Typisch Lehrer?

Unser frischgebackener Pensionär und Condorcet-Autor, Alain Pichard, macht zurzeit (Not-)Stellvertretungen. Dabei hat er eine chaotische Situation erlebt, die ihn an eine Geschichte aus seiner Lehrerzeit erinnert. Sein Beitrag rührt aber auch ein unbequemes Thema an. Es geht um die Zuverlässigkeit der Lehrkräfte.

Alain Pichard, frisch pensionierter Lehrer, Mitglied der Condorcet-Redaktion
Bild: fabü

Es geschah während einer Stadtführung in La Chaux-de-Fonds. Die Führerin mühte sich redlich ab, den Anwesenden die phänomenale Städtestruktur der Uhrenmetropole im Jura zu erklären. Etwa die Hälfte der 20 Schülerinnen und Schüler hörte interessiert zu. Zwei Mädchen redeten miteinander, zwei andere lachten laut, weil sie bemerkten, dass einer ihrer Kollegen nicht mehr anwesend war. Eine von ihnen griff zum Hörer, um den Vermissten aufzuspüren. Lautes «Aha», Wegerklärungen, saloppe Sprüche und ein Gekichere waren die Folge. Die Städteführerin musste dies bemerkt haben, fuhr dennoch tapfer fort.

Der Klassenlehrer blickte zurück, verzog aber keine Miene. Am Schluss sollten die vier Mädchen nach einem freien Ausgang sagen, es sei eine “doofe Stadt” gewesen. Man habe einen Coiffeursalon gesucht, nicht einmal das gebe es an diesem komischen Ort. Und eine meinte, Stadtführungen interessierten sie eh nicht.

Man könnte dieses Ereignis abbuchen unter dem beliebten Thema der ach so unmotivierten heutigen Schülergeneration. Die Krux ist allerdings, dass es sich bei dieser Gruppe nicht um eine Oberstufenklasse mit einem peinlich berührten Klassenlehrer handelte, sondern um einen Kollegiumsausflug. Die vier Schülerinnen waren allesamt Lehrkräfte, darunter eine Geschichtslehrerin, der Klassenlehrer war der Schulleiter.

Oft unmotivierter als die Schüler

Oft undisziplinierter als Schüler

Es ist bekannt: Die Schulmeister des Landes können sich ab und zu an Fortbildungsanlässen, Konferenzen oder Seminarien genauso verhalten wie unmotivierte Schulklassen. Sie kommen zu spät in den Kurs, sprechen mit dem Tischnachbarn, fallen einander ins Wort, tippen auf dem Handy herum, korrigieren ihre Schularbeiten, hören nicht zu und stellen Fragen, die vor fünf Minuten bereits beantwortet wurden.

Im Zeitalter von Teams, so erzählte es mir mein Grosskind, habe sie um 21.00 Uhr noch Aufträge von Lehrkräften erhalten, verschickt in der natürlichen Erwartung, dass sie diese öffnen und lesen würde. Umgekehrt gibt es immer noch Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Mails und Chats höchstens alle drei Tage mal lesen. «Ich weigere mich, immer erreichbar zu sein!», lautet dann der Gegenangriff.

Ein Drittel hat die Hausaufgaben nicht gemacht

In einer Schulwelt mit immer mehr Teilpensen, Projekten, krankheitsbedingten Ausfällen und unbezahlten Urlauben steigt der Kommunikationsbedarf ins Unendliche. Über diverse Kanäle werden Absprachen vorgenommen, Vertretungen organisiert und Aufträge erteilt. Aber was passiert, wenn diese von den Lehrkräften nicht gelesen werden? Schulklassen stehen vor verschlossenen Räumen, belagern das Lehrerzimmer, erboste Eltern melden sich, was denn das für eine Organisation sei, und eine gegenseitige Vorwurfskanonade beginnt. Ein Kollege erzählte mir, dass er seinem Kollegium zwei Wochen vor einem Schulungsanlass zu Office 365 eine Mail geschickt habe. «Sie haben alle einen Link erhalten mit der Aufforderung sich dort einzuloggen und ein Passwort zu generieren, damit wir unmittelbar starten können. Fast ein Drittel der Lehrkräfte kam kurz vor der Schulung zu mir und fragte mich, wie man sich da einloggen könne. Sie hätten das Mail nicht erhalten oder es übersehen.»

Das zeigt: Können, Disziplin und Verantwortungsbereitschaft von Lehrkräften sind fragil. Es bedarf auch hier einer Kontrolle und Führung. Das kann nur durch eine geleitete Schule mit praxisnahen Schulleiterinnen und -leitern erfolgen. Sonst droht eine Mc Kinsey-Intervention und ein 100-seitiger Organisationsleitfaden.

 

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