesen ist das nicht.

Um so energischer aber ertönt der Ruf nach mehr Digitalisierung von denjenigen, die finanziell davon profitieren, der IT-Industrie, der Bildungsindustrie, der Medienindustrie und einer neu entstandenen EdTech-Industrie und auch jener Professoren, die sich hauptamtlich mit dieser Digitalisierung beschäftigen. Diese treten nun nicht etwa durch Presseerklärungen vom Typ “eine profitable IT-Industrie ist im Interesse des ganzen Volkes” hervor, sondern sie verstecken sich hinter angeblich “gemeinnützigen” Vereinen mit klangvollen Namen wie “Bündnis für Bildung”, “Forum Bildung Digitalisierung”, “Didacta Verband” und ähnlichem. Halbwegs ehrlich scheint nur noch die Bezeichnung “Daniel Jung Media GmbH” zu sein, die sich der neue Star der mathematischen Kurz-Videos (und Studien-Abbrecher) zugelegt hat.

Bertelmann-Stiftung Standort Berlin: Digitalisierung absolut alternativlos

Hier wollen wir mal etwas genauer verfolgen, mit welchen Methoden die Leute mit den wirtschaftlichen Interessen so vorgehen. Zum einen gibt es seit längerem angeblich wissenschaftliche Studien im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die die Versorgung von Kitas und Schulen mit mehr digitalen Geräten als absolut alternativlos nachweisen. Sogar die wissenschaftliche Beratungskommission SWK der Deutschen Kultusministerkonferenz hat das vollkommen distanzlos in ihre Empfehlungen vom 19.9.2022 übernommen. Da wird gleich noch gefordert, das Kita-Personal müsse künftig mehr mit Elementarinformatik und den digitalen Geräten vertraut gemacht werden. Vielleicht bekommen wir noch den Kita-Bachelor mit 60 Leistungspunkten aus diesem Computer-nahen Bereich. Zum anderen fördern die Stiftungen, die den IT-Unternehmen nahestehen, die Weiterbildung der Lehrer genau in diesem Punkt. Bei der Bertelsmann-Stiftung sieht das dann so aus:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/in-vielfalt-besser-lernen/projektnachrichten/fortbildungen-fuer-lehrpersonen-wirksam-gestalten

Die digitale Transformation wird in einem Atemzug mit der Inklusion sowie den Ganztagsschulen genannt. Die Weiterbildung hat natürlich nur das Ziel, “positive Wirkungen auf unterrichtsbezogene Kompetenzen der Lehrkräfte und den Unterricht” zu erzielen. Die Unternehmen präsentieren sich dabei fast so wie eine Art von “Mutter Teresa mit anderen Mitteln”, nur auf das Wohl von Schule und Bildung ausgerichtet.

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung. Alles Stiftungen von Grossunternehmen, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitieren. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts.

Und dann gibt es noch Tagungen im großen Stil mit prominenten Gästen. Das “Forum Bildung Digitalisierung” veranstaltet jährlich solche, die nächste ist in der kommenden Woche. Nach außen möchte man ganz harmlos wirken als karitativer Verein der Zivilgesellschaft, der sich um die Chancengerechtigkeit in der Schule sorgt:

https://www.forumbd.de/blog/konferenz-bildung-digitalisierung-2024-setzt-impulse-zur-sicherstellung-von-chancengerechtigkeit/

Es geht um “IMPULSE zur SICHERSTELLUNG von CHANCENGERECHTIGKEIT”, so der

Titel.

Weiter unten auf dieser Seite steht dann, wer sich hinter dem Forum

verbirgt:

Die Telekom Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Dieter Schwarz Stiftung, die Dieter von Holtzbrinck Stiftung, die Heraeus-Stiftung, die Joachim Herz Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Siemens Stiftung, die Vodafone Stiftung und die Wübben Stiftung.

Alles Stiftungen bekannter Großunternehmen, großenteils von jener Industrie, die direkt vom Verkauf digitaler Geräte oder dazu passender Software profitiert. Man kann ohne Übertreibung sagen: das Ziel dieser Tagung ist die Ankurbelung des Geschäfts für die genannten Unternehmen.

Hier

https://www.forumbd.de/verein/

wird dann klar gesagt, dass der ganze Verein nur aus diesen Stiftungen besteht. Und es wird klar gesagt, was der Zweck ist, nämlich nicht Chancengerechtigkeit, sondern nur noch digitaler Wandel:

“Das Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für systemische Veränderungen  und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein. Im Zentrum unserer Arbeit stehen die Potenziale digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. In Projekten, Publikationen und  Veranstaltungen identifizieren wir Gelingensbedingungen für den digitalen  Wandel an Schulen und navigieren durch die notwendigen Veränderungsprozesse.”

Und weiter unten:

“Der digitale Kulturwandel erfordert von allen Beteiligten im System Offenheit und ein anderes Mindset.”

So wird heute Lobbyistenarbeit formuliert, dieses “Forum” schreibt allen das richtige “Mindset” vor, das “Change Management” gegen Leute mit dem falschen “Mindset” ist gewiss auch nicht weit.

Andreas Schleicher, OECD, immer dabei

Speziell bei dieser Tagung schmückt man sich mit prominenten Rednern, die mehrheitlich von digitaler Bildung im einzelnen wohl kaum etwas wissen, aber ganz gewiss die Sache unterstützen, allein schon dadurch, dass sie mitmachen. Da finden sich dann prominente Politikerinnen (je eine von CDU, SPD, FDP), ein österreichischer Minister, die Soziologin Frau Allmendinger (Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung; sie diskutiert zum Auftakt mit Frau Esken über “Chancengerechtigkeit im Zeichen des Digital Divide”), Herr Maaz (Direktor des DIPF) und natürlich Herr Schleicher, der offenbar jedes Jahr dabei ist. Er betätigt sich mittlerweile als Top-Lobbyist für die Interessen der Digitalisierungs-Industrie und diskutiert kurz vor Schluss der Veranstaltung mit anderen über die “Vision eines zeitgemäßen Bildung”.

Was sagte doch Helmut Schmidt über Leute, die Visionen haben? Alle prominenten Redner bekommen bestimmt fürstliche Honorare, an Geld mangelt es in der Branche ja nicht.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”.

Auch Herr Pant (Abteilungsleiter am IPN in Kiel) hält übrigens einen Vortrag mit “Bildungsgerechtigkeit” im Titel. Direkt nach dem Auftakt gibt es gleich zwei Veranstaltungen mit “Chancengerechtigkeit” im Titel und eine zu “KI in der Schule: Vom  Verstärker sozialer Ungleichheit zum Nivellierer”. Für die letztere sind gleich sechs Redner aufgeboten, darunter ein Professor Thomas Süße von der FH Bielefeld, Standort Gütersloh:

Studie der Vodafone Stiftung: Prof. Dr. Thomas Süße im Interview zur Integration von KI ins Bildungssystem und Lehrerkompetenzen

Er versteht was von KI-Systemen in Unternehmen, insbesondere Mensch-KI-Kollaboration, seine Expertise für schulische Fragen dürfte wohl eher gering sein. Aber das ist ja auch zweitrangig. Neckischerweise wird in diesem Interview auch die Frage nach der Vermeidung von Technostress (!!) gestellt und beantwortet. Dieses Wort sollte man sich vielleicht merken. Lehrer haben leicht den Technostress, wenn das digitale Whiteboard einfach nicht funktionieren will. Auf etlichen Tagungen habe ich schon Technostress für Vortragende und Verzögerungen erlebt, nur weil der Beamer nicht so wollte wie er sollte.

Da kultiviert man also den alten Traum von der Nivellierung aller Ungleichheiten, aber das soll selbstverständlich gleichzeitig Gewinne in die Kassen der genannten Unternehmen spülen. Motto: “Tue Gutes, rede laut darüber und profitiere davon”. Bei Wikipedia steht, dass der

Bertelsmann-Konzern während des 2. Weltkriegs erheblich davon profitierte, dass er im Auftrag der Regierung ein bestimmtes Buch herstellte, das allen deutschen Soldaten mitgegeben wurde.

Übrigens hatte man schon vor fast 20 Jahren angefangen, eine digitale Schulevaluation einzuführen. Im Land NRW war damals ein System “SEIS” zumindest ernsthaft im Gespräch, und das stammt von Bertelsmann:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_SEIS_macht_Schule.pdf

https://www.bildung.koeln.de/imperia/md/content/selbst_schule/seis/seis_info_workshop_12052006.pdf

Das gleich am Anfang des zweiten Links postulierte “gemeinsame Qualitätsverständnis” wird in dem ersten Link unter der Überschrift “Qualitätszyklus” so beschrieben:

“Grundlage für den Qualitätsentwicklungsprozess einer Schule ist ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten von guter Schule. Sechs zentrale Qualitätsbereiche, die ihnen zugeordneten Kriterien und ein vereinbarter Fragenkatalog sind das Ergebnis eines internationalen und nationalen Konsensbildungsprozesses. Mit diesen wichtigsten Bereichen schulischer Qualität lässt sich das Bild einer Schule darstellen, das ihrer Vielfalt und Komplexität gerecht wird.”

Da haben wir doch gleich den Haken bei der Sache:

Natürlich gibt es kein “gemeinsames Verständnis”, was “gute Schule” sein soll. Genau darin liegt ja das Hauptproblem. Der eine sieht das so, der andere anders, auch Lehrerverbände und Elternverbände diskutieren das kontrovers, politische Parteien auch. Man denke nur an den Streit über das G8- oder G9-Gymnasium mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen oder die Diskussion um die Leistungsorientierung bzw. deren allmähliche Abschaffung. Die einzige Möglichkeit wäre dann, dass Parteipolitiker gemeinsam mit Bertelsmann auch noch die Richtlinien vorgeben, was gute Schule sein soll, und das über die Schulleitungen durchsetzen. Der “internationale Konsensbildungsprozess” kann sich eigentlich nur auf die OECD beziehen, etwa den OECD Lernkompass 2030. Ein internationaler Konsens soll damit herbeigeredet werden.

Schulleiter Rudolph empfängt die Schülerinnen: An dieser Schule herrschen klare Regeln.

Ganz ähnliche Evaluationsverfahren sind jedenfalls in Berlin im Gebrauch, das führte zu dem Skandal um den Schulleiter Michael Rudolph, dessen Schule (eine im “Brennpunkt”) gute Leistungen zeigte, aber ohne die “richtige” Ideologie bei den Methoden. Vermutlich hätte da auch Bertelsmann abgewinkt, so wie der Herr Rudolph das machte, war das nicht der richtige digital gesteuerte “Qualitätsentwicklungsprozess”.

Mit dem Stichwort “Schulportrait” kann man übrigens Inspektionsberichte für jede Berliner Schule auf deren Homepage einsehen, das ist durchaus interessant. Bei einer Ganztagsschule (Heinrich-Böll-Schule) stand in einem Bericht z.B., dass viele Schüler den Ganztag nicht mögen und sich deshalb lieber absetzen. Und man erhebt unzählige Daten in farbigen Tabellen, deren Nutzen alles andere als klar ist. Eine Pflichtübung.

Da steht dann z.B.:

“Das Qualitätsprofil beinhaltet verpflichtende Qualitätsmerkmale (blau hinterlegt) und Wahlmodule. Hinter diesem Qualitätsprofil verbergen sich ca. 200 Indikatoren.” Diese “Datensammelwut” wird zu einer Wissenschaft, an der FU Berlin gibt es schon eine Professur für Schulevaluation. Wer sich das antun möchte, kann der eingangs genannten Tagung am 24.4.

und 25.4.2024 elektronisch folgen (mit “Live-Chat”), jedenfalls auf der sog. “Hauptbühne”, wo auch Herr Schleicher auftreten wird.

Dass all die Qualitätsentwicklungsprozesse bislang noch nicht zu einer Verbesserung schulischer Leistungen geführt haben (weder nach dem Kriterium der standardisierten Tests noch nach dem der “kleinen Empirie” der glaubwürdigen Berichte zuverlässiger Leute), bleibt ein unauflösbarer Widerspruch. Kulturpessimisten sehen uns schon auf einem Weg immer tiefer hinein in die Sackgasse. Die Optimisten müssten uns einen Ausweg aufzeigen. aber ob es den noch gibt?

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Ein Essay über die Erziehlehre “Levana” des deutschen Schriftstellers und Pädagogen Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825) – Teil 1 https://condorcet.ch/2024/04/ein-essay-ueber-die-erziehlehre-levana-des-deutschen-schriftstellers-und-paedagogen-jean-paul-friedrich-richter-1763-1825-teil-1/ https://condorcet.ch/2024/04/ein-essay-ueber-die-erziehlehre-levana-des-deutschen-schriftstellers-und-paedagogen-jean-paul-friedrich-richter-1763-1825-teil-1/#respond Sat, 20 Apr 2024 07:51:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=16519

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: "Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten." * Condorcet-Autor Georg Geiger hat uns ein Essay zur Verfügung gestellt, das wir in drei Teilen publizieren,

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«Levana oder Erziehlehre» erschien erstmals 1807 und zählte zu dieser Zeit mit einer Auflage von 2500 Exemplaren zu den beliebtesten Werken Jean Pauls. Gegenüber dem Braunschweiger Buchhändler Friedrich Vieweg pries Jean Paul als mittlerweile dreifacher Vater sein pädagogisches Werk folgendermassen: «Das Werk selber ist für die höhere (elegante) Welt und für die Mütter didaktisch geschrieben –  geht von dem Allgemeinsten, dem Geiste der Zeit, der Bildung zur Religion (…) bis zu den bestimmtesten Regeln herab, über Spiele, Freuden, Strafen (…) der Kinder – Von der Ausbildung des Menschen bis zu einem Briefe über Bildung der Fürsten, der Weiber (…) und bis zur physischen Erziehung – Es ist wie meine Aesthetik eine Frucht oder Blüte langer Sammlungen und Jahre und Erfahrungen. Nur zuweilen wird der didaktische Ton durch den Nachschlag eines komischen unterbrochen oder geschlossen.»

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor

Die 2019 verstorbene Schriftstellerin Brigitte Kronauer empfiehlt in ihrem Portrait «Kosmonaut mit Winkelsinn» (NZZ vom 23.3.2013) aus Anlass des 250. Geburtstages von Jean Paul Friedrich Richter das 1818 verfasste autofiktionale Fragment «Selberlebensbeschreibung» als Einstieg in das Werk eines Autors zu nehmen, das ebenso populär wie zugleich schwer verständlich sei und dessen Urheber sich um 1800 wie kein anderer «mit solcher Konsequenz ausschliesslich als Schriftsteller verstand», wie es der Germanist Helmut Pfotenhauer in seiner Jean Paul – Biographie «Das Leben als Schreiben» (München 2013) betont, denn schon mit 18 Jahren brach Jean Paul sein Theologiestudium ab und beschloss Berufsschriftsteller zu werden! Am Ende seines von grosser ökonomischer Not und ebensolchen literarischen Erfolgen geprägten Arbeitslebens hinterliess der autodidaktische Universalgelehrte Jean Paul eine vieltausendseitige Zettelkastensammlung von Exzerpten aus Geschichte, Meteorologie, Botanik, Astronomie, Physik und Chemie sowie eine Vielzahl literarischer Prosa-Werke in Form von 11’000 Druckseiten, 40’000 Seiten in Handschrift und einer 4000 Seiten umfassenden Briefsammlung.

«Selberlebensbeschreibung»

«Geneigteste Freunde und Freundinnen!»

«Verehrteste Herren und Frauen!»

Mit diesen Worten richtet sich der selbsternannte «Professor der Selbergeschichte» an sein Publikum und es ist kein Zufall, dass neben den Männern auch die Frauen explizit in den ersten beiden Vorlesungen angesprochen werden, waren sie doch die wichtigste Gruppe seines Lesepublikums. Er schildert den  Tag seiner Geburt gleich zu Beginn mit folgenden Worten: «Es war im Jahre 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; – und zwar in dem Monate, wo mit ihm noch die gelbe und graue Bachstelze, das Rotkehlchen, der Kranich, der Rohrammer und mehrere Schnepfen und Sumpfvögel anlangten, nämlich im März: – und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine Wiege zu streuen waren, gerade dazu das Scharbock- oder Löffelkraut und die Zitterpappel in Blüte traten, desgleichen der Ackerehrenpreis oder Hühnerbissdarm, nämlich am 21sten März; – und zwar in der frühesten frischesten Tageszeit, nämlich am Morgen um 1 ½ Uhr; was aber alles krönt, war, dass der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes war.» Wann hat jemals ein deutscher Schriftsteller mit einer solch sorgfältigen und kundigen Naturbeobachtung seine Geburt in den Kreislauf der  Natur und zugleich in einen geschichtlichen Kontext eingebettet!

Bewunderer Rousseaus

Der junge Johann Paul Friedrich – die Umformulierung ins französische Jean ab dem Jahre 1792 hatte mit seiner Bewunderung für Jean-Jacques Rousseau zu tun – war an sich ein wissensdurstiges, neugieriges Kind: «Alles Lernen war mir Leben, und ich hätte mit Freuden, wie ein Prinz, von einem Halbdutzend Lehrern auf einmal mich unterrichten lassen, aber ich hatte kaum einen rechten.» Der Vater, ein verarmender protestantischer Landpfarrer, Lehrer und Organist, nahm nach einem Zwischenfall  seine beiden Söhne aus der Dorfschule von Joditz und unterrichtete sie selbst. «Vier Stunden vor- und drei nachmittags gab unser Vater uns Unterricht, welcher darin bestand, dass er uns bloss auswendig lernen liess, Sprüche, Katechismus, lateinische Wörter und Langens Grammatik.» Es war ein Lernen ohne zu verstehen. Seltsamerweise unterrichtete der klavierfertige Vater seine Söhne nicht einmal in Musik! Und auch Geschichte, Naturgeschichte, Erdbeschreibung, Arithmetik, Astronomie und Orthographie kamen im väterlichen Privatunterricht bis in sein zwölftes Lebensjahr nicht vor. Bei fehlerhaftem Lernen oder Lernunwilligkeit wurde sein Bruder Heinrich, der sich 1789 aus Verzweiflung wegen der prekären ökonomischen Situation der Familie das Leben nahm, vom Vater oft geschlagen. Dass der «Allherrscher Vater» Johann Paul verschonte, lag daran, dass dieser stets darum bemüht war, «das Seinige immer zu wissen».

Entscheidend für seine persönliche Entwicklung war die Entstehung eines philosophischen Zugangs zur Welt, eine Art «Weltweisheit».

 

Im Pfarrhof von Joditz lebten die Brüder eingeschlossen und abgesondert von der Dorfjugend. Zum Glück kamen immer wieder der Frühling und der Sommer: «Da werden wir armen, vom ganzen Winter und Kerkermeister in den Pfarrhof eingeschlossnen Kinder durch den vom Himmel gesandten Engel der Jahrzeit befreiet und hinausgelassen in die freien Felder und Wiesen und Gärten.»  Ab dem dreizehnten Lebensjahr ging Johann Paul dann in Schwarzenbach in den geregelten Unterricht einer Dorfschule, die er folgendermassen beschreibt: «Die Schulstube oder vielmehr die Schularche fasste Abc-Schützen, Buchstabierer, Lateiner, grosse und kleine Mädchen – welche, wie an einem Treppengerüste eines Glashauses oder in einem alten römischen Theater, vom Boden bis an die Wand hinauf sassen – und Rückkehr und Kantor samt allem dazugehörigen Schreien, Summen, Lesen und Prügeln in sich.»

Eine Art «Weltweisheit» als Himmelspforte für den Einblick in «lange, lange Freudengärten», die für Jean Paul zu einer Art von individuellem Erweckungserlebnis führte.

Jean Paul gehörte in dieser Gesamtschule zur Spezialgruppe der Lateiner, und neben dem Unterricht in der öffentlichen Schule genoss er auch noch Privatunterricht bei Kaplan Völkel, der ihn in Philosophie und Geographie unterrichtete und ihm sogar noch Klavierstunden gab. Entscheidend für seine persönliche Entwicklung war die Entstehung eines philosophischen Zugangs zur Welt, eine Art «Weltweisheit». Ein Wort, das ihm wie eine Himmelspforte Einblick verschaffte in «lange, lange Freudengärten», und die zu einer Art von individuellem Erweckungserlebnis führte, an das er sich genau erinnerte: «Nie vergess ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewusstseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiss. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich, wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mir fuhr und seitdem leuchtend stehenblieb: da hatte mein Ich zum ersten Mal sich selber gesehen und auf ewig.»

Der kleine Johann Paul übernahm jedes Mal ohne Widerrede das Trägeramt, obwohl der Preis schrecklich war.

 

Und dieses Ich war von schier unerschöpflicher Phantasie erfüllt, die ihm leider im Umgang mit der Angst vor Gespenstern arg in die Quere kam: «Manches Kind voll Körperfurcht zeigt gleichwohl Geistermut aber bloss aus Mangel an Phantasie, ein anderes hingegen – wie ich – bebt vor der unsichtbaren Welt, weil die Phantasie sie sichtbar macht». So wie Goethe davon erzählte, dass er sich als Student in Strassburg im Kreise seiner Kommilitonen die Gespensterfurcht systematisch auszutreiben versuchte, so wurde der kleine Jean Paul von seinem Vater brutal mit seiner «Geisterscheu» konfrontiert, indem er immer wieder gezwungen wurde, bei Beerdigungen die Bibel seines Vaters durch die leere Kirche in die Sakristei zu tragen, wenn «der Leichenzug mit Pfarrer, Schulmeister und Kindern und Kreuz und mir von der Pfarrwohnung an bei der Kirche vorüber zu dem Kirchhof neben dem Dorfe sich mit seinem Singgeschrei hinausbewegte.» Und der kleine Johann Paul übernahm jedes Mal ohne Widerrede das Trägeramt, obwohl der Preis schrecklich war: «aber wer von uns schildert sich die bebenden, grausenden Fluchtsprünge vor der nachstürzenden Geisterwelt auf dem Nacken und das grausige Herausschiessen aus dem Kirchentore?»

Phantasie als Plage und Geschenk

Die Phantasie war aber nicht nur eine Plage, sondern  auch ein Geschenk, das ihn früh zur Dichtkunst führte und das ihn mit Mut erfüllte, sobald er ins Reden und Schreiben kam. Dabei verstieg er sich in seinem Leben in den Kontakten mit anderen Menschen – gebildete Frauen, Adlige, Dorfleute –  zu skurillen Selbstinszenierungen, die typisch sind für diesen so angepassten und doch wieder so rebellischen Kauz, dass er sogar selbst ins Schmunzeln kam: «Nahm er nicht an einem Nachmittage, wo sein Vater nicht zu Hause war, ein Gesangbuch und ging damit zu einer steinalten Frau, die jahrelang gichtbrüchig darniederlag, und stellte sich vor ihr Bette, als sei er ein erwachsener Pfarrer und mache einen Krankenbesuch, und hob an, ihr aus den Liedern Sachdienliches vorzulesen? Aber er wurde bald unterbrochen von dem Weinen und Schluchzen, mit welchem nicht etwan die alte Frau das Gesangbuch anhörte – diese liess sich kalt auf nichts ein-, sondern er selber.»

Auch wenn er davon spricht, dass «die reine Liebe nur geben will», so hat man eher den Eindruck, dass es ihm vor allem um seine eigenen Gefühle geht, für die er kaum nach aussen einstehen will.

 

Die Freude an der verspielten Selbstinszenierung zeigte sich auch in seiner ersten Liebe: «Es war ein blauaugiges Bauernmädchen seines Alters, von schlanker Gestalt, eirunden Gesicht mit einigen Blatternarben, aber mit tausend Zügen, welche eben wie Zauberkreise das Herz gefangennehmen.» Und auch wenn er davon spricht, dass «die reine Liebe nur geben will», so hat man eher den Eindruck, dass es ihm vor allem um seine eigenen Gefühle geht, für die er kaum nach aussen einstehen will. Da ist viel unaussprechliche «Süssigkeit», ein «Herzens-Auseinanderwallen, ein himmlisches Vernichten und Auflösen des ganzen Menschen», aber wenig Bezogenheit auf ein geliebtes Gegenüber, so dass er seine erste Liebe mit folgenden lakonischen Worten bilanziert: «Dennoch blieb ihm mehr das Gefühl als ihr Gesicht, von welchem er nichts behalten als die Narben.»

Und er bezeichnet es als eine Eigenart von ihm, «dass er jedes weibliche Gesicht, dessen sogenannte Hässlichkeit nur keine moralische sein darf, ohne alle kosmetische Kunstgriffe, ohne Schmink- und Salbbüchse, ohne März- und Seifenwasser und ohne Nachtlarven im höchsten Grade reizend und bezaubernd zu machen vermag, wenn man ihm dazu nur einige Abende, Gesänge, Herzworte einräumt, dass wohl niemand schöner erscheint als eben  die gedachte Person – aber natürlich nur in seinen eignen Augen; denn wer spricht von andern?» Auch aus seiner Erinnerung an den Besuch des Höferjahrmarktes mit seiner Mutter wird deutlich, wie sehr er es liebte,  sich in sicherer Distanz in alle Frauen schwärmerisch zu verlieben: «und er verliebte sich unten vorbeimarschierend überall hinauf», wo die «vornehmsten und schönsten Damen» aus den Fenstern schauten. Seine Devise dem weiblichen Geschlecht gegenüber brachte er gegen Ende seines autobiographischen Fragments folgendermassen auf den Punkt: «Ferne schadet der rechten Liebe weniger als Nähe.»

Jean Pauls «erotische Akademie»

Ganz ähnlich taucht die Reinheit der ersten Liebe im 1790 entstandenen  «Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz in Auenthal» auf. Da heisst es nicht etwa, dass sich das Schulmeisterlein verliebt habe, sondern «er wurde verliebt». Er erliegt jedem weiblichen Begehren und er ist ihm auf passive Weise ausgeliefert: «Denn einem Schnupftuch in einer weiblichen Hand erlag er stets auf der Stelle ohne weitere Gegenwehr, wie der Löwe dem gedrehten Wagenrade und der Elefant der Maus.»

Kurze Zeit später benennt er dasselbe Beziehungsmuster auf noch zugespitztere Weise  folgendermassen: «Ueberhaupt hab ich bisher mir unnütze Mühe gegeben, es zu verstecken, dass er in alles sich verliebte, was wie eine Frau aussah;» Wenn der Erzähler von den auf Distanz verehrten Frauen zu seiner Ehefrau Justine wechselt, spricht er diese als «Mutter» an, und er umschreibt die Vorteile der ehelichen Beziehung folgendermassen: «Er prahlte vor niemand als vor seiner Frau; und ich schätze den Vorteil so hoch, als er wert ist, den die Ehe hat, dass der Ehemann durch sie noch ein zweites Ich bekommt, vor welchem er sich ohne Bedenken recht herzlich loben kann.» So schwach ist der Mann, der sich in der Ehe als der Starke, Ueberlegene inszeniert, dass er noch ein zweites Ich benötigt, das ihm die Frau auf mütterliche Weise von aussen zuführen soll, wobei es zu dieser patriarchalen Selbstverständlichkeit zu bedenken gilt, dass wir uns hier am Anfang des 19.Jahrhunderts befinden.

Nicht lieben, sondern die Liebe nur schildern

Viermal verlobte sich Jean Paul und er erweiterte seine «erotische Akademie» zu einem Kreis gebildeter und hochgestellter Frauen aus ganz Deutschland. Zu den Verehrerinnen gehörten etwa Charlotte von Kalb, Rahel Levin, spätere Varnhagen, Karoline von Feuchtersleben oder sogar die preussische Königin Louise. Im Oktober 1799 versprachen sich Karoline und Jean Paul die Ehe, die dann einige Monate später nicht wegen der empörten adligen Familie ob dieser unstandesgemässen Verbindung wieder aufgelöst wurde, sondern wegen Jean Paul, der die Liaison unvermittelt mit folgenden Worten aufkündigte: «Nicht ihr Stand, sondern moralische Unähnlichkeiten scheiden uns». Johann Gottfried Herder meinte in einem Trostbrief an Karoline treffend, Jean Pauls Beruf sei nicht zu lieben, sondern die Liebe zu schildern und so «aller Frauen Mann zu sein.» Der Dichter hatte eben Karoline und ihre höfische Umgebung vor allem als Material für sein literarisches Schaffen benützt.

Im Sommer 1800 lernte er dann in Berlin seine spätere Ehefrau Karoline Mayer kennen, die ihn verehrte und die als gebildete Frau trotzdem bereit war, «zu ihm aufzublicken und ihm ein häusliches Leben zu garantieren», wie es Pfotenhauer in seiner Biographie formulierte. In einem Brief an Ludwig Gleim umschrieb Jean Paul, was er von den Frauen wollte: «Ausser der Ehe verstrikt man sich durch die Phantasie in so viele Verbindungen mit Weibern, die immer eine oder gar zwei Seelen auf einmal beklemmen und unglücklich machen. Mein Herz wil die häusliche Stille meiner Eltern, die nur die Ehe giebt. Es will keine Heroine – denn ich bin kein Heros -, sondern nur ein liebendes sorgendes Mägden: denn ich kenne jetzt die Dornen an jenen Pracht- und Fackeldiesteln, die man genialische Weiber nent.» Am 22.November 1800 wird die Verlobung angezeigt und am 27.Mai 1801 heiraten Jean Paul und Karoline Mayer. 1802 wird die Tochter Emma geboren, 1803 der Sohn Max und 1804, nach dem Umzug der Familie nach Bayreuth, kommt Odilie als drittes Kind zur Welt.

Toleranz und möglichst grosse Zurückhaltung mit Autorität und Strenge

Auch wenn Jean Paul gleich wie sein Vorbild Jean Jacques Rousseau im Kind den reinen, unschuldigen, idealen Menschen sah, den erst der Prozess der Zivilisation verderbe, so kombinierte er in der Erziehung seiner eigenen Kinder wie auch in seiner Pädagogik als Hauslehrer immer Toleranz und möglichst grosse pädagogische Zurückhaltung mit Autorität und Strenge. Ueber Erziehungsfragen kam es zwischen den Eltern immer wieder zu schweren Konflikten, die die ersehnte häusliche Stille empfindlich störten. Seine Kinder durften frei reden, auch Spass war erlaubt. Trotzdem war er auch wieder streng, tadelte seine Mädchen und den Knaben züchtigte er auch körperlich. Waren die Kinder krank, so wollte sie der Vater selbst kurieren und dabei mutete er ihnen auch viel Schmerz zum Zwecke der Abhärtung zu, während die Mutter eher auf den Rat der Aerzte hörte. Der Vater liess die Kinder barfuss gehen und sie durften auch auf den Boden spucken. In einem Bericht von 1809, so berichtet der Biograph Pfotenhauer, hiess es deshalb, «er erziehe seine Kinder wie das Vieh».

Und nach den Vormittagsstunden folgte er den Kindern nach Hause, «da er sich’s ausgebeten hatte, reihum bei den einzelnen Familien mittags zu speisen.»

 

Seit 1805 führte er ein Tagebuch über seine Kinder, das er zusammen mit seiner jahrelangen Lehrtätigkeit in Schwarzenbach und Hof für seine Erziehlehre «Levana» direkt verwendete. Ab 1790 war er für 4 Jahre als Lehrer in Schwarzenbach für 6 Knaben und 1 Mädchen verantwortlich. Er unterrichtete diese Kinder, die zwischen 7 und 15 Jahre alt waren, 30 Wochenstunden in 15 (!) verschiedenen Fächern: Biblische Geschichte, Moral, Logik, Latein, Französisch, Deutsch, Mythologie, Geschichte, Geographie, Physik, Naturgeschichte, Anatomie, Astronomie, Rechnen und Kurztexte verfassen. Und dies alles in räumlich prekären Verhältnissen, denn er klagte gemäss Karl Lange in einem Brief, «dass unter ihm gespult, neben ihm gezwirnt und draussen gehämmert werde.» Und nach den Vormittagsstunden folgte er den Kindern nach Hause, «da er sich’s ausgebeten hatte, reihum bei den einzelnen Familien mittags zu speisen.»

Eine seiner didaktischen Eigenheiten war es, die Kinder zu Verknüpfungen und unterhaltsamen Aehnlichkeiten verschiedener Wissensgebiete anzuregen. Er verleitete sie zu Wortspielen und Witzen, um nach oberflächlichen Analogien zu suchen. Zucht und Ordnung waren aber in den Schulregeln ebenfalls wichtig.  Nach 4 Jahren Gesamtschule mit verschiedenen Niveaus – binnendifferenzierter integrativer Unterricht heisst das heute! – wurde diese kleine Privatschule aufgelöst und Jean Paul ging zu seiner seit 1779 verwitweten Mutter nach Hof zurück, wo er auch wieder Kinder im kleinen Kreis unterrichtete.

«Ueberall das Ganze meinend»

In der Vorrede zur ersten Auflage von «Levana» 1806 formuliert er das Hauptanliegen seiner Pädagogik folgendermassen: «Allein obgleich der Geist der Erziehung – überall das Ganze meinend – nichts ist als das Bestreben, den Idealmenschen, der in jedem Kinde umhüllt liegt, frei zu machen durch einen Freigewordenen». Die «rechte Erziehung» besteht für ihn in der «entfaltenden, durch welche die lange zweite, die heilende, oder die Gegenerziehung zu ersparen wäre.» Dies führt ihn zu folgender Maxime: «Jeder neue Erzieher wirkt weniger ein als der vorige, bis zuletzt, wenn man das ganze Leben für eine Erziehanstalt nimmt, ein Weltumsegler von allen Völkern zusammengenommen nicht so viele Bildung bekommt als von seiner Amme.» Dieser Rousseauschen Idealkonzeption kann Jean Paul trotzdem nicht ganz nachkommen, denn die Erziehung in der frühen Kindheit in den ersten 3 bis 5 Lebensjahren ist ihm sehr wichtig, entscheide sich doch in dieser Phase die ganze Entwicklung des Menschen.

Jean Pauls Vorbild Jean-Jacques-Rousseau ausruhend auf einem Gemälde des Schweizer Künstlers Jean-Louis David.

Es ist erstaunlich, mit welcher Radikalität Jean Paul an dieser Stelle den Staat und die  Gesellschaft kritisiert: «Leider raubt entweder der Staat oder die Wissenschaft dem Vater die Kinder über die Hälfte; die Erziehung der meisten ist nur ein System von Regeln, sich das Kind ein paar Schreibtische weit vom Leibe zu halten und es mehr für ihre Ruhe als für seine Kraft zu formen, höchstens wöchentlich einige Male ihm unter dem Sturmwinde des Zornes so viel Mehl der Lehren zuzumessen, als er verstäuben kann.» Es wird an dieser Stelle deutlich, wie willkürlich und zwanghaft die Konstruktion des reinen, guten Menschen ist, der lediglich durch den Zivilisationsprozess in seinem späteren Leben verdorben werde.

Weil ihm grundsätzlich die Widersprüchlichkeit des Menschen zu widersprüchlich war, rettete er sich in eine Idealkonstruktion, die schlussendlich in einer vagen und pauschalisierenden Kritik der städtischen Kultur und des zeitlichen Verlaufs aller Dinge endete: «Aber ich möchte die Geschäftsmänner fragen, welche Bildung der Seelen mehr auf der Stelle erfreuend belohne, als die der unschuldigen, die dem Rosenholze ähnlich sind, das Blumenduft austreuet, wenn man es formt und zimmert? Oder was jetzt der fallenden Welt – unter so vielen Ruinen des Edelsten und Altertums – noch übrig bleibe als Kinder, die Reinen, noch von keiner Zeit und Stadt Verfälschten. Nur sie können in einem höheren Sinn, als wozu man sonst Kinder gebrauchte, in dem Zauberkrystall die Zukunft und Wahrheit schauen und noch mit verbundenen Augen  aus dem Glücksrade das reichere Schicksal ziehen.»

Bei Jean Paul ist die Dringlichkeit der Gesellschaftskritik im Verbund mit pädagogischen Visionen um einiges heftiger und man spürt die sich anbahnende Revolutionierung der Gesellschaft durch die Industrielle Revolution in der verwendeten Maschinenmetaphorik.

 

Jean Paul steht mit seiner pädagogischen Kritik des Drills und des Gehorsams in einer langen Tradition, wie sie etwa schon der ihm bekannte französische Humanist Michel de Montaigne in seinem berühmten Essay «Ueber die Schulmeisterei» Ende des 16. Jahrhunderts folgendermassen vorgetragen hatte: «In Wahrheit zielen Sorge und Aufwand unserer Väter auf weiter nichts ab, als uns den Kopf mit Wissen anzufüllen; von Urteil und Charakter ist nicht viel die Rede (…) Wir mühen uns nur, das Gedächtnis vollzupfropfen, und lassen Verstand und Gewissen leer.» Doch bei Jean Paul ist die Dringlichkeit der Gesellschaftskritik im Verbund mit pädagogischen Visionen um einiges heftiger und man spürt die sich anbahnende Revolutionierung der Gesellschaft durch die Industrielle Revolution in der verwendeten Maschinenmetaphorik. So etwa in den «Selberlebensbeschreibungen», wo sich der Erzähler gegen Ende der Autobiographie richtig in Rage redet: «Aber so sind die Menschen durch alle Aemter hinauf; sie haben keine Lust, knechtische Maschinen zu freien Geistern zu machen und dadurch ihre Schöpf-, Herrsch- und Schaffkraft zu zeigen, sondern sie glauben diese umgekehrt zu erweisen, wenn sie an ihre nächste oder Obermaschine aus Geist wieder eine Mittelmaschine und an die Zwischenmaschinen endlich die letzte anzuschienen und einzuhäkeln vermögen, so dass zuletzt eine Mutter-Marionette erscheint, welche eine Marionettentochter führt, die wieder ihrerseits imstande ist, ein Händchen in die Höhe zu heben. Gott, der Reinfreie, will nur Freie erziehen; der Teufel, der Reinunfreie, will nur seinesgleichen.»

«Wer keinen Gott im Himmel und keine Hoffnung auf ein Jenseits im Herzen hat, der mag bis zu den höchsten Spitzen menschlicher Weisheit durchgedrungen sein – zum Erziehen taugt er nicht.»

Sein Hang zur ernst gemeinten Spiritualität ohne viel Respekt vor der kirchlichen Dogmatik liess ihn auch trotz seiner Bewunderung für das höfische Leben den Untertanengeist der feudalen Welt schonungslos kritisieren: « Und doch sag ich: wie glücklicher seid ihr jetzigen Kinder, die ihr aufgerichtet erzogen werdet, zu keinem Niederfallen vor dem Range belehrt und von innen gegen den äusseren Glanz gestärkt!» Für die Stärkung von innen heraus war ihm als Deist Gott «ein ordentliches Lebensbedürfnis» und er war «ein Christ, der zwar von kirchlichen Dingen wenig hält, dafür aber mit einer Wärme und Festigkeit seine religiösen Ueberzeugungen lebt, wie sie in dem dürren Zeitalter der Aufklärung nur sehr wenigen ‘starken Geistern’ eigen war», wie Karl Lange es formuliert, denn «wer keinen Gott im Himmel und keine Hoffnung auf ein Jenseits im Herzen hat, der mag bis zu den höchsten Spitzen menschlicher Weisheit durchgedrungen sein – zum Erziehen taugt er nicht.» 120 Jahre nach Lange betonte auch Roman Bucheli in der NZZ vom 23.März 2013: «Gegen den Tod und gegen die Leere einer drohenden Gottlosigkeit mobilisiert er fortan die Kunst.»

«Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab» 

Am eindrücklichsten kommt das in der «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei» zum Ausdruck, die sich innerhalb des Romans «Siebenkäs»  findet. In dem «ersten Blumenstück» taucht dieses bekannte Pamphlet auf, das die atheistische Vorstellung von der Nichtexistenz Gottes als veritablen Albtraum schildert: «Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaisten  Herzen, das den grössten Vater verloren, neben dem unermesslichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche.

Die ganze Welt ruht vor ihm wie die grosse, halb im Sande liegende ägyptische Sphinx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.» Und es erinnert schon fast an die Episode mit dem sowjetischen Kosmonauten Gagarin, der als erster Mensch im Weltraum war und nach seiner Rückkehr auf die Erde gesagt haben soll: «Ich war im Weltraum, aber Gott bin ich nicht begegnet». Jean Paul lässt Christus in seiner Rede sagen: «Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstrassen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott.»

Schade, dass sich Jean Paul nicht zu einem pantheistischen Verständnis eines Spinoza durchringen konnte, wonach Gott Natur ist.

 

Die Säkularisierung und die zunehmende Individualisierung enden in dieser Rede von Christus in einer grossen, unaushaltbaren Einsamkeit: «Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.» Und dieses «starre, stumme Nichts» hat schreckliche Folgen: «Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgeengel sein?» Doch der Albtraum – «mein Gott, warum hast du mich verlassen?» – endet versöhnlich, denn nach dem Erwachen folgt die grosse Erleichterung: «Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet.»

