Alain Pichard - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 30 Sep 2023 07:53:09 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Alain Pichard - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Bevölkerung hat dies schon längst verstanden https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/ https://condorcet.ch/2023/09/die-bevoelkerung-hat-dies-schon-laengst-verstanden/#comments Fri, 29 Sep 2023 10:29:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=15037

Ein breit abgestütztes Komitee aus Mitte, FDP, GLP und Bildungsexperten möchte in den Zürcher Gemeinden bei Bedarf wieder Kleinklassen, also Förderklassen für Schüler mit besonderen Bedürfnissen, einführen. Yasmine Bourgeois, Schulleiterin, Condorcet-Autorin und FDP-Gemeinderätin in Zürich hat vergangene Woche mit zahlreichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Initiative für die Wiedereinführung von Kleinklassen lanciert. Alain Pichard hat mit ihr gesprochen.

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Condorcet

Frau Bourgeois, die Initiative lässt es den Gemeinden offen, wieder Förderklassen einzuführen. Sie verpflichtet sie aber, diese bei Bedarf zur Verfügung zu stellen. Wer entscheidet über den Bedarf?

Yasmine Bourgeois, Zürich, Primarlehrerin, Schulleiterin, Gemeinderätin FDP und Mitinitiantin der Volksinitiative: Der Gegenwind stärkt die Flügel.

Yasmine Bourgeois

Das ist in der Regel die Schulpflege. Sie ist vor Ort und kennt die Verhältnisse, da sie mit Schulleitung und Lehrkräften laufend direkt in Verbindung steht.

Mit anderen Worten, die Gemeinden können auch auf die Einführung der Förderklassen verzichten?

Wenn kein Bedarf herrscht, ist das so. Die Initiative will den Entscheid den Leuten an Ort überlassen und respektiert die Gemeindeautonomie. Wenn aber ein Bedürfnis besteht, muss sie es tun.

Und was passiert, wenn die Förderklasse zwar eröffnet wird, die Eltern aber auf der integrierten Schulung bestehen?

Man kann die Eltern nicht zwingen. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Widerstände im direkten Gespräch lösen lassen werden. Die Förderklasse ist ja nicht nur als Entlastung für die Regelklassen und deren Lehrpersonal gedacht, sondern sie berücksichtigt vor allem auch die spezifischen Bedürfnisse der betroffenen Kinder.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben.

Alain Pichard, Condorcet-Autor, führte das Gespräch.

Glauben Sie? Sie werden doch stigmatisiert, wenn sie in Förderklassen abgeschoben werden.

Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben. Die Kinder erhalten eine angepasste Förderung, werden von Heilpädagogen unterrichtet und können verlässliche Beziehungen aufbauen. In vielen inkludierten Schulen erfahren die schwächeren und die verhaltensauffälligen Kinder eine alltägliche Stigmatisierung, was häufig auch der Grund für eine verstärkte Verhaltensauffälligkeit ist.

In der gegenwärtigen Debatte geht es ständig um die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen. Sie verunmöglichen teilweise einen Unterricht und bringen die Lehrpersonen an den Rand der Belastbarkeit. Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte es aber auch Kleinklassen für die schwächeren Schüler geben.

Ja, das ist meine Überzeugung. Denn grundsätzlich müssen die Kinder in der Schule optimal gefördert werden, also ihr Leistungsvermögen ausschöpfen können. Die Gefahr bei diesen Kindern, die sich oft sehr brav und unauffällig benehmen, ist, dass sie untergehen, weil die Lehrkraft viel zu wenig Zeit hat, sich ausgiebig um sie zu kümmern.

Verhaltensauffällige und schwache Kinder in eine einzige Kleinklasse zu versetzen, kann ja auch nicht die Lösung sein. Die schwächeren, aber willigen Kinder drohen unter die Räder zu kommen.

Diese Gefahr besteht immer, ist aber in der Regelklasse viel ausgeprägter. Die Initiative überlässt es den Behörden, hier die praktikablen Lösungen zu finden. Aber vergessen Sie nicht, diese zukünftigen Förderklassen werden von Heilpädagogen geführt, also von Profis, die genau für diese Situationen ausgebildet sind.

Im Prinzip haben wir im Kanton Bern dieses Modell, das Sie in Zürich einführen wollen, schon längstens. Die linke Stadt Biel zum Beispiel hat Kleinklassen und niemand in dieser Stadt will sie abschaffen. Warum tut man sich in Zürich so schwer mit diesem Anliegen?

Viele Lehrkräfte sowie ein Grossteil der Eltern – kurz ein grosser Teil der Bevölkerung – haben schon längstens eingesehen, dass die Verabsolutierung des Inklusionsgedanken ein Irrweg ist. Es ist diese Allianz von einem Teil der Wissenschaft, Politik und Verwaltung, die das noch nicht einsehen und handeln will.

