18. April 2024

Attacke auf das Frühfranzösisch

Der Tamedia-Journalist Quentin Schlapbach und die Journalistin Mirjam Comtesse haben in den Berner Tageszeitungen BUND und Berner Zeitung über die neusten Entwicklungen des Frühfranzösischunterrichts berichtet. Dabei stellen sie Aussagen von einzelnen Schülerinnen Untersuchungen der Universität Freiburg gegenüber. Die Haltung der Bildungsdirektion lässt tief blicken: Wir planen keine Anpassungen.

Mirjam Comtesse, Journalistin in der Tamedia:
Studien scheinen den Kritikern recht zu geben.

Französischunterricht in einer dritten Klasse in der Stadt Bern: Die Kinder gestalten Plakate. Ins Zentrum kleben sie ein Foto von sich. In die Ecke oben links schreibt ein Mädchen «J’aime lire» und zeichnet ein Harry-Potter-Buch dazu. Ein Bub setzt über sein Bild «Je m’appelle Moritz». Die Kinder wirken konzentriert, die Arbeit macht ihnen sichtlich Spass. Die einen verweilen allerdings lieber beim Zeichnen als beim Schreiben. «Ich finde es toll, wenn wir im Französischunterricht Übungen machen, bei denen wir auch malen und basteln dürfen», sagt die 9-jährige Elina. «Auch Vorträge machen mir Spass. Einmal durften wir unsere Haustiere vorstellen. Dafür haben wir ein Plakat auf Französisch gestaltet. Vor der Klasse habe ich dann Deutsch sprechen dürfen, nur eine Passage habe ich auf Französisch von einem vorbereiteten Blatt abgelesen.»
Elina arbeitet in der Schule mit dem Französischbuch «Mille feuilles». Das Lehrmittel, welches 2011 im Kanton Bern flächendeckend für 3. bis 6. Klassen eingeführt wurde, soll einen spielerischen Einstieg in die Fremdsprache ermöglichen. «Mille feuilles» basiert auf der Grundidee des «Sprachbades», dass die Kinder Französisch also «en passant» aufnehmen und nicht durch das Pauken von Vokabular und Grammatik. Doch in der Praxis hat dieser Ansatz nie wirklich funktioniert, wie Auswertungen zeigen.

Doch in der Praxis hat dieser Ansatz nie wirklich funktioniert, wie Auswertungen zeigen.

Keine besseren Resultate
Eine 2019 erschienene Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit in Freiburg kommt zum Schluss, dass es um die Französischkenntnisse der Berner Schülerinnen und Schüler insgesamt schlecht bestellt ist. Nur gerade beim Hörverstehen erreichte eine Mehrheit (57 Prozent) das angestrebte Niveau. Beim Leseverstehen (33 Prozent) und beim Sprechen (11 Prozent) schnitten die Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit deutlich schlechter ab. Die sechs Kantone, die Frühfranzösisch im Lehrplan verankert haben (Bern, Baselland, Basel-Stadt, Solothurn, Freiburg und Wallis), steckten sich vor Jahren bewusst höhere Ziele als jene in der restlichen Deutschschweiz. Die Studie zeigt nun aber, dass Frühfranzösisch kein Vorteil ist. Obwohl die Kinder im Kanton Bern bereits ab der 3. Klasse Französisch lernen und insgesamt mehr Lektionen haben, beherrschen sie die Sprache am Ende ihrer Schullaufbahn nicht besser als etwa Jugendliche in Zürich, die erst zwei Jahre später damit anfangen.

Alain Pichard, mit 67 Jahren immer noch im Schuldienst, Mitglied des Grossen Rats des Kantons Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission (GLP): Es wäre an der Zeit, die Fakten anzuerkennen.

