Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 30 Sep 2023 09:56:07 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Rund 90 Prozent aus Familien ausländischer Herkunft – alle schaffen den Abschluss https://condorcet.ch/2023/09/rund-90-prozent-aus-familien-auslaendischer-herkunft-alle-schaffen-den-abschluss/ https://condorcet.ch/2023/09/rund-90-prozent-aus-familien-auslaendischer-herkunft-alle-schaffen-den-abschluss/#respond Sat, 30 Sep 2023 09:56:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=15048

Einer privaten Sekundarschule in Berlin-Wedding gelingt das, woran die staatlichen Nachbarschulen scheitern: Sie bringt alle Jugendlichen zu einem Abschluss – egal, wie wenig Deutsch sie anfangs können oder wie wenig sie in der Grundschule gelernt haben. Was ist ihr Erfolgsrezept? Ein Bericht der Journalistin Freia Peters, der in der WELT erschienen ist.

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Die Jugendlichen, die an diesem Morgen in das unscheinbare Schulgebäude in Berlin-Wedding schlendern, sind nicht anders als die in der Nachbarschule ein paar Straßen weiter: Rund 90 Prozent der Schüler stammen aus Familien nicht-deutscher Herkunft. Ebenso viele sind lernmittelbefreit, sie müssen also keine Zuzahlung für Schulbücher leisten, weil ihre Eltern Arbeitslosengeld, Wohngeld oder weitere Sozialtransfers beziehen.

Gastautorin Freia Peters

Und doch blicken die Schüler der Privatschule im Gewerbegebiet gegenüber der Senffabrik einer etwas rosigeren Zukunft entgegen: Sie haben eine bessere Chance auf einen anerkannten Schulabschluss.

Alle Zehntklässler haben im vergangenen Sommer unsere Schule mit einem Abschluss verlassen“, sagt Schulleiter und Quereinsteiger Pantelis Pavlakidis, 37 Jahre alt. Seit fünf Jahren leitet er die freie Quinoa-Schule, die mehr Chancengleichheit bieten will und damit sehr erfolgreich ist.

An den anderen Sekundarschulen in Berlin-Mitte verfehlten im vergangenen Jahr neun Prozent den untersten Abschluss Berufsbildungsreife. Weit mehr als die Hälfte der Schüler hingegen schaffte sogar den mittleren Schulabschluss auf der Quinoa-Schule. Die ist benannt nach der Pflanze, die auch auf kargem Boden gedeiht.

Gute Beziehung zum Lehrer schafft Lernmotivation

Damit die Leistung der Schüler wächst, so der Leitgedanke der Schule, brauchen sie vor allem eine gute Beziehung zum Lehrer. „Je besser diese ist, desto stärker steigt die Leistung. Denn Bindung schafft Lernmotivation“, erklärt Pavlakidis. „Und die Tragfähigkeit der Beziehung verpflichtet auch dazu, sein Bestes zu geben.“ Also hat jeder der 170 Schüler einen Tutor aus dem pädagogischen Team aus Lehrern, Sonderpädagogen und Lerntherapeuten. Die jeweilige Lehrkraft nimmt sich mindestens alle zwei Wochen Zeit und spricht mit seinem Mentor-Schüler: Wie läuft es?

Schulleiter Pantelis Pavlakidis (Bild: Martin U.K. Lengemann/WELT)

Den Lehrern ist das möglich, weil der Bindungsaufbau als Arbeitszeit anerkannt wird – dafür müssen sie weniger unterrichten, bekommen aber auch weniger Gehalt. „Zudem haben wir hier flache Hierarchien und ein sehr kollegiales Klima.“ Das scheint vielen Lehrern wichtiger zu sein als das Gehalt: Wenn Pavlakidis eine freie Stelle zu besetzen hat, kann er sich den besten Kollegen aus mehreren Bewerbungen herausfischen – und das, obwohl für das Schulbudget ständig aufs Neue geworben werden muss: 75 Prozent deckt der Berliner Senat; für den Rest müssen Spenden akquiriert werden.

„Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Lerntherapeutin Stefanie Böjty-Ohler

 

Lerntherapeutin Stefanie Böjty-Ohler nimmt all das gerne in Kauf. „Ich habe in den vergangenen Jahren einen guten Einblick in die türkische und arabische Kultur bekommen“, sagt sie. Lange habe sie in einem gut situierten Viertel gearbeitet, viel mit Eltern zu tun gehabt, die ihrem Kind trotz Lese-Rechtschreib-Schwäche unbedingt die dritte Fremdsprache beibringen wollten. An der neuen Schule ergebe ihre Arbeit mehr Sinn. Sie lerne die Familien kennen, besuche ihre Schüler zu Hause. „Die Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf mich und unsere Gespräche“, erzählt sie. „Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Dahin zu kommen sei keine einfache Aufgabe. „Wenn die Schüler in der siebten Klasse zu uns kommen, sind bei einem Großteil der Schüler – circa 80 Prozent – die Rechtschreibleistung und Lesekompetenz unterdurchschnittlich“, sagt Böjty-Ohler, „und was wir dann oft zu hören bekommen ist: ‚Ich kann das eh nicht, ich bin dumm‘. Meine Aufgabe ist es dann erst mal, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken und zu bekräftigen: Du schaffst das! Wir schaffen das!“

Erst mal flüssig lesen – auch mit Lücken

Böjty-Ohler steigt die Treppe hinauf, hinein in den Klassenraum, in dem der Grundkurs Deutsch der neunten Klasse stattfindet. Die Jugendlichen sind 14, 15 Jahre alt. An den Tischen sitzen vier Mädchen und acht Jungen – halt, sieben Jungen, der achte ist der Lehrer: Tamer Cinar ist Referendar – sehr jung, schwarzes Jackett, Silberkette, die Haare am Hinterkopf abrasiert.

Gemeinsam lesen sie das Buch „Sonne und Beton“ über Jugendliche in Berlin-Neukölln, die abhängen, kiffen und in ihrer Schule die neuen Computer klauen wollen.

Referendar Tamer Cinar (M.) – Bild: Martin U. K. Lengemann/WELT

Die Schüler (Namen im Folgenden geändert) lesen nacheinander laut ein Kapitel des Buches vor. Kemal spricht leise, während er seinen Kopf in der Schulter vergräbt. Laila liest stockend weiter. Referendar Cinar unterbricht nicht, wenn sie einen Artikel oder das Verb weglässt; oder wenn sie „Computers“ sagt statt „Computer“.

Später wird Cinar erklären, dass er die Schüler nicht korrigiere, weil das primäre Ziel sei, mit ihnen das flüssige Lesen zu üben – was nicht möglich wäre, wenn er dauernd unterbrechen würde. Die „Sprachbooster“ kommen später im Schuljahr.

Vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten

Cinar ist Referendar kurz vor seinem zweiten Staatsexamen. Einen Teil seiner Ausbildung macht er an der Quinoa-Schule in Berlin-Wedding, einen anderen am altsprachlichen Canisius-Kolleg in freier Trägerschaft des Jesuitenordens. So begegnet er der vollen Bandbreite der Berliner Schüler – vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten. Ein Mädchen aus der Klasse habe nach der Flucht aus Aleppo drei Jahre lang nicht gesprochen. Seit Kurzem antworte sie, wenn Cinar ihr eine Frage stelle, erzählt er. „Solche Erfolgsmomente geben mir einen großen Motivationsschub.“

Anschließend sollen die Schüler einen Lückentext ausfüllen. Die Schüler sollen die Rolle des Anstifters unter den Schülern in der Geschichte herausarbeiten, er heißt Sanchez. „War es Sanchez‘ Idee, die Computer zu klauen?“, hakt Böjty-Ohler nach. „Ich hab das nicht verstanden“, sagt Larissa. „Wer ist Sanchez noch mal?“

Böjty-Ohler: „Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“

Auch hier sollen die Anforderungen nicht hoch gehängt werden. Es reicht, wenn die Schüler auf die Frage nach dem Standpunkt von Sanchez „war dafür“ hinschreiben. Es muss kein ganzer Satz sein. In der Prüfung zur Berufsbildungsreife ist es vor allem wichtig, dass die Schüler den Text verstanden haben.

„Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“, sagt Böjty-Ohler nach der Stunde. „Die Baustellen sind so riesig, da muss man priorisieren.“ Wenn man nur früher ansetzen könnte, nicht erst mit zwölf Jahren. „Es wäre besser, wir hätten sie schon ab Klasse fünf“, findet auch Schulleiter Pavlakidis.

Auch Eltern müssen an ihre Verantwortung erinnert werden

Berlin und Brandenburg sind die einzigen Bundesländer, in denen die Grundschule sechs Jahre dauert, daran hat sich seit der Nachkriegszeit nichts geändert. Vor allem grüne Bildungsexperten sind nach wie vor von der späten Trennung der Kinder überzeugt, sie vermindere die sozialen Ungleichheiten. Doch bei den Lesefähigkeiten der Grundschüler rangiert Berlin stets auf den hintersten Plätzen.

„Gezielte Förderung nach der fünften Klasse – vor allem im sprachlichen Bereich – würde vielen Schülern einen besseren Abschluss ermöglichen“, resümiert Pavlakidis.

Die Quinoa-Schule in Berlin-Wedding
(Bild:: Martin U. K. Lengemann/WELT)

Auch viele Eltern müssten eher an ihre Verantwortung erinnert werden. „Können Sie mal eine Regel machen, dass die Kinder mit Rucksack in die Schule gehen sollen?“, bat jüngst eine Mutter auf der Elternversammlung. „Meine geht immer nur mit einem kleinen Täschchen los.“ Eine andere Mutter erwiderte: „Aber das ist doch eigentlich Ihre Verantwortung.“

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“

Ehemalige Schülerin der Quinoa-Schule

 

„Da muss ich zustimmen“, sagte Pavlakidis, nachdem er diese Anekdote erzählt hat. Sie zeige, wie wichtig es sei, die Eltern in die Schularbeit einzubeziehen. „Wir versuchen, den Schüler nicht nur als jungen Menschen zu sehen, dem wir etwas beibringen wollen, sondern auch als Kind seiner Eltern, eben mit all dem, was seine Biografie ausmacht“, sagt Pavlakidis. Der Erfolg gibt ihm recht.

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“ Mit diesem Satz einer ehemaligen Schülerin wirbt die Schule auf ihrer Website. Sie macht demnach gerade ihr Abitur. Ihr Berufswunsch: Neurochirurgin.

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Die Bevölkerung hat dies schon längst verstanden https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/ https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/#comments Fri, 29 Sep 2023 10:29:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=15037

Ein breit abgestütztes Komitee aus Mitte, FDP, GLP und Bildungsexperten möchte in den Zürcher Gemeinden bei Bedarf wieder Kleinklassen, also Förderklassen für Schüler mit besonderen Bedürfnissen, einführen. Yasmine Bourgeois, Schulleiterin, Condorcet-Autorin und FDP-Gemeinderätin in Zürich hat vergangene Woche mit zahlreichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Initiative für die Wiedereinführung von Kleinklassen lanciert. Alain Pichard hat mit ihr gesprochen.

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Condorcet

Frau Bourgeois, die Initiative lässt es den Gemeinden offen, wieder Förderklassen einzuführen. Sie verpflichtet sie aber, diese bei Bedarf zur Verfügung zu stellen. Wer entscheidet über den Bedarf?

Yasmine Bourgeois, Zürich, Primarlehrerin, Schulleiterin, Gemeinderätin FDP und Mitinitiantin der Volksinitiative: Der Gegenwind stärkt die Flügel.

Yasmine Bourgeois

Das ist in der Regel die Schulpflege. Sie ist vor Ort und kennt die Verhältnisse, da sie mit Schulleitung und Lehrkräften laufend direkt in Verbindung steht.

Mit anderen Worten, die Gemeinden können auch auf die Einführung der Förderklassen verzichten?

Wenn kein Bedarf herrscht, ist das so. Die Initiative will den Entscheid den Leuten an Ort überlassen und respektiert die Gemeindeautonomie. Wenn aber ein Bedürfnis besteht, muss sie es tun.

Und was passiert, wenn die Förderklasse zwar eröffnet wird, die Eltern aber auf der integrierten Schulung bestehen?

Man kann die Eltern nicht zwingen. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Widerstände im direkten Gespräch lösen lassen werden. Die Förderklasse ist ja nicht nur als Entlastung für die Regelklassen und deren Lehrpersonal gedacht, sondern sie berücksichtigt vor allem auch die spezifischen Bedürfnisse der betroffenen Kinder.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben.

Alain Pichard, Condorcet-Autor, führte das Gespräch.

Glauben Sie? Sie werden doch stigmatisiert, wenn sie in Förderklassen abgeschoben werden.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben. Die Kinder erhalten eine angepasste Förderung, werden von Heilpädagogen unterrichtet und können verlässliche Beziehungen aufbauen. In vielen inkludierten Schulen erfahren die schwächeren und die verhaltensauffälligen Kinder eine alltägliche Stigmatisierung, was häufig auch der Grund für eine verstärkte Verhaltensauffälligkeit ist.

In der gegenwärtigen Debatte geht es ständig um die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen. Sie verunmöglichen teilweise einen Unterricht und bringen die Lehrpersonen an den Rand der Belastbarkeit. Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte es aber auch Kleinklassen für die schwächeren Schüler geben.

Ja, das ist meine Überzeugung. Denn grundsätzlich müssen die Kinder in der Schule optimal gefördert werden, also ihr Leistungsvermögen ausschöpfen können. Die Gefahr bei diesen Kindern, die sich oft sehr brav und unauffällig benehmen, ist, dass sie untergehen, weil die Lehrkraft viel zu wenig Zeit hat, sich ausgiebig um sie zu kümmern.

Verhaltensauffällige und schwache Kinder in eine einzige Kleinklasse zu versetzen, kann ja auch nicht die Lösung sein. Die schwächeren, aber willigen Kinder drohen unter die Räder zu kommen.

Diese Gefahr besteht immer, ist aber in der Regelklasse viel ausgeprägter. Die Initiative überlässt es den Behörden, hier die praktikablen Lösungen zu finden. Aber vergessen Sie nicht, diese zukünftigen Förderklassen werden von Heilpädagogen geführt, also von Profis, die genau für diese Situationen ausgebildet sind.

Im Prinzip haben wir im Kanton Bern dieses Modell, das Sie in Zürich einführen wollen, schon längstens. Die linke Stadt Biel zum Beispiel hat Kleinklassen und niemand in dieser Stadt will sie abschaffen. Warum tut man sich in Zürich so schwer mit diesem Anliegen?

Viele Lehrkräfte sowie ein Grossteil der Eltern – kurz ein grosser Teil der Bevölkerung – haben schon längstens eingesehen, dass die Verabsolutierung des Inklusionsgedanken ein Irrweg ist. Es ist diese Allianz von einem Teil der Wissenschaft, Politik und Verwaltung, die das noch nicht einsehen und handeln will.

Warum nicht?

Niemand gibt gerne zu, dass er sich geirrt hat…

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll.

Immerhin zitieren die Leute dieser Allianz oft die Wissenschaft, nach der es klar sei, dass Inklusion nicht nur humanistisch eine gute Sache sei, sondern auch funktioniere.

Da muss ich Ihnen widersprechen. Erstens ist es nicht die Wissenschaft, sondern ein Teil der Studien, von mir aus auch eine Mehrheit, die zu diesen Befunden kommt. Ich empfehle Ihnen einmal die dänische Studie von Nina T. Dalgaard: «Die Auswirkungen der Inklusion auf

Nina Dalgaard, Bildungsforscherin Universität Kopenhagen.

schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen». Der Befund dieser Metastudie ist – ich zitiere: «Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll. Oft sind in den Studien auch Gelingensbedingungen formuliert, die nie diskutiert werden und die Forschungen sind meisten nicht „peer reviewed“, also von einer unabhängigen Fachinstanz eines Wissenschaftsmagazins überprüft. Und noch etwas: Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen. Ich halte mich da an die Praxis, den Alltag, und den erlebe ich selbst als Schulleiterin.

Sie sind Mitglied der FDP und als Schulleiterin in der links-dominierten Zürcher-Schullandschaft fast noch seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen. Wie politisiert es sich aus dieser Minderheitsposition?

Man könnte mit einem ergänzenden Bild antworten. Der Gegenwind stärkt die Flügel. Man benötigt schon etwas dicke Haut Damit muss ich leben.

Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor:
Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor: Lernten uns durch den Condorcet-Blog kennen.

Schulleiterin, Mitglied des Gemeinderats, Initiantin einer Volksinitiative und Nationalratskandidatin der FDP… ist das nicht ein wenig viel?

Ja, das stimmt… Ab und zu ist die Belastung enorm. Ich habe ein gutes Umfeld und bin belastbar. Das hilft…

Sie sind Condorcet-Autorin, hilft Ihnen unser Bildungsblog auch?

Er liefert mir wertvolle Informationen und auch Kontakte. Den Heilpädagogen Bonfranchi, der bei unserer Initiative mitwirkt, oder den ehemaligen SP-Präsidenten in Basel, Roland Stark, der in Basel eine ähnliche Initiative lanciert und erfolgreich eingereicht hat, habe ich in Ihrem Blog kennengelernt. Und ja, das muss ich auch feststellen: Im Condorcet-Blog kommen beide Seiten zu Wort. Man erhält auch Gegeninformationen, was die Diskursfähigkeit stärkt.

Frau Bourgeois, wir danken Ihnen für das Gespräch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Wenn private Lernstudios boomen https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/ https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/#comments Tue, 26 Sep 2023 08:17:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15029

Die Bildungspolitik will es nicht wahrhaben: Die öffentliche Schule hat sich zu viel zugemutet. Für manche Kinder kommt sie ihrer ureigenen Aufgabe nicht nach; sie wird ihnen schlicht nicht gerecht. Die Folge: Private springen in die Lücke. Das gefährdet die Chancengleichheit, schreibt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Die Stimmen häufen sich: Lehrerinnen und Lehrer wie Eltern klagen über den aktuellen Zustand der Volksschule. Wie und wo der Schuh drückt – und zwar intensiv –, das zeigte sich bei einem öffentlichen Podium «Lehrerinnen- und Lehrermangel» in Schwyz.[1] Das Interesse war gross und die Debatte intensiv. In der engagierten Diskussion fielen deutliche und klare Voten: zu wenig Zeit für die elementaren Basisfächer Deutsch und Rechnen, kaum mehr Raum zum Üben und Korrigieren, zu viel Unruhe im Schulzimmer als Folge der verstärkten Integration.[2] Dazu kommen zeitraubende Koordinationsaufgaben für die Zusatzkräfte im Unterricht und viel zu viel Bürokratie wegen der vielen Vorgaben und Vorschriften. Ob Schwyz überall ist, lässt sich nicht sagen. Aber eines wurde deutlich: Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig: Sie entgrenzt sich inhaltlich. Der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer drückt es so aus: «Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.»[3] Und die Menetekel mehren sich.

Carl Bossard,ehem. Direktor der PH-Innerschweiz: Die Schule hat sich zuviel zugemutet.

Boomende private Lerninstitute

Wer als Eltern diesen Risiken ausweichen will, sucht für seine Kinder heute nicht selten einen externen Lerncoach. Aufgabenhilfe und Zusatzunterricht boomen – vor allem in den städtischen Gebieten.[4] Auch in ländlichen Regionen wachsen die Angebote, zeitlich allerdings etwas verzögert. Das Lern- und Coachingcenter «fit4school» beispielsweise bietet schulergänzende Lernunterstützung und Nachhilfe an 27 Orten der Schweiz an. Die Nachfrage ist gross. In der Stadt Bern verdoppelten sich die Anmeldezahlen seit dem Start im April dieses Jahres im Monatstakt.

Warum dieser Boom? Lernforscherinnen und Bildungsfachleute diagnostizieren, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Hier liegt mit ein Grund für diesen exponentiellen Anstieg schulexterner Anbieter. Und noch etwas zeigt sich: Wenn Schülerinnen und Schüler diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht.

Die Chancengleichheit ist gefährdet

Diese Zahlen sind öffentlich: Doch niemand aus der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung hält dagegen. So etwas verwundert und ärgert zugleich. Das verstösst gegen ein elementares Prinzip unserer Gesellschaft: die Chancengleichheit! Hier liegt das Problem. Es ist ein systemisches Problem. Eine solche Situation dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Fakten aber sprechen eine andere Sprache.

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache».

Die Schule hat sich inhaltlich entgrenzt

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache». Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Fürs notwendige Üben und Automatisieren bleibt kaum Zeit. Unfertiges wird so zum Dauerzustand.

Mit andern Worten: Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Das wissen wir aus der Forschung. Das Viele reduziert die systematische Übungszeit. Um etwas ins Langzeitgedächtnis zu bringen und zu automatisieren, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens. Wiederholen, Vertiefen und Anwenden sind für einen lernwirksamen Unterricht unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies, kohärentes Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren. Diese Zeit fehlt oft.