Warum nicht?

Niemand gibt gerne zu, dass er sich geirrt hat…

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll.

Immerhin zitieren die Leute dieser Allianz oft die Wissenschaft, nach der es klar sei, dass Inklusion nicht nur humanistisch eine gute Sache sei, sondern auch funktioniere.

Da muss ich Ihnen widersprechen. Erstens ist es nicht die Wissenschaft, sondern ein Teil der Studien, von mir aus auch eine Mehrheit, die zu diesen Befunden kommt. Ich empfehle Ihnen einmal die dänische Studie von Nina T. Dalgaard: «Die Auswirkungen der Inklusion auf

Nina Dalgaard, Bildungsforscherin Universität Kopenhagen.

schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen». Der Befund dieser Metastudie ist – ich zitiere: «Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll. Oft sind in den Studien auch Gelingensbedingungen formuliert, die nie diskutiert werden und die Forschungen sind meisten nicht „peer reviewed“, also von einer unabhängigen Fachinstanz eines Wissenschaftsmagazins überprüft. Und noch etwas: Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen. Ich halte mich da an die Praxis, den Alltag, und den erlebe ich selbst als Schulleiterin.

Sie sind Mitglied der FDP und als Schulleiterin in der links-dominierten Zürcher-Schullandschaft fast noch seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen. Wie politisiert es sich aus dieser Minderheitsposition?

Man könnte mit einem ergänzenden Bild antworten. Der Gegenwind stärkt die Flügel. Man benötigt schon etwas dicke Haut Damit muss ich leben.

Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor:
Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor: Lernten uns durch den Condorcet-Blog kennen.

Schulleiterin, Mitglied des Gemeinderats, Initiantin einer Volksinitiative und Nationalratskandidatin der FDP… ist das nicht ein wenig viel?

Ja, das stimmt… Ab und zu ist die Belastung enorm. Ich habe ein gutes Umfeld und bin belastbar. Das hilft…

Sie sind Condorcet-Autorin, hilft Ihnen unser Bildungsblog auch?

Er liefert mir wertvolle Informationen und auch Kontakte. Den Heilpädagogen Bonfranchi, der bei unserer Initiative mitwirkt, oder den ehemaligen SP-Präsidenten in Basel, Roland Stark, der in Basel eine ähnliche Initiative lanciert und erfolgreich eingereicht hat, habe ich in Ihrem Blog kennengelernt. Und ja, das muss ich auch feststellen: Im Condorcet-Blog kommen beide Seiten zu Wort. Man erhält auch Gegeninformationen, was die Diskursfähigkeit stärkt.

Frau Bourgeois, wir danken Ihnen für das Gespräch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Es gibt immer noch zu viele Tabus in der Bildungsdebatte https://condorcet.ch/2023/09/es-gibt-immer-noch-zu-viele-tabus-in-der-bildungsdebatte/ https://condorcet.ch/2023/09/es-gibt-immer-noch-zu-viele-tabus-in-der-bildungsdebatte/#respond Thu, 21 Sep 2023 11:22:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=14958

Der Journalist Daniel Wahl hat sich auf Bildungsthemen spezialisiert und hat schon deshalb ein Alleinstellungsmerkmal, weil er die gängigen Bildungsnarrative der Bildungsnomenklatura hartnäckig hinterfragt. Der 54-jährige Vater von vier erwachsenen Kindern lebt im Kanton Baselland und arbeitet beim Nebelspalter. Er war selber einmal Primarlehrer in Seltisberg (BL) und kennt deshalb die Schule als Praktiker, von der Elternseite sowie als politischer Berichterstatter. Seine ersten Schritte in den Journalismus wagte er beim Gratisanzeiger Baselstab. Es folgten die Stationen Telebasel und Baz, bevor er zu seinem aktuellen Tätigkeitsfeld wechselte, dem Nebelspalter. Der Condorcet-Blog veröffentlichte schon viele seiner Berichte. Ein Grund, sich einmal mit diesem Journalisten zu unterhalten. Alain Pichard traf ihn in Basel.

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Condorcet:

Wenn man die Bildungsberichterstattung in der Schweiz liest, haben Sie schon fast ein Alleinstellungsmerkmal. Sie hinterfragen und sind stets kritisch. Könnte das damit zu tun haben, dass Sie als Vater oder selbst als Schüler eigene Erfahrungen aufarbeiten mussten?