Das sorgt für Kritik. In Bildungsblogs und Gastbeiträgen in den Medien mehren sich die Stimmen, die Frühfranzösisch generell infrage stellen. Der Bieler Lehrer und GLP-Grossrat Alain Pichard sagt, es gebe zurzeit «durchaus Bestrebungen», am frühen Französischunterricht zu rütteln. «Als Mitglied der kantonalen Bildungskommission bin ich in allen sechs betroffenen Kantonen in Kontakt mit Parlamentariern, welche die Sache ähnlich beurteilen.» Einen Hinweis darauf, dass das Thema brodelt, gibt die Situation in Basel: Die Starke Schule beider Basel – eine Gruppierung von Eltern und Lehrkräften – will den Französischunterricht aus der Primarschule verbannen. Sie plant, im Baselbieter Landrat einen entsprechenden Vorstoss einzubringen, wie Telebasel berichtet. Auch der SVP-Bildungspolitiker Samuel Krähenbühl übt scharfe Kritik an der heutigen Praxis. «Frühfranzösisch ist im Kanton Bern gescheitert», sagt der Grossrat. Krähenbühl nimmt eine wachsende Zahl von Politikerinnen und Politikern von links bis rechts wahr, die das mittlerweile offen so aussprechen. Es scheint vor allem eine Frage der Zeit zu sein, bis auch im bernischen Grossen Rat ein ähnlicher Vorstoss wie in Baselland lanciert wird.

«Frühfranzösisch ist im Kanton Bern gescheitert.» Samuel Krähenbühl SVP-Grossrat und Bildungspolitiker

Samuel Krähenbühl, Grossrat SVP: Fühfranzösisch ist gescheitert.

Der SVP-Grossrat sitzt selbst im Vorstand des Vereins Bern-Bilingue, welcher das Ziel verfolgt, die Mehrsprachigkeit im Kanton zu fördern. Dass Bern aufgrund seiner Zweisprachigkeit dem Französischunterricht mehr Gewichtverleiht als andere Deutschschweizer Kantone, unterstützt er ausdrücklich. «Aber wenn man sieht, dass ein Konzept in der Praxis nicht funktioniert, bringt es nichts, daran festzuhalten», so Krähenbühl.

Die drei Französischmodelle
Viele Kritikerinnen und Kritiker schoben die Schuld an den schlechten Ergebnissen auch dem Lehrmittel «Mille feuilles» in die Schuhe. Der Druck auf die Berner Bildungsdirektion (BKD) ist über die Jahre so gross geworden, dass sie seit diesem Schuljahr erstmals auch Alternativen zulässt. Die Schulen haben nun die Wahl zwischen drei Modellen:

1. Sie belassen alles beim Alten:
Von der 3. bis zur 6. Klasse kommt «Mille feuilles» zum Einsatz, von der 7. bis zur 9. Klasse «Clin d’CEil», das ebenfalls vom Schulverlag plus stammt.
2. Sie wählen eine Mischform:
Für Frühfranzösisch (3. und 4. Klasse) wird weiterhin «Milles feuilles» genutzt, von der 5. bis zur 9. Klasse dann «Dis donc!», ein Lehrwerk des  Schulmittelverlags Zürich.
3. Sie wagen den Totalumbruch:
Von der 3. bis zur 6. Klasse wird das neue Lehrmitte «roule» eingesetzt, von der 7. bis zur 9. Klasse «C’est p». Beide stammen vom Klett-und-Balmer-Verlag.

Wir sind der Überzeugung, dass die Französischkompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit allen Lehrmitteln adäquat gefördert werden.

Wie viele Schulen bereits auf dieses Schuljahr hin von «Mille feuilles» abgewichen sind, kann die BKD auf Anfrage nicht sagen. Es gebe keine entsprechende Übersicht. Und auch eine systematische Auswertung, welches der drei Modelle sich in der Praxis am besten bewährt, sei nicht geplant. «Wir sind der Überzeugung, dass die Französischkompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit allen Lehrmitteln adäquat gefördert werden», heisst es seitens der BKD.

Wie beurteilen Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten selber? Der 13-jährige Felix, der in der zweiten Oberstufe ist, erzählt: «Ich spiele Landhockey. Dabei trainieren wir jeweils mit französischsprachigen Jugendlichen, und da habe ich schon das Gefühl, dass mir der bisherige Französischunterricht hilft. Ich kann mich recht gut verständigen und verstehe meistens auch, was die anderen sagen. Über unser Lehrmittel habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, unser Lehrer bereitet aber manchmal zur Ergänzung eigene Arbeitsblätter vor. Das finde ich gut.»