Schade, dass sich Jean Paul nicht zu einem pantheistischen Verständnis eines Spinoza durchringen konnte, wonach Gott Natur ist, denn gerade Jean Pauls Beziehung zur Natur hätte ihm dieses Verständnis nahebringen können. Stattdessen landet er am Ende dieser Rede in einer Art katholischem Vater-Idyll, das sein ganzes Werk immer wieder kitschig einfärbt: «Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.»

ENDE TEIL 1 VON 3

 

(* Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Karl Lange in der «Bibliothek Pädagogischer Klassiker» herausgegebene «Levana», die 1892 in Langensalza in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen ist. Der Text kann aber auch online und kostenlos beim Projekt Gutenberg gelesen werden.)

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Satire ist Humor, der die Geduld verloren hat. Dies sagte nicht nur Tucholsky, dieser Ansicht ist auch der Progymnasiallehrer und frühere LVB-Präsident Roger von Wartburg. Zum Lachen! Aber nicht nur.

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Nach der Publikation der Ergebnisse des Pisa-Tests von 2022, die für Schweizer Schülerinnen und Schüler einen Abwärtstrend ausweisen, hat die EDK umgehend reagiert und das Projekt «Hopp Schwiiz» ins Leben gerufen, mit dem Ziel, bei der nächsten Durchführung der Pisa-Erhebungen besser dazustehen. Dem LVB wurden Unterlagen der wissenschaftlichen Projektleitung «Tecnocratica» zugespielt, die an dieser Stelle exklusiv auszugsweise veröffentlicht werden:

Roger von Wartburg, Lehrer am Progymnasium, ehemaliger Präsident des lvb: Nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Fremdsprachen

Vorab möchte die wissenschaftliche Projektleitung festhalten, dass die EDK bereits im Jahr 2000, nach Bekanntwerden der Resultate des allerersten Pisa-Tests, höchst vorausschauende Massnahmen in die Wege geleitet hat, um dem Ungenügen des schweizerischen Bildungssystems beizukommen. Und dies sogar in Bereichen, die Pisa gar nicht testet, wie etwa den Fremdsprachen. So ein Vorgehen beweist die visionäre Tatkraft der Schweizer Bildungspolitik. Explizit zu nennen ist das EDK-Sprachenkonzept, welches zum Modell «3/5» (Passepartout) führte, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite Fremdsprache im fünften Primarschuljahr einzusetzen hat.

Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, das bestehende Modell auf ein «1/3/5» auszuweiten. Konkret soll neu ab dem ersten Primarschuljahr Rätoromanisch gelernt werden. Wie eine Studie der Pädagogischen Höchstschule Nordsüdostwestschweiz (PH NSOWCH) mit Verweis auf die Hirnforschung zeigt, sind Erstklässler*innen besonders dafür geeignet, vom Aussterben bedrohte Sprachen zu lernen.

Die PH NSOWCH hat bereits damit begonnen, Avatare zu entwickeln, mit deren Hilfe die Erstklässler*innen dereinst im Cyberspace Rätoromanisch erlernen werden. Die Kinder werden wählen können zwischen Fadri, Bigna, Curdin, Ladina und Ursin, wobei sämtliche Avatare genderfluid ausgestaltet sind. Für das Pilotprojekt «Rumantsch First!» haben sich schon 284 Schulen aus der Deutschschweiz angemeldet – ein überwältigendes Bekenntnis zur mehrsprachigen Schweiz!

Digitalität

Das zuvor umrissene Projekt des Rätoromanisch-Lernens im Cyberspace ist Ausdruck eines umfassenden Verständnisses von Schule als Lernort, der sich in die Kultur der Digitalität des 21. Jahrhunderts einfügt. Die wissenschaftliche Projektleitung plädiert vorbehaltlos für das Beschreiten dieses Wegs, damit sich schulisches Lernen auch für die Generation Alpha und spätere Generationen noch sinnvoll anfühlen kann. Die Gegenwart ist digital, die Zukunft ist digitaler. Wer Kinder und Jugendliche verantwortungsbewusst fitmachen will für diese Zukunft, der bekennt sich zur schulischen Digitalität!

Ungeahnte Möglichkeiten!

Aktuell laufen in verschiedenen Kantonen Bestrebungen, den Unterricht stärker zu digitalisieren. Nach Einschätzung der wissenschaftlichen Projektleitung gehen diese Bemühungen jedoch zu wenig weit – so werden etwa der Kindergarten und die Unterstufe in digitaler Hinsicht an vielen Orten noch viel zu stiefmütterlich behandelt – und es fehlt an einem koordinierten Vorgehen. Zu diesem Zweck fordert die wissenschaftliche Begleitgruppe die Schaffung einer nationalen Taskforce «Digitalität jetzt!». Erste Sondierungsgespräche mit den international anerkannten Koryphäen Mick Rosoft, Will Applegates, Marc Ator und Bert Elsmann haben bereits stattgefunden. Ebenfalls mit an Bord sind das Institut für marktorientierte Bildungsökonomie der HSG sowie Economiesuisse.

Nicht unterschlagen werden darf in diesem Kontext die ökologische Komponente: Mit der flächendeckenden Implementierung digitaler Unterrichts- und Lehrkonzepte kann aus der Vision der «papierlosen Schule» schon bald Realität werden!

Die wissenschaftliche Projektleitung favorisiert ohnehin ein grundsätzliches Abrücken vom Konzept der «Schule vor Ort». Stattdessen soll die Schule der Zukunft gänzlich online stattfinden. Die wegfallenden Kosten für teure Schulbauten können in die digitale Infrastruktur investiert werden. Und als zusätzlicher Benefit würde die Anzahl Verkehrsunfälle mit Kindern drastisch gesenkt. Die wissenschaftliche Projektleitung hat hierzu eine Machbarkeitsstudie bei der Schmähdagogischen Hochschule Mittelland in Auftrag gegeben.

Inklusion international

Die wissenschaftliche Projektleitung anerkennt wohlwollend, dass in der Schweiz die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen oder anderen Ausprägungen besonderen Bildungsbedarfs in Regelklassen im letzten Jahrzehnt vorangetrieben wurde. Als weiterführendes Kapitel dieser beispiellosen Erfolgsgeschichte empfiehlt die wissenschaftliche Projektleitung eine Kontextualisierung des Inklusionsgedankens mit den Resultaten der Pisa-Tests.

Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

OECD-Schlusslichter der Pisa-Erhebungen 2022 sind Mexiko, Costa Rica und Kolumbien. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt vor, dass jede Schweizer Schulklasse jeweils ein Kind aus den drei genannten Ländern online am Unterricht der Schweizer Klasse teilnehmen lässt. Ein beschleunigtes Abrücken vom schulischen Unterricht vor Ort, wie es weiter oben ausgeführt wurde, würde dieses revolutionäre Konzept begünstigen.

Die Schweizer Lehrpersonen werden den Unterricht künftig mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Mexiko, Costa Rica und Kolumbien gemeinsam vor- und nachbereiten. Damit sie sich verständigen können, stellt die EDK entsprechende KI-Tools zur Verfügung. Für das Pilotprojekt «Inklusion international» haben sich innert weniger Wochen 837 Deutschschweizer Schulen angemeldet. Die schulische Zukunft ist nicht nur digital und inklusiv, sondern auch kooperativ und kosmopolitisch!

Ausbildung

Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben in der Schweiz – endlich! – die sehr wissenschaftlichen Pädagogischen Hochschulen die gänzlich unwissenschaftlichen Lehrerseminare abgelöst. Dennoch ortet die wissenschaftliche Projektleitung auch hier zusätzlichen Optimierungsbedarf, denn noch immer – wenn auch in stetig weiter sinkender Anzahl – gibt es unter den Dozent*innen Exponent*innen mit einem ausgeprägt berufspraktischen Hintergrund, die den Studierenden unwissenschaftlich rezepthafte Unterrichtskonzepte nahelegen. Dies stellt einen Affront gegenüber der ausdrücklich wissenschaftlichen Ausrichtung dieser Institutionen dar!

Die wissenschaftliche Projektleitung rät aus Qualitäts- und Professionalisierungsgründen dringend dazu, solche Dozent*innen schnellstmöglich aus ihren Funktionen zu entfernen. Eine zukunftsgerichtete Erziehungswissenschaft hält sich nicht mit überholten Konzeptionen auf, sondern baut allein auf moderne Forschungsmethoden und -ergebnisse. Wer nicht mit der Zeit gehen mag, der hat zeitnah zu gehen! Damit sich Dozent*innen gänzlich vorurteils- und prägungsfrei ihrer wichtigen wissenschaftlichen Aufgabe widmen können, empfiehlt die Projektleitung überdies eine bevorzugte Anstellung von Wissenschaftler*innen, die mit dem dualen schweizerischen Bildungswesen wenig bis gar nicht vertraut sind.