Eltern wollen nicht als Bildungsverlierer dastehen

Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig und das Erarbeitete bleibt an der Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste sind in erster Linie Zukunftsängste.[5] Darum erwarten sie für ihr Kind eine solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.

Das trägt mit zum Boom privater Lerninstitute bei. Gratis sind diese Zusatzkurse und Nachhilfestunden nicht. Eltern greifen zum Teil tief in die Taschen. Doch dieses Zusätzliche können sich nicht alle leisten. Das widerspricht der Idee der gemeinsamen Volksschule und gefährdet die Chancengleichheit nicht nur unter Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter den verschiedenen Familien.

Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.

Private Bildung als lukratives Geschäftsmodell

Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig bleiben. Nur das verhindert den leisen Exodus von Kindern in die Privatschule und den weiteren Anstieg schulexterner Lernhilfen. Not tut eine Rückkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen, eine Besinnung auf den Kernauftrag der Schule. Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit. Mit genau diesen Attributen aber werben private Anbieter. Und sie stossen bei vielen Eltern auf offene Ohren. Private Bildung wird heute zu einem interessanten Investitionsfeld und darum auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell.

Die Signale ernst nehmen

Bildungspolitik und Bildungsverwaltung stehen in der Pflicht. Lange, allzu lange haben sie über die Sorgen und Nöte der Lehrpersonen im pädagogischen Alltag hinweggesehen. Boomende Lerninstitute sind ein deutliches Warnsignal. Das Portemonnaie darf nicht über die Bildung der Kinder entscheiden. Zu hoffen ist, dass die Bildungskarawane nicht einfach weiterzieht und die Stimmen der Basis negiert. Leidtragende sind die Kinder.

 

[1] «Der Zustand der Volksschule wurde stark kritisiert», in: Bote der Urschweiz, 08.09.2023, S. 8.

[2] Vgl. den aufrüttelnden Bericht: https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/integrative-schule—lehrpersonen-stossen-an-ihre-grenzen?urn=urn:srf:video:5c09dab8-dbfa-4ca4-ad94-23406ab704e4

[3] Sebastian Briellmann, Conradin Cramer zur integrativen Schule: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell», in: Basler Zeitung, 19.09.2023

[4] Mirjam Comtesse, Überforderte Jugendliche. Eltern schicken ihre Kids zum Lerncoach, in: Berner Zeitung, 20.09.2023.

[5] Heinz Bude (2011), Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Carl Hanser Verlag, S. 97.

 

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Wie überzeuge ich eine Lehrkraft vom Austritt aus der Gewerkschaft? https://condorcet.ch/2023/09/wie-ueberzeuge-ich-eine-lehrkraft-vom-austritt-aus-der-gewerkschaft/ https://condorcet.ch/2023/09/wie-ueberzeuge-ich-eine-lehrkraft-vom-austritt-aus-der-gewerkschaft/#respond Tue, 26 Sep 2023 07:38:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=14992

Peter Greene hat heute einen ausgezeichneten Beitrag über die politischen Kräfte veröffentlicht, die die Lehrergewerkschaften abschaffen wollen. Einige hassen die Gewerkschaften, weil sie den Arbeitgebern die Freiheit nehmen, ihre Angestellten einem konstanten Lohndruck auszusetzen. Andere hassen sie, weil sie demokratische Kandidaten finanzieren. Einige wollen nicht, dass die Arbeitnehmer eine Stimme haben. Peter Greene, Autor im Diane Ravitch-Blog, ist ein engagierter Gewerkschafter und Lehrer, mit einer pointierten linken Haltung. Er schrieb schon oft für unseren Blog.

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Wenn es irgendetwas Wahres an Lehrern in Gewerkschaften gibt, dann ist es, dass einige Leute wünschen, dass Lehrkräfte grundsätzlich nicht in Gewerkschaften organisiert sein sollten. Dieser Tage kursieren solche Ideen wieder einmal in einigen republikanisch dominierten Staaten. Aber wenn man sich einige der Akteure in diesem gewerkschaftsfeindlichen Raum ansieht, sollte man sich schnell wieder an den Tag der Arbeit und seine Geschichte erinnern.

Gastautor Peter Greene, Lehrer, Autor des Diane Ravitch-Blog

In einigen Staaten besteht die Taktik darin, die Gewerkschaften einfach zu entmachten, so dass sie A) nichts mehr ausrichten können und B) die Lehrer sie verlassen, weil sie nichts mehr ausrichten können.

In anderen Staaten besteht die Taktik darin, den Lehrern die Idee des Ausstiegs direkt schmackhaft zu machen. Wir haben eine Vielzahl dieser Methoden gesehen, die ich Ihnen hier kurz zusammenfassen möchte.

Verlasse deine böse Gewerkschaft!

Zu den ersten Anbietern gehörte Free To Teach, ein Unternehmen der Americans for Fair Treatment, einer Tarnorganisation der rechtsgerichteten Commonwealth Foundation in Pennsylvania.

Da ist die Freedom Foundation, die einmal damit prahlte, dass sie “einen bewährten Plan für den Bankrott und die Niederlage der Regierungsgewerkschaften durch Bildung, Rechtsstreitigkeiten, Gesetzgebung und Gemeindeaktivierung hat (…) wir werden uns mit nichts zufrieden geben, was nicht den totalen Sieg gegen die Regierungsgewerkschaftsschurken bedeutet.” Die Freedom Foundation wurde von der Bradley Foundation, der Koch Foundation und dem Searle Freedom Trust gegründet.

Dann gibt es noch die Organisation Speak Out For Teachers, die vom Center for Union Facts ins Leben gerufen wurde, einer gewerkschaftsfeindlichen Gruppe, die Teil der Konstellation von Schwarzgeldgruppen unter der Leitung von Richard Berman war, der seit langem ein entschiedener Kämpfer gegen die Gewerkschaften ist.

Rebecca Friedrichs formuliert einen ganzen Leitfaden darüber, wie man einen Lehrer zum Austritt aus der Gewerkschaft überreden kann.

Da ist For Kids and Country, das Unternehmen der ehemaligen Lehrerin Rebecca Friedrichs, die vor fast einem Jahrzehnt das Gesicht einer großen gewerkschaftsfeindlichen Klage war und seitdem eine Karriere als Talkmasterin bei Fox-Breitbart gestartet hat. Sie formuliert einen ganzen Leitfaden darüber, wie man einen Lehrer zum Austritt aus der Gewerkschaft überreden kann.

Oder es gibt My Pay My Say, die “Willst du nicht aus der Gewerkschaft austreten”-Initiative des Mackinac Center for Public Policy, einer rechten Pressure Group mit Sitz in Michigan, die erwartungsgemäss mit einem Haufen DeVos-Geldern sowie mit Walton-, Koch- und Schwarzgeld finanziert wird.

Unverblümte Ziele

Die Janus-Entscheidung, die das Recht von Lehrern erfand, Trittbrettfahrer in Gewerkschaften zu sein und Leistungen zu erhalten, aber keine Beiträge zu zahlen, hat viele dieser Gruppen auf den Plan gerufen. Sie argumentieren, dass Lehrer keine Gewerkschaftsbeiträge mehr zahlen sollten, weil sie dann mehr Geld bekämen (Spoiler-Alarm: keine dieser Gruppen oder ihre Unterstützer haben sich jemals für höhere Lehrergehälter eingesetzt).

Es gibt auch gewerkschaftsfeindliche Lehrkräfte, die Argumente wie “Ich könnte einen besseren Vertrag für mich selbst aushandeln, wenn ich nicht an diese Gewerkschaft gebunden wäre” vorbringen, und die sind einfach nur naiv. Man sollte ihnen auch nichts vom Weihnachtsmann erzählen. Die Gewerkschaftsgegner lieben es, diese Leute anzufeuern, und vielleicht können sie sogar den Lehrerberuf für einen bequemen Job in einem Büro verlassen.

Die Überlegung: Gibt es die Gewerkschaften nicht mehr, gibt es auch keine Unterstützung der Demokraten.

Es gibt allerdings auch unverblümte Ziele, die Gewerkschaften gründlich in Frage zu stellen. Denn die Lehrergewerkschaften gelten als stramme Verbündete der Demokraten. Und sie sind finanzstark. Die Überlegung: Gibt es die Gewerkschaften nicht mehr, gibt es auch keine Unterstützung der Demokraten. Und, als Bonus, entmachtet man die Gewerkschaften, und die Lehrer werden nicht mehr so selbstbewusst für anständige Verträge und Arbeitsbedingungen kämpfen.

Verheerende Bildungspolitik der Demokraten

Es sind mehrheitlich nur realitätsferne Gedankenspiele, trotz der erstaunlichen Resonanz, die sie an einigen Orten erzielen. Für sie sind die öffentlichen Schulen eine Geldmaschine: Lehrkräfte erhalten Geld und leiten es an ihre Verbündeten, die Demokraten und Liberalen. Im Gegenzug – so die Erzählung, können die Lehrer und Lehrerinnen des Landes „faul auf der Haut liegen und müssen keine Leistung zeigen. “Lehrer” hätten einen Scheinjob, bei dem sie nicht wirklich versuchen, jemanden zu unterrichten. Natürlich werden sie auch hören, dass die Gewerkschaftsführer “korrupt” sind, und dann ist es nicht mehr weit bis zur Wahlmanipulationstheorie der Trump-Anhänger.

Ein anderer Flügel dieser gewerkschaftsfeindlichen Bestrebungen sind die Anti-Gewerkschaften. Das sind Gruppen, die gegründet wurden, um eine alternative Organisation für Menschen zu bieten, die zwar von den Gewerkschaften enttäuscht sind, aber trotzdem einen Verband im Rücken haben wollen. Vor einem Jahrzehnt entstanden sogenannte Lehrerkollektive, die gegründet wurden, um die Lehrkräfte bei den Common Core und Testbatterien zu unterstützen, denn diese wirken sich bekanntlich auch auf die Finanzierung der Schule aus. Hier wird geschickt eine direkte Hilfe geboten, die auch gerne genommen wird. Und hier sind natürlich die herkömmlichen Gewerkschaften nicht ganz unschuldig, haben sie doch viel zu zaghaft die verheerende Bildungspolitik der Demokraten unterstützt.

Letztendlich sind die Gewerkschaften zwar nicht fehlerlos, aber dennoch für das Check-and-Balance-System unersetzlich.

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Mit der kantonalen Volksinitiative für Förderklassen wird ein heisses Eisen angepackt https://condorcet.ch/2023/09/mit-der-kantonalen-volksinitiative-fuer-foerderklassen-wird-ein-heisses-eisen-angepackt/ https://condorcet.ch/2023/09/mit-der-kantonalen-volksinitiative-fuer-foerderklassen-wird-ein-heisses-eisen-angepackt/#comments Mon, 25 Sep 2023 06:18:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15021

Nun hat auch im Kanton Zürich ein überparteiliches Komitee in Sachen Inklusion die Reissleine gezogen. Eine von FDP und GLP lancierte Volksinitiative verlangt, dass es künftig wieder in allen Gemeinden heilpädagogisch betreute Kleinklassen gibt. Hanspeter Amstutz berichtet.

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Im Kanton Zürich kommt Bewegung in die erstarrte Politik bei der schulischen Integration. Mit einer kantonalen Volksinitiative zur Wiedereinführung von Förderklassen soll für die Schulen eine schon seit Jahren geforderte Entlastung geschaffen werden. Die zunehmenden  Klagen unzähliger Klassenlehrpersonen, die angeordnete Integration stark verhaltensauffälliger Schüler in die Regelklassen erschwere einen geordneten Schulbetrieb massiv, sind nicht mehr zu überhören. Auch Eltern reklamieren, dass das Störpotenzial einzelner Schüler konzentriertes Arbeiten der Lernwilligen in manchen Klassen beeinträchtige. Kaum Kritik gibt es hingegen gegenüber Kindern,
die durch eine geistige oder körperliche Behinderung den Regelklassen zugeteilt wurden. Hier besteht vielmehr die Schwierigkeit, dass diese Kinder im Rahmen eines normalen Schulprogramms in vielen Fällen nicht ausreichend gefördert werden können. Klassenlehrkräfte fühlen sich
überfordert, wenn sie einen sehr hohen Betreuungsaufwand für einzelne Kinder leisten und gleichzeitig anspruchsvolle Unterrichtsziele erreichen müssen.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Nach 17 Jahren des Experimentierens braucht es endlich praktikable Lösungen.

Seit der Einführung des neuen Volksschulgesetzes gilt das Dogma der Integration aller Kinder in die Regelklassen. Keine Schülerin und kein Schüler sollte durch separate Schulung ausgegrenzt und für den weiteren Lebensweg stigmatisiert werden. Was theoretisch gut tönt, hat sich allerdings in der Praxis als kaum zu bewältigende Aufgabe herausgestellt. Eigentlich müssten den Klassenlehrpersonen für die schulische Förderung integrierter Kinder gut ausgebildete Heilpädagoginnen zur Seite stehen. Doch die von Klasse zu Klasse eilenden Spezialistinnen sind oft nicht da, wenn es zu Wutausbrüchen oder Lernblockaden bei den Verhaltensauffälligen kommt. Es zeigt sich, dass das Modell der Totalintegration in stärker belasteten Klassen nicht funktioniert und die Lehrpersonen im Stich gelassen werden.
Die Initiative packt ein heisses Eisen an, indem sie das unselige Dogma der Verunglimpfung separativer Schulung infrage stellt. Im Volksschulgesetz besteht zwar die Möglichkeit, mit viel administrativem Aufwand eine Kleinklasse zu führen. Doch die Hürden mit psychologischen Abklärungen und finanziellem Mehraufwand sind so hoch, dass gerade noch in zwei Zürcher
Schulgemeinden Kleinklassen geführt werden. Man hat in der Bildungsdirektion und an der Schule für Heilpädagogik seit siebzehn Jahren gezielt darauf hingearbeitet, die Kleinklassen im ganzen Kanton abzuschaffen. Heilpädagoginnen werden für eine therapeutische Einzelbetreuung der Kinder ausgebildet und nicht mehr auf die Führung von Kleinklassen vorbereitet. Doch unterdessen
beklagen sich viele Heilpädagoginnen, dass der verzettelte Einsatz in mehreren Klassen aus pädagogischer Sicht für sie völlig unbefriedigend sei.

Der Scherbenhaufen der Totalintegration ist so gross, dass selbst die einstigen Befürworter des Modells zugeben, es sei zu viel schiefgelaufen.

Nach 17 Jahren des Experimentierens braucht es endlich praktikable Lösungen Der Scherbenhaufen der Totalintegration ist so gross, dass selbst die einstigen Befürworter des Modells zugeben, es sei zu viel schiefgelaufen. Linksstehende Politikerinnen fordern deshalb unisono den Einsatz von noch mehr Heilpädagoginnen in den Regelklassen und zusätzliche finanzielle Mittel. Doch die Forderung ist angesichts des Lehrermangels und des bereits arg strapazierten Budgets für die Sonderpädagogik absolut illusorisch. Auf etwas andere Weise streuen ideologische Verteidiger des Integrationsgedankens den Leuten Sand in die Augen, indem sie von neuen Versuchen mit Lerninseln sprechen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht wieder ein Absolutheitsanspruch für ein bestimmtes Fördermodell propagiert und die praktische Umsetzung einmal mehr verzögert würde.
Die Schulen haben jetzt siebzehn Jahre lang Zeit gehabt, um Integrationsmodelle zu entwickeln. In der Schulpraxis weiss man längst, was gescheitert ist und welche Alternativen zu Kleinklassen unter gewissen schulischen Bedingungen infrage kommen. Die Bildungspolitik hat in der Integrationsfrage versagt und sollte mit dem Verschiessen von weiteren Nebelpetarden endlich aufhören. Will man den Schulen ehrlich unter die Arme greifen, braucht es den Mut zu flexibleren Lösungen. Die Gemeinden sollen den Entscheid zwischen separativen und integrativen Fördermodellen selbst treffen können.

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“Die woke Cancel-Culture lähmt Fortschritt und Entwicklung, schläfert Schüler ein und macht den Lehrberuf madig” https://condorcet.ch/2023/09/die-woke-cancel-culture-laehmt-fortschritt-und-entwicklung-schlaefert-schueler-ein-und-macht-den-lehrberuf-madig/ https://condorcet.ch/2023/09/die-woke-cancel-culture-laehmt-fortschritt-und-entwicklung-schlaefert-schueler-ein-und-macht-den-lehrberuf-madig/#respond Mon, 25 Sep 2023 05:52:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=14996

Ogi-Französisch, Rastalocken und das woke Minenfeld – Betrachtungen eines alten, weissen Mannes. Gerd Dönni unterrichtet seit 1991 am Kollegium Spiritus Sanctus Brig die Fächer Latein, Englisch und Geschichte. Unter seinen ehemaligen Schülern findet sich vom SVP-Nationalrat, Mitte-Fraktionschef des Grossrates bis zum Grünen-Kantonalpräsidenten und der queeren Aktivistin alles. Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen.

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Bundesrat Ogis Französisch: charmant und authentisch, Bundesrätin Amherds Ausführungen in Hochdeutsch: autochthon wie Walliser Weisswein. Und doch freue ich mich als Englischlehrer, dass Joel, geboren und aufgewachsen in Zermatt, mit einem fast perfekten Cockney-Akzent parliert und Sara, aus einem anderen Walliser Seitental mit langem Zufahrtsweg, Amerikanisch mit «blaccent» redet, als lebte sie in der Bronx. Besorgten Eltern sei gesagt, dass Netflix-Serien und Gaming, in Massen konsumiert, erfreuliche Nebenwirkungen haben können.

Das Niveau, das viele Schüler, nicht nur des Kollegiums Brig, gerade im Fach Englisch erreichen, ist phantastisch. Freilich, dürfen Sara und Joel in der politisch korrektelnden Schweiz so klingen? War da nicht einmal ein Konzert, das abgesagt wurde, weil sich Schweizer erdreisteten, Rasta-Locken zu tragen? Ein unerhörtes Vergehen, im Katechismus der Postmoderne als kulturelle Aneignung gebrandmarkt und aufgeführt unter den himmelschreienden Sünden. Somit, Joel und Sara, muss ich als Lehrer eingreifen und euch auf bundesrätliche Aussprache trimmen, da es nicht angeht, dass ihr als privilegierte Schweizer den Akzent unterdrückter Minderheiten annehmt.

Absurd? Klar!

Nun unterrichtet Sara und Joel kein gewokter Jungspund, sondern ein alter, weisser Mann (huch!), ein Relikt aus der Zeit, als man schwarze Tafeln noch mit weisser Kreide beschrieb und sich nichts Politisches dabei dachte – Kreidezeit eben. Auch nach 32 Jahren im Beruf betrete ich mit sehr viel Freude jeden Morgen mein Zimmer (meistens finde ich es), und das an einer tollen Schule, die nicht trotz, sondern wegen 360 Jahren Geschichte und Tradition jung und dynamisch geblieben ist. Die Jugendlichen unseres Kollegiums sind offen, interessiert, verspielt, unbekümmert.

Sollte die Diskussion einmal doch schleppend sein, so brauche ich nur meine stockkonservative Meinung kundzutun, und die Fetzen fliegen – und am Schluss mögen wir uns immer noch und lächeln uns versöhnt an.

Nein, das Kollegium Brig mit dem bescheidenen Namen Spiritus Sanctus ist kein Paradies von Heiligen, auch hier gibt es rotznäsige Leistungsflüchtlinge, maulige Teenager, vorlaute Bengels und freche Gören. Aber gerade dadurch ergeben sich die vielen erfrischenden Debatten der Jugendlichen, geführt in gegenseitigem Respekt, in denen alle Meinungen im gesetzlichen Rahmen gesagt werden dürfen, ohne dass der andere als Mensch niedergeknüppelt wird.

Sie leben vielleicht noch den Geist des heiligen Augustinus, der dazu ermunterte, den Irrtum zu töten, den Irrenden aber zu lieben. Sollte die Diskussion einmal doch schleppend sein, so brauche ich nur meine stockkonservative Meinung kundzutun, und die Fetzen fliegen – und am Schluss mögen wir uns immer noch und lächeln uns versöhnt an.

Umso grösser meine Bedenken, als ich kürzlich in der «NZZ am Sonntag» einen Artikel las über das Lachverhalten von Gymnasiasten an einer Zürcher Schule. Worüber man vor zwanzig Jahren herzhaft prustete, das scheint nun Schockstarre auszulösen. Humor steht unter Generalverdacht, Lachen wird zum Indiz, xenophob, biphob, ableistophob, fatphob, irgendwasphob zu sein.