Andere Lehrmittel im Test
In der Stadt Bern, wo Felix zur Schule geht, wird «Milles feuilles» nach wie vor in allen sechs Schulkreisen eingesetzt. Jedoch gibt es seit diesem Schuljahr einzelne Klassen, die im Rahmen eines Testversuchs auch mit den anderen Lehrmitteln arbeiten. Die überarbeitete Version von «Mille feuilles» werde bei den Lehrpersonen zwar als Verbesserung wahrgenommen, sagt Schulamtleiterin Luzia Annen. «Es gibt aber nach wie vor auch kritische Stimmen.» Ein Wechsel des Lehrmittels sei deshalb in den Stadtberner Schulen «ein Thema». Nach der laufenden Testphase werde evaluiert, wie die verschiedenen Lehrmittel sich in der Praxis bewährt haben. Ob und wann in der Folge ein Wechsel stattfindet, entscheiden letztlich die Schulkreise selbst.

Annen will den Sinn von Frühfranzösisch nicht generell infrage stellen. «Aus meiner Sicht bringt Frühfranzösisch auf jeden Fall auch Vorteile und Chancen mit sich, indem Möglichkeiten geschaffen werden, dass Kinder spielerisch und altersgerecht mit der Sprache in Kontakt kommen.» Jedoch höre sie von den Schulen, dass bei der Umsetzung von Frühfranzösisch noch «justiert» werden müsse.

Die 11-jährige Mayra spricht daheim teilweise Italienisch. War es für sie schwierig, schon in der dritten Klasse eine weitere Sprachezu lernen? «Nein, mir hat das Französische von Anfang an gefallen. Das Italienische hilft mir, weil mir manche Wörter bekannt vorkommen.» Es gibt auch Kinder, die das ganz anders sehen als Mayra, Enna und Felix. Doch mehrere angefragte Stadtberner Schülerinnen und Schüler, die Französisch «sinnlos» und «doof» finden, wollten sich lieber nicht öffentlich äussern. Sie werden sich mit dem Französischunterricht wohl in naher Zukunft weiterhin arrangieren müssen. Denn auch wenn der politische Druck zunimmt, wird eine Abkehr von Frühfranzösisch nicht so schnell möglich sein.

Christine Häsler, Bildungsdirektorin: Wir haben bei Mille Feuilles reagiert.

Im Ermessen der Regierung
Der Fremdsprachenunterricht sei gemeinsam mit 22 anderen Kantonen koordiniert, sagt die Berner Bildungsdirektion auf Anfrage. Während die Westschweizer Kantone ab der 3. Klasse Deutsch büffeln, lernen die Kinder in der Ost- und der Innerschweiz zuerst Englisch. Der Kanton Bern habe als Brückenkanton entschieden, mit Französisch im 3. Schuljahr und Englisch im 5. Schuljahr zu beginnen, so die BKD. «An diesen Beschlüssen sehen wir keinen Anpassungsbedarf.» Die Kritik am Lehrmittel habe man aber ernst genommen, weshalb nun auch Alternativen zugelassen seien.

Ob es noch weitere Reformen bei Frühfranzösisch geben wird, liegt letztlich im Ermessen des Regierungsrats. Zwar kann der Grosse Rat seine Meinung in Form einer Richtlinienmotion deponieren. Weil der Erlass beziehungsweise die Genehmigung von Lehrplänen aber im Zuständigkeitsbereich der Regierung liegt, muss ein parlamentarischer Beschluss nicht verbindlich umgesetzt werden.

 

 

Verwandte Artikel

Der Schrauber ist wieder da

Es gibt in unserem Land eine Schicht, über die, oder besser über deren zunehmendes Fehlen, viel geschrieben wird: Die sogenannten Fachkräfte, Techniker, der gut ausgebildete Teil der produktiven Arbeiterschaft, hier kurz „Schrauber“ genannt. Hubert Geissler beschreibt in seinem Beitrag das Arbeitsleben seines Bruders im Zeitalter des “Fachkräftemangels”

Forschung in Gefahr

Fast die Hälfte der Hochschulforschung wird über Drittmittel finanziert. Der Großteil der wissenschaftlichen Mitarbeiter hat befristete Arbeitsverhältnisse. Diese Kombination behindere die Forschungsfreiheit, denn abhängige Wissenschaftler neigen zur Selbstzensur. Dies ist die Schlussfolgerung einer Analyse von Dr. Sandra Kostner von der PH-Schwäbisch-Gmünd, die zuerst im Deutschlandfunk erschienen ist. Condorcet-Autorin Regula Stämpfli hat ihn uns zugeschickt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert