Wie manifestiert sich das: Weltoffenheit? Mit Bezug auf die neuere Schweizer Zeitgeschichte gefragt: Wie kam es dazu, dass Leute, die ihr häusliches Domizil bloss zu Ferienzwecken verlassen oder es für die Dauer eines Sabbaticals gegen harten Franken vermieten, Leute also, die ein im Grunde gutbürgerliches Leben führen und, obschon sie nichts mehr fürchten als die Konsequenzen wirklichen Aussenseitertums, sich zeitlebens als Revoluzzer fühlen – wie kam es dazu, dass solche Leute sich ab den 1960er-Jahren ein kosmopolitisches Selbstbild zulegten.

Die Frage scheint mir schon deshalb angebracht, weil dieses Selbstbild mit dem Kosmopolitismus der Bernoullis, Bodmers oder Hirzels so wenig gemein hat wie mit der kosmopolitischen Lebenswelt der Innerschweizer Viehzüchter, Soldhändler und Reisläufer – von den calvinistischen Uhrmachergeschlechtern oder den 400’000 Schweizerinnen und Schweizern, die zwischen 1816 und 1913 nach Übersee auswanderten, ganz zu schweigen. Denn dieser ältere Kosmopolitismus – dieses Produkt von Schicksal und Tat – blieb zu sehr auf die genannten Milieus beschränkt, als dass er die nationale Öffentlichkeit hätte prägen können.
Indem man ein Land noch etwas kleiner redet, als es tatsächlich ist, vergrössert man sich selbst.
Das ist bei der neuen Weltoffenheit anders. Sie war und ist ein mit hohem Redeaufwand erzeugter moralischer Anspruch. Als ihr Transmissionsriemen wirken neben den Universitäten und der höheren Verwaltung insbesondere die Medien. Der sozialpsychologische Motor dieses Anspruchs – darauf haben so querulantische Geister wie George Orwell (“Notes on Nationalism”, 1945) oder jüngst Paul Collier (“The Future of Capitalism”, 2018) hingewiesen – ist die nie endende Suche nach persönlicher Wertschätzung ex negativo. Indem man ein Land noch etwas kleiner redet, als es tatsächlich ist, vergrössert man sich selbst: den eigenen Mut zum Risiko, die eigenen Errungenschaften, die eigene Bereitschaft, nicht Konformes auch öffentlich zu vertreten.
Hinein in den Strom
Die historischen Wurzeln dieses Kosmopolitismus des Wortes sind vielschichtig. Wer ihnen mit Bezug auf die Schweiz nachspürt, kommt aber um die Literatur der Nachkriegszeit nicht herum. Schon deshalb nicht, weil sie – dank der herausragenden Präsenz von Max Frisch – das Bild von der Schweizer Uferexistenz schuf, um es dann mit Verve und Wucht zu attackieren.
Selbst wer Max Frischs Bücher nur vom Hörensagen kennt, steht, was sein Verhältnis zur politischen Schweiz betrifft, ein Stück weit im Bann dieses wortgewaltigen Dichters. Dass viele der Tugenden, die der bekannteste Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts in seinen Werken zelebriert, heute verstaubt klingen, ändert daran nichts. Denn Frisch hat die Schweiz nicht im privaten Alltag verändert, sondern in dem, was man ihre ungeschriebene Betriebsanleitung nennen könnte.
Die Schweiz beobachtet den grossen Strom der Geschichte vom sicheren Ufer aus, und so droht ihr die Verzwergung als Folge der selbst gewählten Schicksalslosigkeit ihres kulturellen und staatlichen Seins.
Die zum Bild der Uferexistenz gehörende Meistererzählung lässt sich in einem Satz beschreiben: Die Schweiz beobachtet den grossen Strom der Geschichte vom sicheren Ufer aus, und so droht ihr die Verzwergung als Folge der selbst gewählten Schicksalslosigkeit ihres kulturellen und staatlichen Seins. Mit einer “Sehnsucht nach Welt” umschrieb Frisch schon 1946 die aus diesem Zustand resultierende Emotion. Das Ufer war den Schweizern zum Ort der selbstgefälligen Enthaltung geworden, wo doch, nach den Verstrickungen der beiden Weltkriege, Haltung gefragt gewesen wäre. “Ist die Schweiz kein tragisches Thema?”, so fragte Frisch 1966 in der “Weltwoche”: “Wer an der Schweiz leidet, erscheint als Psychopath; sein Unbehagen reflektiert bloss seine Person, sein Versagen als Individuum, seine private Krise, das Ressentiment des Kranken gegenüber dem Kollektiv, das gesund ist. Ich verwundere mich oft, wenn ich im Ausland anzutreten habe als Schweizer, über das Ausbleiben einer Frage, die von aussen kommen könnte: Was ist euer Beitrag an verbindlicher Selbstdarstellung?”
Hier handelt es sich um Frischs erste öffentliche Antwort auf das literarische Psychogramm, das der Literaturwissenschaftler Karl Schmid drei Jahre vorher von ihm gezeichnet hatte. In seiner Analyse mehrerer Schweizer Dichter hatte Schmid argumentiert, der Kleinstaat eigne sich für intellektuelle Projektionen besser als grosse Länder. Die emotionale Bindung an den Staat, Frisch habe sie stets mit Nationalismus gleichgesetzt: “Ehe, Nation und Staat sind für Frisch aus Elementen, die der Ordnung des Kollektivs dienten, zu solchen geworden, die das Leben des Individuums schmälern.” Im Kleinstaat habe Frisch den Nährboden dieser reaktionären Form der Bürgerlichkeit erblickt, die sich über “Besitz, Kultur, Moral und gutes Gewissen” definiere und die verantwortlich sei für einen Mangel an Grösse im Wollen und Handeln. Zur Illustration seiner These zitierte Schmid eine Passage aus “Stiller”:
“Zuweilen macht er sich Vorwürfe, feige zu sein, dann fällt er Entscheidungen, die später nicht zu halten sind. Er ist ein Moralist wie fast alle Leute, die sich nicht annehmen. Manchmal stellt er sich in unnötige Gefahren oder mitten in eine Todesgefahr, um sich zu zeigen, dass er ein Kämpfer sei. Er hat viel Phantasie. Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus übertriebener Anforderung an sich selbst, und sein Grundgefühl, etwas schuldig zu sein, hält er für Tiefe, mag sein, sogar für Religiosität.”

Und so werde der Kleinstaat bei Frisch zum “Modell und Symbol für den mutlosen Menschen, der sich zu Recht oder Unrecht seine Kompromisse vorwirft”. Er kann seine bürgerliche Existenz nicht annehmen, weil er sie als minderwertig betrachtet. Er will dorthin, wo sich die Weltgeschichte partout nicht aussperren lässt, weil der Strom dort zu mächtig ist.
Wie bei Brecht, der Frisch ein Vorbild war, sollten “der Staat” und “die nationale Herkunft” in diesem Prozess der Emigration “zwischen den Polen des Einzelnen und der Menschheit” verglühen. Mit seinem Ruf nach “verbindlicher Selbstdarstellung” verlangte Frisch, dass sich die Schweiz als Teil einer grösseren historischen Bewegung verstehe.
Metaphysisch handlungsberechtigt
Dass Karl Schmid bis heute vornehmlich mit seiner Projektionsthese in Verbindung gebracht wird, liegt auch daran, dass er nicht in die Kulturkritik passte, die sich ab den 1970er-Jahren auch in der Schweiz Bahn brach. Wer Schmid liest, merkt jedoch rasch, dass hier kein verbohrter Schweiz-Verteidiger am Werk ist. Jedenfalls ist es offensichtlich, dass seine Texte zur Schweizer Literatur bedeutend mehr enthalten als das literarische Psychogramm Max Frischs. In seinem Aufsatz zur Schweizer Nationalität etwa bringt Schmid einen Gedanken auf den Punkt, der über die germanistische Exegese von Schweizer Literatur weit hinausgeht:
“Der durchschnittliche Mensch unserer Zeit in seiner durchschnittlichen ‘Aufgeklärtheit’ und durchschnittlichen metaphysischen Wurzellosigkeit bedarf offenbar des Glaubens, sein Staat und seine Nation seien metaphysisch handlungsberechtigt; er will das. Die Staaten sind nicht mehr Gebilde der irdischen Notwendigkeit, sondern Träger von Prophetien. Ihre Handlungen in der Völkergemeinschaft sollen nicht nur nach einem aussenpolitischen Konzept erfolgen, sondern nach einer metaphysischen Konzeption … Das innere Gesetz eines Staates genügt seinen Angehörigen nur, wenn es sich gegenüber den anderen metaphysisch (und nicht nur geschichtlich-faktisch) rechtfertigen lässt. Und die grösseren Nationen neigen dazu, mit den Leitlinien ihres Staates erst dann zufrieden zu sein, wenn sie evangelisch zum Ordnungsprinzip des Erdballs werden könnten; es gilt dies hüben wie drüben.”
Staatspolitik als Sinngebungsressource nicht nur für Politikerinnen und Intellektuelle, sondern in zunehmendem Masse fürs aufgeklärte Publikum insgesamt: nicht mehr nationalistisch wie im 19. Jahrhundert und in der Weltkriegsperiode, sondern postnational; dabei aber, vom Anspruch her, unverändert missionarisch – das ist es, was Schmid hier kritisiert. An einer anderen Stelle spricht er von der “Provinzial-Angst, hinter der Zeit zurückzubleiben und ihrem Schema nicht zu entsprechen”. Damit wären wir wieder beim Uferbild, bei der Überzeugung, den Schweizern fehle das Gehör für das Rauschen und die Rhythmen des Stroms der Weltgeschichte.

Die Vorstellung, dass der menschliche Fortschritt nicht bloss existiere, sondern in eine bestimmte Richtung verlaufe, sie ist auch für Max Frischs “Tell”-Essay wegleitend. Hier liegt wohl auch die tiefere Bedeutung seiner Frage: Was ist euer Beitrag an verbindlicher Selbstdarstellung? Das Verbindliche wäre das universal Gültige; das, was letztlich, im Bereich des kreativen Schaffens wie der staatlichen Politik, unumstossbar zur Menschheit als ganzes hin tendiert.
Frisch legt in seinem “Wilhelm Tell für die Schule” ein Bekenntnis ab zu einem entwicklungsgeschichtlichen Blick auf die Welt. Das ist es, was seine “Sehnsucht nach Welt” antreibt: ein geballtes Stück Fortschrittsmetaphysik.
Derbe Waden, stramme Schenkel
Als Max Frisch 1970 den “Wilhelm Tell für die Schule” schrieb, kannte er möglicherweise einen Essay über die Schweiz, der in keiner der zweiundsiebzig Fussnoten seines hundertzwölf Seiten langen Textes Erwähnung findet. Erschienen ist dieser im November 1847 in einer revolutionären deutschen Emigrantenzeitung in Brüssel. Autor ist der Marx-Gefährte Friedrich Engels (1820–1895), Anlass der Sonderbundskrieg von 1847 zwischen den liberalen und konservativen Schweizer Kantonen. Drei Monate vor der Veröffentlichung der von ihm mitverfassten, im Februar 1848 in London publizierten Schrift “Manifest der Kommunistischen Partei” sah der Sohn eines reichen Textilunternehmers mit Fabriken im englischen Salford im Schweizer Bürgerkrieg die Bestätigung materialistischer Geschichtstheorie. Das Bild der alten Eidgenossenschaft, das er in seinem Brüsseler Essay zeichnet, könnte düsterer nicht sein. Beim Krieg zwischen den liberalen Kantonen und dem konservativen, katholisch dominierten Sonderbund geht es laut Engels um die Überwindung der vormodernen Schweiz durch die protestantischen Kräfte der Modernisierung. Dank dem Sieg der liberalen Kantone war die Schweiz für Engels doch noch geschichtsfähig geworden.
Sein zentrales Feindbild ist Friedrich Schillers “Wilhelm Tell”. Während Schiller die mittelalterliche Eidgenossenschaft als Sinnbild einer freiheitlich-republikanischen Ordnung entwirft, zeichnet sie Engels als Relikt einer grauen Vorzeit. Wäre Schiller mit seinem Buch durchgefallen, hätte ihm Engels wohl keine Zeile gewidmet. So aber wurde sein Werk zu einer kränkenden Anfechtung der historischen Wahrheit. In ganz Europa, besonders aber in Deutschland, habe Schillers Drama die Leute verdummt: “Wo ist der deutsche Spiessbürger, der nicht begeistert ist für Wilhelm Tell, der Vaterlandsbefreier, wo der Schulmeister, der nicht Morgarten, Sempach und Murten neben Marathon, Platää und Salamis feiert, wo die hysterische alte Jungfer, die nicht für die derben Waden und strammen Schenkel der sittenreinen Alpenjünglinge schwärmt?” Mit dieser Begeisterung für die archaischen Urschweizer sei es nun aber hoffentlich vorbei.
“Die Demokratie der zivilisierten Länder, die moderne Demokratie, hat also mit der norwegischen und urschweizerischen Demokratie durchaus nichts gemein. Sie will nicht den norwegischen und urschweizerischen Zustand herbeiführen, sondern einen himmelweit verschiedenen.”
Friedrich Engels (1820–1895)
Genau zu dem Zeitpunkt, als das Haus Österreich durch seine imperiale Arrondierungspolitik progressiv geglänzt habe, hätten sich die “widerspenstigen Sennhirten” der Urschweiz für den Kampf “gegen den Andrang der geschichtlichen Entwicklung” entschieden. Es sei dies ein “Kampf der Rohheit gegen die Bildung, der Barbarei gegen die Zivilisation” gewesen. Bereits auf der zweiten Seite seiner Tirade gegen die Vormoderne fühlt sich Engels in der Lage, die Innerschweizer in der Vergangenheitsform zu beschreiben: “Sie waren arm, aber rein von Sitten, dumm, aber fromm und wohlgefällig vor dem Herrn, brutal, aber breit von Schultern und hatten wenig Gehirn, aber viel Wade.” Innovation, von welcher Sorte auch immer, sei diesem Bergvolk fremd gewesen: “Seit dem Tage, wo der erste Ahne Winkelrieds seine Kuh mit den unumgänglichen idyllischen Schellen am Halse auf die jungfräulichen Triften des Vierwaldstätter Sees trieb, bis zu dem jetzigen Augenblick, wo der letzte Nachkomme Winkelrieds seine Büchse vom Pfaffen einsegnen lässt, sind alle Häuser auf dieselbe Weise gebaut, alle Kühe auf dieselbe Weise gemolken, alle Zöpfe auf dieselbe Weise geflochten, alle Käse auf dieselbe Weise verfertigt, alle Kinder auf dieselbe Weise gemacht worden.”
Im Sonderbundskrieg erblickt Engels den “Kampf der zivilisierten, industriellen, modern-demokratischen Schweiz gegen die rohe, christlich-germanische Demokratie der viehzuchttreibenden Urkantone.” Es gebe nur zwei Regionen in Europa, “in denen sich die alte christlich-germanische Barbarei in ihrer ursprünglichsten Gestalt” erhalten habe: Norwegen und die Schweiz. Nur die Zentralisation und der Aufstieg einer städtischen Bourgeoisie könne der Demokratie als Vorstufe der “Herrschaft des Proletariats” zum Durchbruch verhelfen. Engels’ schematische Modernisierungstheorie findet ihre höchste Verdichtung in folgendem Zitat: “Die Demokratie der zivilisierten Länder, die moderne Demokratie, hat also mit der norwegischen und urschweizerischen Demokratie durchaus nichts gemein. Sie will nicht den norwegischen und urschweizerischen Zustand herbeiführen, sondern einen himmelweit verschiedenen.”
Vor dem Hintergrund solcher Betrachtungen mag es als ausgleichende Gerechtigkeit erscheinen, dass Engels auch das Schweizer Bürgertum nicht leiden konnte. Die “Züricher, Luzerner, Berner und Baseler Spiessbürger” hätten die wilden Urschweizer für ihre eigenen Grossmachtpläne benutzt. Immerhin habe sich die städtische Bourgeoisie am Ende, trotz ihrer engstirnigen Profitgier und notorischen Eitelkeit, als Agent des Fortschritts erwiesen. Durch “ihre Industrie, ihren Handel, ihre politischen Institutionen” habe sie eine “Zentralisation” der Nation begonnen, die dem Aufstieg des Proletariats zur herrschenden Klasse den Weg ebnen werde.
Dicklicher Ritter mit Mission
Von hier aus betrachtet erscheint Max Frischs “Wilhelm Tell für die Schule” wie die lakonische Version von Engels’ Tirade in modernisierungstheoretischer Absicht. Der Dichter tritt hier im Gewand des Aufklärers vor die Nation, von der er mehr historisches Reflexionsvermögen erwartet. Dieses Anliegen schuf eine Geschichte, die bis heute – ungeachtet der Tatsache, dass die Dekonstruktion der Tell-Legende bereits im 18. Jahrhundert begann und nach dem Zweiten Weltkrieg zum gutbürgerlichen Ritual wurde – mit Vorliebe als innovativer Akt der Entmythologisierung gelesen wird. In einer frühen, für den «Spiegel» geschriebenen Rezension bemerkte Adolf Muschg zum Ansatz seines Schriftstellerkollegen: “Frisch erfindet, anhand der Tell-Fabel, Vorkommnisse, die sich ebensowohl, ja noch etwas eher abgespielt haben könnten als die schönfärberisch überlieferten.”
Laut Peter von Matt ging es Frisch darum, “den Mythos vom Schützen Tell in einer anderen Sprache zu erzählen: kompromisslos rational”. Frisch habe die Legende “aus der Redeweise des emotionalen in die des kritischen Patriotismus” übersetzt.

Dass es dem kritischen Patriotismus an Emotionen nicht mangelte, wurde allerdings rasch deutlich. Frisch unterdrückte sie jedenfalls nicht, die Gefühle für die als richtig erkannte Sache. Wenige Monate nach der Publikation seines “Wilhelm Tell” äusserte er sich in einer Veranstaltung der Komödie Basel über das Motiv seiner Tell-Geschichte. Dabei bejahte er die Frage, ob er sein Drama in erzieherischer Absicht geschrieben habe. Es sollte der Mythenbildung entgegenwirken, die “in der Volksschule vollzogen und dann bis zur Totalverhärtung durch die bürgerliche Presse fortgesetzt wird”. “Wilhelm Tell” sei “nicht Schillers bestes Drama”, schon deshalb nicht, weil es “keinen Widerspruch” enthalte, es handle sich um das “Agitprop-Stück des deutschen Idealismus”. Gegen Schluss des Gesprächs bemerkte Frisch, dass ihn die “Wahrheit an sich” interessiere. Dies sei auch der Grund, weshalb er immer wieder “Schwierigkeiten mit diesem Land” habe.
Frisch stellte die politische Moral von Schillers Tell-Legende infrage, von der er behauptete, sie präge das nationale Bewusstsein noch immer. Der Einzelkämpfer, der ein Attentat an einem hohen Beamten mit dem Freiheitsanspruch seiner Gemeinschaft rechtfertigt, erschien ihm – nachvollziehbar – als unzeitgemäss. Dennoch handelt es sich hier um weit mehr als eine historische Dekonstruktion. Weder seine Lektüre der Chroniken noch die zweiundsiebzig Fussnoten können darüber hinwegtäuschen, dass auch Frisch sich anschickte, eine Heldengeschichte zu komponieren. Dass er sich dazu keiner im konventionellen Sinne emotionalen Sprache bediente, ist formal nur konsequent.
Um die Bestimmung von Gesslers Handlungsmotiven, die komplexer sind als jene von Tell & Co. – darum geht es in Frischs Buch. Mit ihnen sollen die Schüler – also wir alle – konfrontiert werden.
Zentral für Frischs “Tell” ist das Herausstreichen einer zivilisatorischen Differenz. Wie Engels geht es ihm um den Nachweis, dass die beiden Antipoden – trotz der chronologischen Gleichzeitigkeit, die ihnen die Legende zuschreibt – in verschiedenen historischen Zeiten leben. Um die Bestimmung von Gesslers Handlungsmotiven, die komplexer sind als jene von Tell & Co. – darum geht es in Frischs Buch. Mit ihnen sollen die Schüler – also wir alle – konfrontiert werden. Gessler, den Frisch in Anspielung auf die unsichere Überlieferung auch “Konrad von Tillendorf” oder “Grisler”, meist jedoch schlicht den “dicklichen Mann” oder “dicklichen Ritter” nennt, dieser Gessler ist der Held von Frischs Fabel über die Innerschweiz – ein Held wider Willen zwar, aber doch unzweideutig ein Held, oft an Kopfschmerzen leidend, wobei er sich wiederholt fragt, ob sein Kopfweh der angeschlagenen Leber oder dem lokalen Klima geschuldet sei. Ein Melancholiker ohne destruktive Inferioritätskomplexe ist er, dieser Gessler. Ein Kind der Moderne mit all ihren Unwägbarkeiten und Ambivalenzen.
Beim Anblick der von Schiller mit Freiheit assoziierten Bergwelt kommen dem dicklichen Ritter, diesem Apostel des Fortschritts, Fluchtgedanken: “Persönlich hatte er kein Interesse daran, dass Habsburg sich dieses Tal von Uri untertan machte, im Gegenteil, das hätte bedeuten können, dass er, Ritter Konrad oder Grisler, auf Lebenszeit in dieses Tal versetzt worden wäre – ein Gedanke, der ihn bei helllichtem Tag rückwärts aufs Bett warf …” Auch im Gefühl der Langeweile, von dem der in weltbürgerlich-imperialer Absicht geschickte Spitzenbeamte der Habsburger in der kargen Berglandschaft permanent heimgesucht wird, dokumentiert sich die zivilisatorische Differenz zu den ständig ihre Sensen dengelnden Knechten. In der überwältigenden Natur versinnbildlicht sich die Geschichtsunfähigkeit der Bergbewohner: “So langweilig hatte er sich diese Dienstreise nicht vorgestellt. Offenbar ahnte er nicht, dass er sich in der Urschweiz befand, also an der Geburtsstätte der Freiheit.” Noch deutlicher tritt uns dieser Befund in der Flussszene entgegen. “Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er sah nur noch Tannen und Geröll. Wieder fragte er das Fräulein, ob heute Föhn sei. Dann versuchte er irgendetwas zu denken. Das Fräulein fand den Platz mit Moos sogar entzückend, überhaupt die Gegend, diese Tannen und dieses Geröll und die Wasserfälle und diese Luft. Es war, als stehe die Zeit.”