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor.

Lehrplan 22

Wie die neuesten Pisa-Ergebnisse zeigen, vermag der unter Federführung der Dadagogischen Hochschulen wissenschaftlich hervorragend ausgearbeitete Lehrplan 21 den aktuellsten Entwicklungen nicht mehr vollumfänglich zu genügen. Die wissenschaftliche Projektleitung schlägt daher die Schaffung eines Lehrplans 22 vor. Eine Mitwirkung der Berufspraxis ist nicht erforderlich, vielmehr gilt es, der Expertise der Wissenschaftler*innen bei der Erarbeitung des Lehrplans zur vollständigen Entfaltung zu verhelfen.

Da sich zum Leidwesen der wissenschaftlichen Projektleitung in absehbarer Zeit das Konzept einer Maturität für alle Jugendlichen in der Schweiz politisch kaum realisieren lässt, ist es aus Gründen der Chancengerechtigkeit unabdingbar, sämtliche Lehrgegenstände der Tertiärstufe in die Lehrpläne der Volksschule zu integrieren – je früher, desto besser! Dementsprechend werden sich im Lehrplan 22 zusätzlich Kompetenzbereiche wie Quantennanophysik, Artificial General Intelligence und Pharmakoepidemiologie finden lassen.

Eine Vorstudie der Gagadogischen Tiefschule Hintermond kommt zum Schluss, dass der Lehrplan 22 zur Erreichung der genannten Ziele einen ungefähren Umfang von 47’300 Seiten, 36’800 Kompetenzen und 455’820 Kompetenzstufen erfordert. Die wissenschaftliche Projektleitung beantragt der EDK, eine entsprechende Projektstruktur aufbauen zu dürfen.

Für die wissenschaftliche Projektleitung:

  • Prof. Dr. Dr. Turmina von Elfenbein, Titularprofessorin am trinationalen Zentrum für Bildungshomöopathie
  • Prof. Dr. Dr. Dr. Jérôme-Alain Voudou, Zukunftsforscher am Institut für vergleichende Schulethnologie

 

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Eine Bilanz nach 25 Jahren Schulreformen https://condorcet.ch/2024/04/eine-bilanz-nach-25-jahren-schulreformen/ https://condorcet.ch/2024/04/eine-bilanz-nach-25-jahren-schulreformen/#comments Thu, 18 Apr 2024 06:51:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=16506

Fünf zentrale Reformvorhaben stellt Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz bezüglich ihrer Wirkung auf die jüngere Schulentwicklung auf den Prüfstand. Die mit vielen Vorschusslorbeeren versehenen Reformschritte sind mit der Ankündigung geschaffen worden, sie würden die Schulqualität entscheidend verbessern. Sie dürfen daher auch an diesem hohen Anspruch gemessen werden.

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  1. Bildungssteuerung aufgrund von Lernstandserhebungen

“Durch ein Top-down-Bildungsmonitoring kann die Schulqualität kontinuierlich gesteigert werden.”

Bildungsversprechen:

Durch regelmässige Lernstandserhebungen in systematisch ausgewählten Schulen werden in zentralen Fächern die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ermittelt. Die EDK und die Pädagogischen Hochschulen verschaffen sich durch diese auf wissenschaftlicher Basis erhobenen Messungen einen Überblick über den Erfolg des Unterrichts in den einzelnen Fächern. Werden Mängel festgestellt, sollen durch gezielte Steuerungsmassnahmen die Resultate verbessert werden.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Bilanz:  Es herrscht in der EDK grosse Ratlosigkeit, wie die festgestellten Mängel behoben werden könnten.

Den Lernstand einer Klasse festzustellen ist zwar aufwändig, aber keine Hexerei. Ganz anders sieht es aus, wenn die festgestellten Mängel behoben werden sollten. Schon in der ersten PISA-Studie wurde festgestellt, dass die Lesefähigkeiten unserer Schulabgänger nur mittelmässig waren. Die konzeptlosen Steuerungsmassnahmen blieben wirkungslos und die Grundkenntnisse im Deutsch wurden gar noch schlechter. Das Top-down-Prinzip erweist sich als Misserfolg, wenn Schulentwicklung nicht in enger Zusammenarbeit mit den Schulpraktikern erfolgt und deren dringende Forderung nach einer Konzentration aufs Wesentliche weiter missachtet wird.

Lösungsansatz:

Nach eingehender Befragung der Lehrpersonen Ballast aus dem Bildungs-Wunschprogramm abwerfen und sich auf wesentliche Bildungsziele einigen.

 

  1. Frühes Sprachenlernen als ein Schlüssel zum Schulerfolg

“Das frühe Lernen zweier Fremdsprachen verschafft den Kindern einen erheblichen Startvorteil.”

Bildungsversprechen:

Kinder lernen Sprachen leichter als Erwachsene. Mit einer modernen Mehrsprachendidaktik und spielerischen Lernformen können problemlos zwei Fremdsprachen nebeneinander gelernt werden. Mit einem Schwergewicht auf den kommunikativen Fähigkeiten statt auf der Grammatik stehen Fremdsprachen allen Kindern offen. Diese werden so rechtzeitig auf die Anforderungen einer globalisierten Welt vorbereitet.

Bilanz:  Das Konzept einer frühen Dreisprachigkeit ist kein Erfolgsmodell und hinterlässt zu viele Verlierer.

Karikatur von Alain Pichard nach Idee von r.alf

Die Behauptung, dass die meisten Primarschüler mit nur zwei oder drei Wochenlektionen eine Fremdsprache durch das Eintauchen in ein Sprachbad (Immersion) spielerisch lernen würden, ist völlig falsch. Immersion gelingt nur, wenn Kinder täglich in vielen Situation mit einer Fremdsprache in Berührung kommen. Gescheitert ist auch die propagierte Mehrsprachendidaktik, die in einigen Lehrmitteln zu einem eigentlichen Unterrichtsdebakel geführt hat.

Immersion gelingt nur, wenn Kinder täglich in vielen Situation mit einer Fremdsprache in Berührung kommen.

Völlig ungenügend sind auch die Resultate des Frühfranzösisch, wo bis zu zwei Drittel einer Klasse die elementarsten Bildungsziele nicht erreichen. Dieser Misserfolg dämpft die Freude vieler Schüler am Sprachenlernen und führt in manchen Fällen bis zum Schulverdruss. Der Aufwand für das Lernen der Frühfremdsprachen geht teils auf Kosten wertvoller Übungszeit im Deutsch, wo immer grössere Defizite festgestellt werden.

Lösungsansatz:

Eine Fremdsprache in der Primarschule genügt!

  1. Der Lehrplan als verlässlicher Bildungskompass

“Der Lehrplan 21 ist ein Bildungskompass, der als Schweizer Rahmenlehrplan verbindliche Bildungsziele festlegt.”

Bildungsversprechen:

Der neue Lehrplan erleichtert die Mobilität, indem innerhalb vereinheitlichter Schulstrukturen (drei einheitliche Bildungszyklen) in allen Kantonen dieselben Bildungsziele gelten. Mit einem verbindlichen Konzept aus Grundanforderungen und erweiterten Kompetenzzielen soll sichergestellt werden, dass die Qualität der Volksschulbildung gewährleistet und gut überprüfbar ist.

Bilanz:  Der Lehrplan erfüllt seine Funktion als Bildungskompass nur unzureichend.

Das Jahrhundertwerk des neuen Lehrplans führt weit über seinen Grundauftrag der Harmonisierung der Bildungsziele hinaus. Mit seinen oft kompliziert formulierten Kompetenzzielen und seiner Überfülle an Möglichkeiten wirkt er unübersichtlich und erschwert eine Konzentration auf wesentliche Bildungsinhalte.

Der Grundsatz, dass im neuen Lehrplan Kompetenzen gegenüber Inhalten eindeutig Vorrang haben, ist in vielen Fällen fragwürdig.

Ein Lehrplan, der den Anspruch erhebt, ein nützlicher Bildungskompass für Lehrpersonen zu sein, erfüllt seinen Zweck nicht, wenn er kaum einmal konsultiert wird.

Der Grundsatz, dass im neuen Lehrplan Kompetenzen gegenüber Inhalten eindeutig Vorrang haben, ist in vielen Fällen fragwürdig. So ist es wenig hilfreich, wenn beispielsweise im Geschichtsunterricht bestimmte politische Kompetenzen an mehr oder weniger beliebigen Inhalten erworben werden können. Lehrpersonen und Schüler möchten in erster Linie wissen, welche konkreten Bildungsinhalte im Zentrum des Unterrichts stehen.

Lösungsansatz:

Ein Lehrplan in Kurzform mit verbindlichen Bildungsinhalten als Ergänzung zur aktuellen Vollausgabe wäre für die Schulpraxis sehr hilfreich.

  1. Integration aller Schüler in Regelklassen

“Alle Kinder haben das Recht, in einer Regelklasse unterrichtet zu werden.”

Bildungsversprechen:

Keine Schülerin und kein Schüler soll in irgendeiner Form von seinen Mitschülern ausgegrenzt werden. Die Separation in Kleinklassen ist deshalb kein geeignetes Mittel, um Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lerndefiziten zu fördern. Klassenlehrpersonen werden von Heilpädagoginnen unterstützt, damit in Regelklassen integrierte schwierige Schüler professionell betreut werden können.

Bilanz: Das dogmatisch aufgegleiste Integrations-Konzept hat den Praxistest nicht bestanden und ist finanziell ein Fass ohne Boden.

Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsschwächen oder kognitiven Einschränkungen belasten eine Klasse in der Regel weit weniger als Schüler mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten. Wo einzelne Schüler hingegen immer wieder den Unterricht durch ihr auffälliges Verhalten massiv stören, wird konzentriertes Arbeiten in der Klasse stark beeinträchtigt. Lehrpersonen beklagen sich zu Recht, dass sie in diesen Fällen zu viel pädagogische Energie auf Einzelne aufwenden müssen. Die versprochene Unterstützung durch Fachkräfte ist meist ungenügend, da die Heilpädagoginnen nur wenige Stunden in den ihnen zugeteilten Klassen verbringen können.

Solange Lösungen mit Klein- oder Förderklassen kategorisch abgelehnt werden, wird sich die Diskussion weiter im Kreis drehen.

Die in den Bildungsstäben dogmatische vertretene Ansicht, Kleinklassen seien keine gleichwertigen Alternativen zu einer integrierten Schulung, erschweren pragmatische Lösungen. Die meistgenannte Forderung, die Zahl der Heilpädagoginnen sei massiv zu erhöhen, ist in der aktuellen Personalsituation nicht realistisch und droht finanziell zu einem Fass ohne Boden zu werden. Solange Lösungen mit Klein- oder Förderklassen kategorisch abgelehnt werden, wird sich die Diskussion weiter im Kreis drehen.

Lösungsansatz:

Eine separative Förderung soll gleichberechtigt neben dem aktuellen Integrationsmodell stehen und darf finanziell für die Schulen kein Nachteil sein.

  1. Lehrpersonen sollen primär als Lerncoachs wirken

“Der Frontalunterricht ist abzulösen durch didaktische Konzepte, in welchen die Lehrpersonen als Lerncoachs die Jugendlichen begleiten.”

Bildungsversprechen:

Moderne Lernkonzepte basieren auf Lernlandschaften und digitalen Lernprogrammen, die ein weitgehend selbständiges Lernen mit unterschiedlichen Bildungszielen ermöglichen. Digitale Programme vereinfachen die Organisation eines stark individualisierten Unterrichts und entlasten die Lehrpersonen im Bereich des Sprach- und Rechentrainings.

In didaktisch anregenden Lernlandschaften sollen die Jugendlichen in individuellem Lerntempo selbständig Wege finden, um wichtige Bildungsziele zu erreichen. Dabei stehen ihnen die Lehrpersonen als kompetente Begleitpersonen zur Seite. Frontalunterricht kann den individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen kaum gerecht und soll deshalb stark eingeschränkt werden.

Bilanz:  Die generelle Verunglimpfung des Frontalunterrichts durch führende didaktische Zentren war ein Rohrkrepierer.

Wissenschaftlich ist die Abwertung der direkten Instruktion (genannt Frontalunterricht) in keiner Weise haltbar. Die Erwartung, Lehrkräfte könnten in der Funktion als unterstützende Lernbegleiter von Jugendlichen weit mehr bewirken als bei gemeinsamen Einführungen im Klassenverband, hat sich als illusorisch erwiesen. Spätestens seit der bekannten Hattie-Studie weiss man, dass ein von einer kompetenten Lehrkraft geführter gemeinsamer Unterricht sehr effizient sein kann.

Für die meisten Schüler ist eine sorgfältige direkte Instruktion in Verbund mit angeleiteten gemeinsamen Übungsphasen von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg.

Zu viele Jugendliche scheitern am Anspruch eines zielgerichteten eigenverantwortlichen Lernens, da sie noch nicht über die dazu notwendige Selbstdisziplin verfügen. Für die meisten Schüler ist eine sorgfältige direkte Instruktion in Verbund mit angeleiteten gemeinsamen Übungsphasen von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg. Lehrpersonen müssen frei entscheiden können, welche Lernformen in bestimmen Situationen am geeignetsten sind. Leider haben Druckversuche im methodischen Bereich in den letzten Jahren zugenommen und eine erhebliche Unsicherheit in Lehrerkreisen ausgelöst. So wurde mit dem favorisierten neuen Rollenbild und detaillierten methodischen Vorgaben die pädagogische Gestaltungsfreiheit der Lehrpersonen zum Schaden der Volksschule erheblich beeinträchtigt.

Lösungsansatz:

Lehrpersonen benötigen Rückenstärkung durch eine volle Garantie der Methodenfreiheit und dürfen nicht in die Rolle des Lerncoachs gedrängt werden.

 

Versuch einer Gesamtbilanz der Reformen

Die mit hohen Erwartungen verknüpften fünf grossen Reformvorhaben wurden ihrem Anspruch, einen entscheidenden Schritt vorwärts zur Schulentwicklung zu leisten, nicht oder höchstens teilweise gerecht. Zu vieles wurde gross angekündigt, aber nur wenig davon erreicht. Zwar gibt es zu dieser Aussage wenig konkrete Daten, die direkte Auswirkungen der fünf Reformen auf die Schulleistungen belegen könnten. Aber entsprechende Befragungen der Lehrerverbände bei ihren Mitgliedern lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die grossen Reformbaustellen sind bestens bekannt und führen im Schulalltag immer wieder zu heftigen Diskussionen über die getroffenen bildungspolitischen Zielsetzungen.

Zu vieles wurde gross angekündigt, aber nur wenig davon erreicht.

 

Bedenklich an der ganzen Sache ist, dass die EDK bisher keinen ihrer grossen Reformschritte einer systematischen Überprüfung unterstellt hat. Einige der Reformen liegen schon ein paar Jahre zurück, so dass eine gründliche Bilanz längst hätte erwartet werden können. Zwar gibt es Lernstandserhebungen in mehreren Fächern, die gewisse Rückschlüsse auf die Wirkung der Reformvorhaben ermöglichen. Aber die Reformen an und für sich waren nie Gegenstand einer gründlichen Analyse, wie man dies bei einem wissenschaftlich begleiteten Grossprojekt erwarten könnte. Besonders umstrittene Reformen wie das Dreisprachenkonzept der Primarschule oder die schulische Integration wurden von der EDK gar wie Tabuzonen behandelt. Statt sich einer offenen Diskussion zu stellen, verteidigte man sich unter Zuhilfenahme starrer Dogmen oder übte recht massiven politischen Druck aus.

Die Schulqualität kann nur gefördert werden, wenn die Bilanz der eingeleiteten Reformen positiv ausfällt.

Die vorliegende Bilanz ist in keiner Weise ein Versuch, das Rad der Geschichte in der Pädagogik zurückzudrehen. Unsere Volksschule muss sich den aktuellen Herausforderungen stellen und sich weiterentwickeln. Aber die Schulqualität kann nur gefördert werden, wenn die Bilanz der eingeleiteten Reformen positiv ausfällt. Ist diese zwiespältig oder gar negativ, besteht berechtigter Grund zur Sorge, dass unsere nach wie vor erstaunlich robuste Volksschule ernsthaften Schaden nimmt. Um dies zu verhindern, braucht es jetzt eine gründliche Analyse der Schulentwicklung der letzten 25 Jahre und eine stärker an der Schulpraxis orientierte Bildungspolitik.

 

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