Lauter Probleme

Zuwanderung, Polarisierung oder Stadt-Land-Graben: Die Schweiz hat verschiedene Herausforderungen zu bewältigen. In einer Artikelserie widmen sich verschiedene Persönlichkeiten – bekannte und weniger bekannte – einem Problem, das es zu lösen gilt.

Die Zwangsjacke schmallippiger Ideologien wurde schon viel zu oft um Jugendliche gezurrt. Bitte keine neue Inquisition im Schulzimmer, sogar wir traditionsbewussten Katholiken haben die Scheiterhaufen abgeschafft. Auch das Stresslevel vieler Lehrpersonen bewegt sich im tiefroten Bereich, insbesondere die Newcomer, an den Unis auf Political Correctness getrimmt, erfahren das Schulzimmer zu oft als Ort gequälten Eiertanzes oder gar als wokes Minenfeld.

Humor steht unter Generalverdacht, Lachen wird zum Indiz, xenophob, biphob, ableistophob, fatphob, irgendwasphob zu sein.

Was darf man überhaupt noch sagen, ohne dass die Übersensiblen den Unerleuchteten umstellen wie eine Meute Wölfe ein Walliser Schaf und die Leserbriefspalten vor Empörung zu dampfen beginnen? Lehrer sein ist, auch und gerade zu Beginn, aufreibend genug. Da braucht es nicht noch Wokeismus als dräuendes Damoklesschwert, das am Gender-Sternchen-Faden über dem Lehrerpult baumelt.

Schule braucht Konsens, Kompromiss, Ausgleich, Verständnis und Wohlwollen (und gut sind wir in der Schweiz damit gefahren), keine giftelnde Gehässigkeit, keine sprungbereite Feindseligkeit, kein schrilles Denunzieren. Entstanden aus edlen Motiven und guten Gründen – Kampf gegen Diskriminierung und Herabsetzung des Anderen –, ist Wokeness zu Wokeismus mutiert, der wie alle Ideologien totalitär, eifernd, intolerant und – das Schlimmste – völlig humorlos ist. Je mehr wir unsere Schüler gängeln und je länger der Index der verbotenen Bücher, Ideen, sogar Wörter wird, umso stickiger, langweiliger, öder und banaler wird das Klima an einer Schule.

Athen hat unsere Kultur geprägt mit Philosophie und Offenheit, nicht Sparta mit Gleichschritt und Zwang. Ja, Amerika ist Stoff für eine Tragikomödie mit einem Irren und einem Senilen als Protagonisten, aber wer möchte nicht lieber dort leben als in Russland oder China? Am liebsten aber lebe ich in der Schweiz, diesem wunderbaren Land, klein, manchmal kleinkariert, sauber, manchmal bünzlig, neutral, manchmal feige, vor allem aber ein bunter Haufen von Kantonen, Sprachen, Religionen, Überzeugungen.

Bitte keine neue Inquisition im Schulzimmer, sogar wir traditionsbewussten Katholiken haben die Scheiterhaufen abgeschafft.

Die woke Cancel-Culture lähmt Fortschritt und Entwicklung, schläfert Schüler ein und macht den Lehrberuf madig. Bleiben wir die Schweiz, die in ihren Traditionen und ihrer Vielfalt kunterbunter ist als jeder Regenbogen. In dieser schillernden Schweiz muss es Platz haben für woke Veganer genauso wie für urige Sennen in Rastalocken, Kids, die Indianerlis spielen, Lehrer, die nicht gendern und, natürlich, für Cockney-Joel und Bronx-Sara.

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Brennende Schulen und Proteste gegen Sexualkunde-Unterricht https://condorcet.ch/2023/09/brennende-schulen-und-proteste-gegen-sexualkunde-unterricht/ https://condorcet.ch/2023/09/brennende-schulen-und-proteste-gegen-sexualkunde-unterricht/#respond Sun, 24 Sep 2023 17:44:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=15002

Nachdem in Belgien bereits die sechste Schule gebrannt hat, sollen Terrorexperten die Lage analysieren. Denn der Verdacht liegt nahe, dass es einen Zusammenhang mit der Einführung des Sexualkundeunterrichts gibt. Islamistische Gruppen hatten dagegen protestiert. Wir bringen einen Bericht der dpa, der in der "Welt" publiziert worden ist.

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Die belgische Regierung hat nach einer Serie von Brandstiftungen in Schulen einen verstärkten Polizeieinsatz angekündigt. “Wir greifen unsere Schulen nicht an”, schrieb Innenministerin Annelies Verlinden am Freitag auf der früher als Twitter bekannten Plattform X. Sie habe die Bundespolizei angewiesen, die örtlichen Behörden zu unterstützen und eine Eskalation zu vermeiden.

Kurz zuvor war in Charleroi zum sechsten Mal in dieser Woche eine Schule angezündet worden. Auch in Brüssel wurde Feuer gelegt. In Lüttich wurden Medien zufolge zwei Schulen verwüstet. An mehreren Tatorten sind Protestzeichen gegen das Sexualkundeprojekt Evras gefunden worden, das im neuen Schuljahr in Brüssel und der Wallonie erstmals verpflichtend ist. Die Staatsanwaltschaft Charlerois erklärte Medienberichten zufolge, Ermittlungen hätten bislang keinen Zusammenhang zwischen den Brandstiftungen in der Stadt ergeben.

“Wir werden niemals hinnehmen, dass unsere Schulen zur Zielscheibe gemacht werden.”

Alexander De Croo, Ministerpräsident von Belgien

 

Ministerpräsident Alexander De Croo sagte, er habe die für Terror zuständigen Sicherheitsbehörden gebeten, die Lage zu analysieren. “Wir leben in einem Land der Toleranz, und Toleranz bedeutet, dass wir debattieren und unterschiedliche Standpunkte vertreten können, aber das darf niemals zu Gewalt führen, insbesondere nicht an Orten, die unsere Kindern nutzen”, sagte er. “Wir werden niemals hinnehmen, dass unsere Schulen zur Zielscheibe gemacht werden.”

Das Programm gibt es seit vier Jahren. Bislang war die Teilnahme freiwillig.

Im Übrigen gebe es Sexualkunde in Belgien schon seit 50 Jahren. “Unsere Schulen müssen ein sicherer Ort für alle unsere Kinder sein”, sagte De Croo bereits Donnerstag in einem auf Facebook veröffentlichten Video.

Anfang des Monats hatte das Parlament der französischsprachigen Regionen Belgiens einen Vorschlag für verpflichtende Sexualkunde für Schüler angenommen, wie die Nachrichtenagentur Belga berichtete. Bei Evras handelt es sich um insgesamt vier Stunden Unterricht zum Beziehungs-, Gefühls- und Sexualleben für Elf- bis Zwölfjährige beziehungsweise für 15- bis 16-Jährige. Das Programm gibt es seit vier Jahren. Bislang war die Teilnahme freiwillig.

Diese Graffitis wurden an einer Schule in Charleroi entdeckt (Bild: picture alliance/dpa/Belga)

Im Internet kursierten Gerüchte über den Unterrichtsinhalt. In Brüssel haben mehrere Hundert Menschen gegen das Programm protestiert. Islamistische Gruppen verurteilten Evras, weil sie befürchteten, es fördere eine “Hypersexualisierung” von Kindern. Bei den Bränden, die in der Nacht zum Mittwoch gelegt wurden, sehen die Ermittler demnach einen Zusammenhang mit Protesten gegen die neue Regelung, da an den Tatorten Graffitis mit Slogans gegen die Reform gefunden wurden. Bei einer Schule, die in der Nacht zum Donnerstag brannte, wurden keine derartigen Slogans entdeckt, wie der Sender RTBF berichtete. Angaben zu möglichen Verletzten und Schäden gab es zunächst nicht.

“Der Zugang zur Sexualerziehung darf nicht infrage gestellt werden. Sie macht unsere Kinder widerstandsfähig und ist die Grundlage für eine gute sexuelle Gesundheit.”

Alexander De Croo, Ministerpräsident von Belgien

 

Die wallonische Bildungsministerin Caroline Desir rief zur Besonnenheit auf. Es seien eine Menge Lügen über Evras im Umlauf, sagte sie. “Nein, es wird kein pädophiles System vorbereitet. Nein, es ist nicht geplant, Kinder dazu zu bringen, das Geschlecht zu wechseln. Nein, es ist nicht geplant, Kindern beizubringen, wie man sexuelle Aktivitäten betreibt”, betonte Desir.

“Der Zugang zur Sexualerziehung darf nicht infrage gestellt werden. Sie macht unsere Kinder widerstandsfähig und ist die Grundlage für eine gute sexuelle Gesundheit”, sagte de Croo.

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Fehlender politischer Rückhalt für den Unterricht in Schweizer Geschichte https://condorcet.ch/2023/09/fehlender-politischer-rueckhalt-fuer-den-unterricht-in-schweizer-geschichte/ https://condorcet.ch/2023/09/fehlender-politischer-rueckhalt-fuer-den-unterricht-in-schweizer-geschichte/#respond Sun, 24 Sep 2023 17:41:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=15007

Wenn mit einem Lernangebot ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt wird, bei historischen Schweizer Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden, ist Vorsicht am Platz. Darin verstecken sich zuweilen spezifische politische Anliegen - oder unzulässige Geschichtsklitterung, schreibt Condorcet-Gastautor Hanspeter Amstutz.

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«Zürich und der Kolonialismus» lautet der Titel eines Lehrmittels, welches das Präsidialamt der Stadt Zürich in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich den Stadtzürcher Sekundarschulen zur Verfügung stellt. Das attraktiv gestaltete 76-seitige Schulbuch soll die Verstrickungen von Zürcher Kaufleuten in den Sklavenhandel im frühen 19. Jahrhundert aufdecken und alltäglichen Rassismus in der heutigen Zeit erkennen. Das Anliegen steht im Einklang mit dem Lehrplan, da das Ringen um Menschenrechte und mehr soziale Gerechtigkeit zu den zentralen Themen des Geschichtsunterrichts gehört.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Tendenziöses Lehrmittel für Stadtzürcher Sekundarschulen

Trotz dieser positiven Vorzeichen wird man beim Engagement der Zürcher Stadtbehörden den Eindruck nicht los, es gehe den Verfassern weniger um ein pädagogisches als um ein spezifisches politisches Anliegen. Mit dem Lernangebot wird ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt, bei historischen Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden. So heisst es im Glossar des Lehrbuchs, Rassismus sei ein «institutionalisiertes System, das weisse Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt». Diese Definition trifft zwar den Kern des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert, schiebt aber auch in der Gegenwart den rassistischen Überlegenheitswahn einseitig den hellhäutigen Menschen zu. Unzulässige Geschichtsklitterung wird im Lehrbuch betrieben, wenn der Eisenbahnpionier Alfred Escher als indirekter Profiteur von Erträgen aus der Sklavenplantage seines Onkels bezeichnet wird. Gewiss war der Hauptinitiant des Gotthardbahnprojekts eine umstrittene Figur. Er hatte grosse Ziel, besass eine fast übermenschliche Schaffenskraft, war aber oft rücksichtlos im Umgang mit seinen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten. Doch Escher mit dem Sklavenhandel in Verbindung zu bringen, ist absurd.

Wenn die Politik sich um Inhalte des Geschichtsunterrichts kümmert, darf sie den Blick aufs Ganze nicht verlieren. Macht sie dies wie der Zürcher Stadtrat, droht sie ihre pädagogische Glaubwürdigkeit zu verspielen. Jugendliche in der Sekundarschule verfügen in der Regel noch nicht über das nötige Grundwissen, um historische Persönlichkeiten souverän beurteilen zu können. Was Jugendliche in diesem Alter brauchen, ist vielmehr das Kennenlernen von Meilensteinen unserer Landesgeschichte der letzten gut 200 Jahre. Es gilt, die Umsetzung wirklich grosser Ideen im politischen Alltag mitzuverfolgen und dabei einige Kapitel ausführlich zu behandeln. Dazu zählt mit Sicherheit die aufregende Zeit rund um das Revolutionsjahr 1848. Und da spielte Alfred Escher im aufstrebenden jungen Bundesstaat eine entscheidende Rolle. Neben dem Berner Ulrich Ochsenbein und dem Winterthurer Jonas Furrer gehörte er zu den führenden Köpfen, welche in den politisch aufgeladenen Gründerjahren für eine Aufbruchstimmung sorgten.   

Verfassung von 1848 als Lehrstück für konstruktive Politik 

Als im Frühjahr 1848 Revolutionen in unseren Nachbarländern ausbrachen und die alte europäische Ordnung aus den Fugen geriet, tat sich für unser Land unerwartet eine Türe auf. Die Interventionsdrohung der Grossmächte verblasste, sodass in der Verfassungskommission der Tagsatzung ohne Einmischung von aussen die Idee eines modernen Schweizer Bundesstaates konkretisiert werden konnte. Es fehlte nicht an Dramatik, denn es war eine Herkulesaufgabe, in dem zwischen konservativen und liberalen Kantonen polarisierten Schweizer Staatenbund einen Ausgleich zu finden. Zum Glück gab es besonnene Persönlichkeiten auf beiden Seiten, welche die Gunst der Stunde erkannten und eine überzeugende Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen vorschlugen. Wie diese Einigung zwischen den unterschiedlichen Interessen gelang, ist ein Lehrstück konstruktiver Politik und ein Meilenstein der Schweizer Geschichte.

Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren. 

Völlig zu Unrecht gilt die Grundsteinlegung der modernen Schweiz als wohl langweiligste Revolution der Weltgeschichte. Dabei bietet diese Zeit des Aufbruchs genug Stoff für anschaulichen Geschichtsunterricht mit markanten Persönlichkeiten und grossartigen Ideen.

Wie wäre es, wenn die Zürcher Stadtregierung allenfalls in Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Kantone den gut sichtbaren Spuren dieser prägenden Epoche in einem weiteren Lehrmittel nachgehen würde? Es wäre ein Zeichen, dass man gewillt ist, unserer Jugend ein wesentliches Stück unserer Schweizer Geschichte auf positive Weise zu vermitteln. Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren. 

Politisch verunsicherte Lehrerinnen und Lehrer ohne inhaltlichen Auftrag

Leider muss man schon froh sein, wenn in den Sekundarschulen ein knapper Abriss über den Aufbau unseres Staatswesens vermittelt wird. Kaum jemand bestärkt die Lehrpersonen in der Überzeugung, dass sie einen wichtigen Auftrag für die staatspolitische Grundbildung unserer Jugend haben. Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt. In der Primarschule wiederum sind die Heldengeschichten aus der Sturm- und Drangzeit der Alten Eidgenossenschaft, welche im Unterricht einst patriotische Gefühle weckten, längst entzaubert worden. So wagen es die meisten Primarlehrkräfte heute gar nicht mehr, über den Tell-Mythos hinauszugehen. Das alles wäre zu verkraften, wenn man sich dafür umso mehr der neueren Geschichte zuwenden würde. Doch das geschieht höchstens noch bruchstückweise. Dabei sind die meisten Jugendlichen an unserer jüngsten Geschichte mit ihrer offensichtlichen Relevanz für die aktuelle Politik höchst interessiert.

Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt.

Im Lehrplan wird zwar festgehalten, dass Einblicke in wichtige Epochen zum Bildungsprogramm gehören. Auch wird den geschichtlichen Erzählungen ein hoher Stellenwert zugestanden. Doch das Konzept, den Unterricht strikt auf Kompetenzziele auszurichten, erschwert eine inhaltlich kohärente Vermittlung unserer Landesgeschichte. Da der Lehrplan den Kompetenzzielen unzählige mögliche Inhalte zuordnet, ist in den Schulen der Eindruck einer grossen Beliebigkeit in der Stoffvermittlung entstanden. Man vermisst einen klaren inhaltlichen Bildungskompass für das Fach Geschichte. 

Für eine Schweizer Geschichte mit verbindlichen Kernthemen

Es ist beschämend, wie wenig man sich in der Politik fragt, was denn in den Schulen im Fach Geschichte tatsächlich unterrichtet wird. Selbst die Zürcher Bildungsdirektion tappt diesbezüglich im Dunkeln, wie vor kurzem die Antwort auf eine Interpellation im Kantonsrat aufgedeckt hat. Es genügt absolut nicht, einige Themen nur zu empfehlen und zu hoffen, dass etwas geschieht. Vielmehr geht es darum, dass in der Lehrerbildung eine gründliche wissenschaftliche und didaktische Auseinandersetzung mit verbindlichen Kernthemen stattfindet. Didaktisch bedeutet hier primär, dass die im Geschichtsunterricht so zentrale Erzählkunst bei den Studierenden stärker gefördert wird und Elemente der Spannung in den Unterricht eingebaut werden. Wissenschaftlich heisst, dass geschichtliche Entwicklungslinien erkannt und unterrichtsrelevante Kenntnisse zu ausgewählten Epochen erworben werden. Diese fachdidaktische Aufwertung wäre neben der politischen Unterstützung der beste Garant, um den Lehrerinnen und Lehrern Mut für einen gehaltvollen Geschichtsunterricht zu machen.

Es braucht eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule.

Die Feiern zum Verfassungsjubiläum von 1848 mit dem Lob auf die staatspolitische Weitsicht der Gründerväter sind vorbei. Man fragt sich, was in der Bevölkerung hängenbleibt. Naiv wäre es zu glauben, schon mit einigen politischen Podien und attraktiven Museumsveranstaltungen für Jugendliche könne ein breites politisches Interesse geweckt werden. Was es vielmehr braucht, ist eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule. Das Fach muss aus seiner Randstellung geholt und mit einem inhaltlich klaren Bildungsauftrag versehen werden. Damit kann sichergestellt werden, dass unsere moderne Landesgeschichte mit ihren politischen Verflechtungen zu einem wesentlichen Thema in den Schweizer Schulklassen wird.

Hanspeter Amstutz

 

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“Wir müssen handeln. Und zwar schnell.” https://condorcet.ch/2023/09/wir-muessen-handeln-und-zwar-schnell/ https://condorcet.ch/2023/09/wir-muessen-handeln-und-zwar-schnell/#comments Fri, 22 Sep 2023 07:13:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=14979

Der Basler Erziehungsdirektor gibt zu, dass das Pendel wohl etwas stark in die Richtung der ausnahmslosen Integration geschwungen ist. Das soll nun korrigiert werden. Wir bringen ein Interview des BaZ-Journalisten Sebastian Briellmann, das in der Basler Zeitung erschienen ist.

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Conradin Cramer, die integrative Schule steht in Basel-Stadt schon lange in der Kritik – nun unterlegt ein “Reporter” des Schweizer Fernsehens diese Kritik mit erschreckenden Bildern. Wie tief sitzt bei Ihnen der Schock?

Von einem Schock mag ich nicht sprechen. Der Film bestätigt aber meine Einschätzung: Wir müssen handeln. Und zwar schnell. Und deshalb haben wir ja bereits ein Massnahmenpaket auf den Weg gebracht, das wir noch dieses Jahr dem Grossen Rat vorlegen (vgl. Box 1). Damit – und das möchte ich betonen – solche Zustände nicht länger bestehen. Aber ich möchte auch sagen: Diese Klassen sind eine Ausnahme und nicht die Regel in Basler Schulhäusern.

Wenn eine erfahrene Lehrerin in die Kamera sagt, dass sie hilflos, kraftlos sei, sie so nicht mehr weitermachen könne, fragt man sich: Wieso sind solche Zustände nicht schon viel früher erkannt und behoben worden?

Weil die Anzahl Kinder, die Sondersettings benötigen, in den letzten Jahren dramatisch angestiegen ist (vgl. Box 2). Das ist tatsächlich beängstigend. Bei gewissen Klassen ist deswegen eine Grenze erreicht oder überschritten worden: Wenn Lehrpersonen nicht mehr unterrichten können, ist das ein grosses Alarmzeichen.

Hätten Sie nicht früher schärfer eingreifen müssen? Sie sind seit sechseinhalb Jahren im Amt – und man hat von aussen schon das Gefühl, dass die Probleme nicht wirklich offen diskutiert worden sind, wegen eines LDP-SP-Nichtangriffspakts.

Also ich finde schon, dass gerade über die integrative Schule sehr offen debattiert wird. Aber zur Frage: Wenn ich die Zahlen von besonderen Unterstützungsmassnahmen, die nötig sind, zwischen meinem Amtsantritt und jetzt, also innerhalb von sechseinhalb Jahren, vergleiche: Dieser Anstieg ist enorm. Den hat man nicht voraussehen können. Ich wäre gerne zwei Jahre früher dran, aber die Pandemie hat uns ausgebremst.

 

“Es gibt eben nicht die eine Kausalität, an der wir ansetzen und sagen können: Wenn wir das und jenes behoben haben, gehts den Kindern wieder besser.”

 

Die Missstände sind nicht erst seit Corona bekannt. Gibt es nun wenigstens Erkenntnisse, warum so viele Kinder ein Sondersetting – oder nicht selten sogar mehrere – benötigen?

Wir kennen gewisse Gründe, allerdings hat auch die Forschung nicht die alles erklärende Antwort. Man diagnostiziert früher – und mehr. Es gibt mehr psychische Erkrankungen in der Gesellschaft. Ebenfalls ist eine Zunahme an problematischen Familienkonstellationen erkennbar. Aber es gibt eben nicht die eine Kausalität, an der wir ansetzen und sagen können: Wenn wir das und jenes behoben haben, geht’s den Kindern wieder besser. Sehen Sie: Wir sind für alle Kinder da, die kommen – und jedes hat Anspruch auf die Förderung, die es braucht.

Ein Vorschlag, der im Film von Lehrern geäussert wird: Anstatt allein soll zu zweit in der Regelklasse unterrichtet werden. Damit müssten auch nicht so viele Kinder auf dem Gang oder draussen arbeiten. Überzeugt Sie dieser Vorschlag?

Das Doppel-Unterrichten gibt es heute schon, deshalb: ja. Und es zeigt sich, dass in schwierigen Klassen das Unterrichten allein oft nicht mehr geht – dann braucht es mehr als eine Lehrperson. Klar ist: Wir müssen mehr Ruhe in die Klassen bringen. Das ist denn auch das Ziel unseres Massnahmenpakets.

Vor 18 Monaten haben Sie im BaZ-Interview gesagt: “Es gibt kein Geläuf in den Klassen.” Im Film ist ersichtlich: Doch, das gibt es …

Auch das wollen wir mit unserem Massnahmenpaket verbessern. Wenn es zu viele Kinder mit besonderer Unterstützung gibt, entsteht diese Unruhe. Aber nochmals: Die im Film gezeigten Klassen sind Ausnahmen. Eine der Massnahmen, die wir deshalb vorschlagen, sind Lerninseln. Sie sollen die Möglichkeit bieten, unruhige Kinder vorübergehend aus der Regelklasse zu nehmen.

 

“Es wird neue separative Elemente geben, die die Situation stark entlasten sollen. Das sind substanzielle Eingriffe.”

 

Aber solche Klassen sind doch keine Einzelfälle mehr. Sie rütteln jedoch nicht an der integrativen Schule – und sagen: Das braucht einfach seine Zeit.

Ja. Dazu stehe ich auch. Ich muss jedoch betonen, dass ich innerhalb der integrativen Schule wirklich Reformbedarf sehe. Das Massnahmenpaket wird grundlegend sein. Es wird neue separative Elemente geben, die die Situation stark entlasten sollen. Das sind substanzielle Eingriffe. Aber wir möchten nicht zurück zu den Kleinklassen – weil alle Studien zeigen: Integration vor Separation ist der erfolgversprechende Weg für Kinder, die es schwer haben. Sei es wegen ihrer Herkunft und der Sprache, sei es wegen einer Beeinträchtigung.

Ihr Argument ist doch vor allem jenes: Kleinklässlern hat früher ein Stigma angehaftet. Ist es nicht umgekehrt? Wer ständig aus einer Regelklasse in ein Setting muss, spürt doch auch: Bei mir ist etwas anders …

Natürlich. Kinder merken sehr gut, was vorgeht. Aber die Lehrpersonen sind Profis – und schauen, dass sich die Schüler nicht stigmatisiert fühlen, dass Fördermassnahmen niemanden ausgrenzen. Das Problem bei den Kleinklassen ist für mich der Weg zurück in die Regelklasse, der für diese Schülerinnen und Schüler so schwierig ist. Einmal dort, immer dort. Und dann fehlen die Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Das sagt auch die Wissenschaft. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sind in Basel nicht für die ausnahmslose Integration. Aber das Pendel ist wohl etwas stark in diese Richtung geschwungen. Das soll nun korrigiert werden.

Sind die Missstände überhaupt noch eine Frage des integrativen Modells – und nicht eher ein grundlegendes Problem der öffentlichen Schule?

Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das ungefiltert auf die Schulen prallt. Kinder, die sehr wenig von zu Hause mitbringen, weil sie noch nie im Wald gewesen sind, ihre Schuhe nicht selber binden und nicht auf einem Bein stehen können: Das ist Realität an Basler Schulen – und ja: Das überfordert sie zunehmend. Denn klar ist: Unsere Kernaufgabe ist eigentlich nicht die Erziehung, sondern die Bildungsvermittlung.

 

“Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.”

 

Ist Letzteres überhaupt noch möglich?

Gewisse Bereiche muss man ganz neu denken. Es muss schon vor der Schule viel mehr passieren. Die Betreuung in den Kitas ist top, am Zentrum für Frühförderung kann Logopädie schon im Kleinkindalter helfen – und es gibt die obligatorische Deutschförderung für Dreijährige. Diese wollen wir jetzt weiter ausbauen. Das braucht auch mehr Geld, kein Zweifel.

Ist das noch realistisch? Es gibt so viele Probleme – und viele Lehrer geben nach wenigen Jahren im Beruf entnervt auf …

Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen. Aber wir haben genügend Bewerbungen von jungen Lehrern, die genau an solchen Schulen etwas bewegen wollen – und nicht in einem Dorf fernab auf dem Land.

Sie haben im Fernsehen gesagt: Änderungen brauchen eine Generation, bis sie wirken. Haben wir diese Zeit noch?

Wir sind nicht zu spät dran, aber es ist höchste Zeit für die Massnahmen, die wir vorschlagen. Aber nochmals eine Reform, die alles auf den Kopf stellt: Das sehe ich nicht als zielführend an. Das System ist an einer kritischen Grenze angekommen, aber noch immer tragfähig.

 

Kommentar:

Sebastian Briellmann, Journalist bei der Basler Zeitung BaZ

Schon eine ganze Weile lang verbleibt nicht mehr einfach jeder verhaltensauffällige Schüler in einer Regelklasse: Es gibt kleine Gruppen – und ebenfalls Kleinstklassen mit nur zwei, drei Kindern. Aber dass das schon lange nicht mehr reicht: Das weiss auch Conradin Cramer. Aus Überzeugung will er nun weitere Massnahmen präsentieren, das schon auch – aber vor allem, weil es da eben auch noch die Förderklasseninitiative, die wieder deutlich mehr auf Separation setzt, gibt und die wie ein Damoklesschwert über der Politik des Erziehungsdirektors hängt. Kommt dazu: Zuletzt hat Cramer auch im Parlament mehr Widerstand erfahren müssen, hat eine Mehrheit einer Motion der FDP für Einführungsklassen – wenn ein Kind nach dem Kindergarten noch nicht reif für die Primarschule ist, soll es die 1. Klasse in zwei Jahren absolvieren dürfen – gegen seinen Willen zugestimmt. Nun also wird Cramer in diesem Jahr ein grosses Massnahmenpaket vorlegen, das den Förderklasseninitianten weit entgegenkommen soll. Ob das reichen wird, um einen Rückzug der Initiative zu erreichen, ist derzeit allerdings unsicher. (sb)

 

Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, waren es im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen». Die Schülerzahlen der separativen Angebote sind in den letzten sieben Jahren von 525 auf 474 zurückgegangen. «Dies entsprechend dem gesetzlichen Auftrag (Sonderpädagogik- Konkordat), wonach Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf vermehrt in Regelklassen zu fördern sind», schreibt das ED. (sb)

Sebastian Briellmann

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Man kratzt an der Oberfläche und erreicht das Gegenteil https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/#comments Thu, 21 Sep 2023 15:06:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=14971

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin mit Pädagogik-Studium, beschäftigt sich in Ihrem Beitrag mit der ungenügenden Begründbarkeit vieler Reformen und analysiert messerscharf die gravierenden Konsequenzen.

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In den letzten Jahren prägen Schlagzeilen wie “Lehrpersonen am Ende – Druck auf die integrative Schule”, “Frühfranzösisch und integrative Schule – alles ein Fehler?”, “Frühfranzösisch an der Primarschule ist gescheitert”, “Wegen Gewalt an Schulen – 1000 Lehrer mussten zum Arzt”, “Viele Lehrer schmeissen wegen hoher Belastung hin”, “Eltern erstatten häufiger Anzeige gegen Lehrer”, “Wenn wir nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt”, “Lehrplan 21 im Sperrfeuer der Kritik” den schulischen Diskurs.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Nationalratskandidatin der GLP-Basel: Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Die Schlagzeilen, die Debatte und die Kritik beschäftigen sich mit Oberflächlichkeiten. Die Schule steht nicht mehr als Repräsentantin der Kultur und ihrer Aufgabe, diese mittels eines pädagogischen Auftrags zu tradieren, im Zentrum der Debatte. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass die Reformen der letzten Jahrzehnte, welche das Selbstverständnis der Schule erschüttert haben, reine Oberflächeninterventionen waren. Sie haben diese behäbige, prinzipiell konservative Institution mit Neuem überflutet. Dem Neuen, das seine Begründung und damit seinen Sinn weder aus der pädagogischen Praxis oder ihrer Theorie noch aus dem gesellschaftlichen Auftrag der Schule abgeleitet hat, sondern letztlich allein aus der Idee des Neuen selbst. Zusammenhangslos, theorielos, erfolglos und ziellos wurden unzählige Reformen – Beispiele werden weiter unten aufgeführt – den Schulen einfach übergestülpt.

Das hat nicht nur das Selbstverständnis der Schule, sondern auch das pädagogische Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer aus dem Gleichgewicht gebracht. Und die Auswirkungen auf verschiedenen Eben zeigen: Es hat das Vertrauen in die Institution und ihre Glaubwürdigkeit geschwächt. Und in der Debatte rund um die Oberflächlichkeitsphänomene geht vergessen, dass diese nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Es scheint, als wisse die Gesellschaft nicht mehr, was die pädagogische Praxis vor Ort leisten kann und soll. Es wird ihr viel zu viel zugemutet und gleichzeitig wird sie ständig kritisiert. Sie soll also alles richten und gleichzeitig traut man es ihr nicht zu. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, lebenslanges Lernen verlangt, aber an den Schulen verschwindet das Pädagogische, das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.

Die praxisfremden Oberflächenneuerungen

Der Lehrplan 21 mit seinen unzähligen Kompetenzen wurde erfunden; neue methodisch-didaktische Konzepte ausgeklügelt, die immer mehr Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler delegieren, weil die ältere Generation meint, die jüngere wisse es besser. Gleichzeitig stiehlt sich die ältere damit der Verantwortung; die Integration aller Kinder vorangetrieben ohne zu berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die auf einen spezifischen, ihren Fähigkeiten angemessenen Unterricht angewiesen sind, damit sie später an der Gesellschaft teilhaben können; das Frühfranzösisch wurde eingeführt, ohne zu beachten, dass frühes Erlernen einer Fremdsprache nicht einfach besser ist, sondern dass das Erlernen von Neuem immer auch in einem altersabhängig angemessenen Kontext stattfinden muss, damit es Erfolg haben kann; die Schule wurde mit digitalen Geräten geflutet, um auf die Digitalisierung vorzubereiten, was auch immer das heissen mag, ohne zu berücksichtigen, dass Lernen und Lehren eine grundsätzlich personale Angelegenheit ist und dass die Nutzung technischer Hilfsmittel keine pädagogische Praxis an sich ist.

Die Wirkung der Neuerungen

Dem kann man entgegenhalten, dass dies alles ja nur Oberflächeninterventionen seien, doch diese haben die Schule in ihrem Kern getroffen, da damit eine grundlegende Umgestaltung der pädagogischen Praxis erfolgt ist.

Die unzähligen Kompetenzen des Lehrplans 21 führen in ihrer Oberflächlichkeit genau dazu, dass alles Wesentliche nur noch angetippt wird; es fehlt die Zeit für die vertiefte Beschäftigung, für das Verstehen, für das Üben. Hektisch und atemlos wird versucht, diese Können-Formulierungen irgendwie umzusetzen. Und da die Lehrpersonen hier an ihre Grenzen stossen, werden die Kompetenzformulierungen einfach den Schülerinnen und Schülern übergeben zusammen mit entsprechenden Aufträgen und so genannten Dossiers.

Die methodisch-didaktischen Konzepte treiben die Individualisierung des Unterrichts in unterschiedlichen Variationen voran, die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden; die gemeinsame Ansprache, worauf das Unterrichten im Kollektiv, wie es an der Schule nun einmal stattfindet, angewiesen ist, wird als Frontalunterricht diskreditiert und dem Prinzip der Individualisierung als unterrichtsleitend gegenübergestellt.

Die integrative Schule ist eine Schule für immer weniger

Die so genannt integrative Schule hat genau das Gegenteil ihrer Absicht verwirklicht: Noch nie hatten so viele Kinder einen so genannten Förderbedarf, noch nie wurden so viele Diagnosen gestellt, verstärkte Massnahmen finanziert, Therapien an Schulen durchgeführt und noch nie wurde so oft moniert, dass die Lehrpersonen aufgrund der Zunahme von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern an ihre Grenzen stossen. Die integrative Schule ist nicht eine Schule für alle, sondern eine Schule für immer weniger, denn immer mehr brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.

Dass das Frühfranzösisch scheitern würde, war vorhersehbar, denn das Konzept des Sprachbads während zwei bis drei Lektionen pro Woche ist weder begründbar noch nachvollziehbar. Doch es ist auch ein Zeichen der Zeit, dass das Experiment das Mittel der Wahl ist und das Argument im Vorfeld keine Chance hat. Dass mit diesem Konzept mehrere Millionen in den Sand gesetzt wurden, dass der Stellenwert des Französisch als Landessprache zusätzlich geschwächt wurde, dass Kinder unzählige Lektionen in einem ineffektiven Unterricht verbringen, das wurde einfach in Kauf genommen.

Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Turbodigitalisierung hat den Lernerfolg nicht gesteigert, im Gegenteil. Es ist empirisch erwiesen, dass das Lesen am Bildschirm oberflächlicher erfolgt als in Büchern, dass der Wortschatz kleiner wird und die Fähigkeit zur Textproduktion sinkt, je häufiger digitale Medien genutzt werden, dass das Schreiben von Hand dem Schreiben mit digitalen Endgeräten überlegen ist. Ganz abgesehen davon führt die extensive Nutzung digitaler Geräte an Schulen dazu, dass die sozialen Interaktionen abnehmen, dass jeder zunehmend nur mit seinem Gerät beschäftigt ist, dass die Lehrperson hinter den Bildschirmen verschwindet und das Wissen irgendwo in den Sphären gesucht werden muss, kurz: Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Debatte der Oberflächlichkeiten

Die nun sichtbar gewordenen problematischen Auswirkungen der oberflächlichen Reformen führen zu öffentlichen Debatten, bei welchen alle mitreden, alle sich aufregen, alle kritisieren, alle alles besser wissen können. Sie führen zu oberflächlichen Diskursen und verfehlen damit einerseits die grundsätzliche Problematik eines möglichen Scheiterns der öffentlichen Schule und andererseits werden sie der Komplexität des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule, der pädagogischen Praxis und deren Widersprüchlichkeiten nicht gerecht. Man redet über jene Phänomene des Scheiterns, die nun sichtbar werden, ohne nach den eigentlichen Ursachen zu fragen.

Ein Lehrplan, der das Können formuliert, vergisst, dass dieses nicht einfach hergestellt werden kann und dass es grundsätzlich ausschliesst, dass Bildung viel mehr ist, als dass, was verwertet werden kann. Eine finale Formulierung von Kompetenzen schliesst Neugierde, Begeisterung, verstehen Wollen und alles Schöne, aber vielleicht nicht direkt Verwertbare aus. Ausserdem erhebt sie den Anspruch, dass es Instanzen gibt, die genau wissen, was überhaupt gewusst werden soll. Sie nehmen der pädagogischen Praxis die Sinnhaftigkeit, die weit über das hinausgeht zu vermitteln, was unmittelbar als nützlich erachtet wird. Und so diskutieren wir über die Ausformulierung und die Anzahl von Kompetenzen, statt über das Lernen im Kollektiv mit dem Ziel, sich die Welt ein Stück weit anzueignen und sich dadurch einbringen zu können.

Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten.

Individualisierende Unterrichtsformen sollen den Lernbedürfnissen des einzelnen Kindes entgegenkommen, jedes Kind soll als Individuum wahrgenommen und sich selbst sein dürfen, sein aktueller Lernstand soll erhoben und spezifische, darauf ausgerichtete Lernangebote sollen bereitgestellt werden oder es soll aus einem breiten Angebot in einer Lernlandschaft selbst wählen können, was es gerade lernen möchte. Dabei stiehlt sich die Erwachsenenwelt aus ihrer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation und lässt sie zunehmend allein und auf sich selbst bezogen. Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten. Das heisst, die Erwartungen bleiben dieselben, aber sie werden nicht mehr direkt kommuniziert, sondern die Schülerinnen und Schüler müssen sie selbst entdecken, was bedeutend schwieriger ist. Wir Menschen sind soziale Wesen und leben in einer geteilten Welt. Nicht die Debatten darüber, wie die Schule noch mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes eingehen könnte, ist zielführend, sondern die Besinnung darauf, dass wir soziale Wesen sind. Gerade diese herausfordernde Praxis, dass wir, auch wenn wir alle unterschiedlich sind, die Welt teilen und stets von Neuem aushandeln müssen, wie wir zusammenleben wollen, können wir in der Schule erlernen.

Wir reden darüber, mit wie viel zusätzlichen finanziellen Mitteln und zusätzlichen therapeutischen Angeboten wir die integrative Schule retten können, statt darüber zu reden, dass es einige wenige Kinder gibt, für welche die Regelschule nicht das angemessene Setting bieten kann, weil sie nicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht. Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen bei immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Dies wird dann mit gesellschaftlichen Veränderungen begründet, auch wenn die Probleme systemimmanent sind. Wir gehen tatsächlich so weit, eine immer grössere Anzahl von Kindern und Jugendlichen als förder- und therapiebedürftig zu bezeichnen, anstatt darüber zu reden, wie sehr wir die Schülerinnen und Schüler allein lassen, weil sie sogar ihre Lernziele selbst wählen können, obwohl sie wissen, dass überall versteckte Erwartungen lauern.

Wir streiten über die Ineffizienz des Französischunterrichts, statt darüber zu reden, wie wichtig es für ein mehrsprachiges Land ist, sich gegenseitig zu verstehen und sich austauschen zu können.

Obwohl Digitalisierung ein sehr unscharfer Begriff ist, hat diese Idee und die dafür bereitgestellten Millionenbudgets an den Schulen dazu geführt, dass zunehmend digitale Endgeräte eingesetzt werden. Aktuell wird darüber diskutiert, ob KI und ChatGPT für die Schulen eine Gefahr, eine Revolution oder ein Segen seien. Sie sollen personalisierte Lernprogramme erstellen, den Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern eruieren können und sie beim Lernen unterstützen. Wir aber sollten öffentlich darüber diskutieren, ob wir als Menschen, die das Wissen in unseren Köpfen an die Köpfe der nächsten Generation weitergeben, angereichert mit unserer Begeisterung und unseren Erfahrungen, in einer pädagogischen Beziehung, die auf Vertrauen, Zutrauen, Zumuten und einer manchmal kontrafaktisch positiven Erwartungshaltung basiert, diese Aufgabe tatsächlich an Maschinen delegieren wollen.

Worüber wir eigentlich debattieren sollten

Die Ausführungen wollen aufzeigen, dass die oberflächlichen Reformen der letzten Jahrzehnte und die ausufernden Zumutungen an die Schule sowie die damit einhergehenden oberflächlichen, öffentlichen Debatten die pädagogische Praxis und die Schule als wesentliche Institution einer Demokratie irritiert und verunsichert haben Die Schule als Ort der Widersprüchlichkeiten, des möglichen Scheiterns, der Horizonterweiterung, der personalen pädagogischen Beziehungen, der Begeisterung und der Langeweile, des Lernens im Kollektiv, der Weltzugänge sowie der Freundschaften und der Streitigkeiten ist eine äusserst komplexe Institution. Sie ist auf ein pädagogisches Selbstverständnis angewiesen, das ihren Sinn zumindest teilweise begründet. Das ist der unsichtbare, aber überlebenswichtige Teil des Eisbergs, über welchen wir nicht debattieren. Wenn wir uns nicht damit befassen, sondern nur mit den über dem Meeresspiegel sichtbaren Oberflächlichkeiten, die jeder aus seiner individuellen Perspektive wahrnimmt, interpretiert und kritisiert, dann wird der unsichtbare Teil möglichweise eines Tages geschmolzen sein, ohne dass wir es bemerkt haben. Und wir werden uns fragen, warum die öffentliche Schule verschwunden ist, spätestens dann, wenn niemand mehr dort unterrichten wird.

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