Mithilfe seines Protagonisten entwirft Frisch eine Landschaft der Kontraste. Wo die Talbewohner schon bei leichter Irritation zur Verbiesterung neigen, besticht Gessler durch Versöhnlichkeit. Frischs Gessler ist ein weiser Technokrat avant la lettre, aber ohne die Allüren, die den falschen Propheten verraten. Er, für den vernünftige Herrschaft sich zwingend aus der Deduktion ergibt, besitzt durchaus anthropologisches Fingerspitzengefühl. Er, der der Erfahrung anderer aus Prinzip misstraut, kann die Motive der in ihren archaischen Bräuchen gefangenen Bergler so nachvollziehen, wie man die Motive fremder Kinder nachzuempfinden sucht. Denn er möchte sich mit den Urnern arrangieren. In der Aussprache, die er mit Exponenten der Waldstätte führt, vertraut er auf die Kraft der Argumente: “Um nicht mit der Türe ins Haus zu fallen, redete der Vertreter von König Rudolfs Erben vorerst allgemein: vom Wandel der Zeit. Obschon man sich ein Ende dieses Mittelalters nicht vorstellen konnte, meinte der dickliche Ritter, ein gewisser Wandel wäre kaum aufzuhalten, sogar zu wünschen, gewisse Einrichtungen auf Erden wären noch zu verbessern usw.”
Wie ausgestopft
Auf Gesslers Anregung, wonach sanfter Wandel vielleicht doch kein Teufelszeug sei, reagiert die Führergestalt der Innerschweiz durch Rezitieren der immer gleichen Formel: “Der Greis von Attinghausen blicket wie ausgestopft, wenn auch ohne Anzeichen von Hirnschlag; er sagte: ‘wie von des chuenges zyten’.” Während die karge Landschaft der Urschweiz sich saisonal verschieden einfärbt, erheben ihre Bewohner das Prinzip der Stasis zur Lebenstugend. Man orientiert sich, schon aus Mangel an Fantasie, am Vertrauten. Während der dickliche Ritter offen redet, verhalten sich die Hirten, sobald sie unter Druck geraten, passiv-aggressiv. Selbst die Frauen haben sich ans vergnüglose Spiel gewöhnt: “Abend mit dem Fräulein von Bruneck. Sie würfelten. Es roch wie immer nach Heu, und man hörte, wie die Knechte ihre Sensen dengelten; Fledermäuse schwirrten. Das Fräulein bedauerte, dass Herr Konrad schon übermorgen die Heimreise antreten wollte; Herr Konrad hingegen war froh, dass er übermorgen wieder unter Menschen sein würde.”
Dass sich die Urner in ihren Bergen und auf ihren Viehweiden rätselhafterweise wohlfühlen, wird von Frisch wie von Engels mehrfach registriert.
Wenige Stunden später ereignete sich der von Frisch im Basler Gespräch als unzeitgemäss bezeichnete Meuchelmord an Gessler. Als Befreiung erfährt der geneigte Leser die Tat auch deshalb, weil ihr Held dadurch aus der geschichtsunfähigen Monotonie der Täler in eine verheissungsvolle Zukunft befördert wird. Hier ereignet sich also eine Erlösung der andern Art. Nicht die von den Chronisten und von Schiller postulierte Befreiung der Gott und das Recht ehrenden Waldstätte vom österreichischen Vogt, sondern jene des aufgeklärten Individuums aus den Fängen einer engen, von Vorurteilen gelähmten Gemeinschaft.
Was Friedrich Engels 1847, von theoretisch-revolutionärer Wut getrieben, vollbrachte, das unternahm Max Frisch mehr als hundertzwanzig Jahre später aus der emotionalen Halbdistanz des kritischen Patriotismus. Beide Autoren geben ihrer Geschichte Sinn, indem sie eine zivilisatorische Differenz postulieren. Dass sich die Urner in ihren Bergen und auf ihren Viehweiden rätselhafterweise wohlfühlen, wird von Frisch wie von Engels mehrfach registriert. Das Beglückungsprogramm, das der dickliche Ritter ihnen ans Herz legt – sie scheinen es nicht begreifen zu wollen. Sie haben nicht auf ihn gewartet. Und das ist der grosse Skandal. Warum nur?
Oliver Zimmer ist Professor an der University of Oxford, wo er Moderne Europäische Geschichte lehrt. Sein Buch, “Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie”, ist 2020 im Echtzeit-Verlag erschienen.