Daniel Wahl

Ich hatte eine unauffällige Schulkarriere, die im damals dörflichen Therwil begann, wo ich die Primarschule besuchte. Durch einen Umzug hatte ich auf der Sekundarstufe 1 im Nachbardorf Oberwil gewisse Anbindungsschwierigkeiten, aber sicher kein Trauma (lacht). Prägender waren da meine Erfahrungen als Vater von vier Kindern.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Sie liegen oft auf der Linie unseres Bildungsblogs.

Ganz frech gefragt: Wie waren Sie als Schüler?

Nach der Primarschule war ich war kein besonders guter Schüler mehr. Die Beziehungen zu den Lehrern habe ich als distanziert erlebt. Vieles funktionierte bei mir über die Beziehung. Eine Ausnahme darin war der Mathematiklehrer, auf der Sekstufe 1, auf dessen Citroën Deux chevaux ein Kleber «Atomkraft, nein danke» prangte.

Ganz stereotyp damals…

Genau, der hatte eine tolle Beziehung zu den Schülern und fiel mir durch seine Menschlichkeit auf.

Mit Ihrer Kritik an der gegenwärtigen Bildungspolitik liegen Sie sehr oft auf der Linie des Condorcet-Blogs. Könnten Sie mir zwei, drei Hauptfehlentwicklungen des derzeitigen Bildungsgeschehens nennen?

Beginnen wir mal mit den Lernlandschaften und dem Werkstattunterricht, die ja der Individualisierung dienen sollten…

Und die Eigenaktivität der Schüler fördern wollten…

Diese Lernformen haben amerikanische Grossraumbüros zum Vorbild und die Schulstube zur anonymisierten Bürolandschaft umfunktioniert. Sie entwickelten sich zu einer «Papierliwirtschaft», waren in Wirklichkeit Frontalunterricht vom Feinsten und erzeugten eine unheilvolle Distanz zur Lehrkraft. Dann halte ich die Umsetzung der integrativen Schule für einen der schwerwiegendsten Eingriffe in unser Schulsystem. Sie hat zu viel Unruhe, zu viele Akteure ins Schulzimmer gebracht, erfordert zu viele Absprachen, sprich Bürokratisierung. Sie ist zu kompliziert. Und schliesslich finde ich, dass mit der Einführung des kompetenzorientierten Unterrichts das Fundament des Bildungsbürgertums erodiert. Die auf allen Ebenen kompetenten Schüler wissen nicht mehr, was sie wissen sollten.

Daniel Wahl, Journalist beim Nebelspalter: Vorgefasste Meinungen sind nicht so mein Ding.

Von welchem Fundament sprechen Sie da? Und wer soll denn definieren, was sie wissen sollen?

Grundsätzlich wird der Bildungskanon durch das Leben und die Erwartung an eine selbstbestimmte, mündige Existenz definiert. Ich denke natürlich auch, dass sich der Bildungskanon im Laufe der Zeit verändert.

Können Sie das etwas konkreter ausdrücken?

Ohne Basiswissen geht es nicht. Dazu ein Beispiel. Die Bundestagsabgeordnete Emilia Fester blamierte sich in der Öffentlichkeit, weil sie das Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland nicht nennen konnte und ebenso wenig wusste sie, dass Bismarck der erste Reichskanzler war. Ich bin überzeugt, dass die Schule ihr die Kompetenz vermittelt hat, solche Informationen zu erarbeiten. Aber ihr Wissen war im richtigen Moment nicht abrufbar. Und schlimmer noch: Sie verspürte gar keine Notwendigkeit dazu, das Wissen je abrufen und sich einprägen zu müssen. Ohne feste Bezüge kann aber keine Entwicklung entstehen, es bleibt alles bruchstückhaft. Die Formel «These – Antithese – Synthese», die in der Aufklärung ihre grosse Blüte erfuhr, lässt sich nicht ohne Wissen anwenden. Die immer schriller und polemisch werdenden Debatten in den Medien sind Ausdruck dass wir die Formel gar nicht mehr anwenden.

 Noch einmal: Wer definiert, was die Schüler wissen sollen?

Er wird vom jeweiligen kulturellen Raum auf Basis seiner Werte von seinen Kindern eingefordert. Es ist eine kulturelle Vereinbarung, die sich «buttom up» definieren sollte. Auch dazu ein Beispiel: Was ist uns die Rechtschreibung wert, warum sollten wir sie einfordern? Wer einen Liebesbrief ohne profunde Kenntnisse der Rechtschreibung verfassen will, hat ein soziales Problem. Der oder die Empfängerin denkt beim Lesen: Er oder sie gibt sich keine Mühe und nimmt sich keine Zeit für mich. Sollten wir also die Rechtschreibung nun aus Bequemlichkeit preisgeben und heute der KI überlassen?

Man bleibst den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.

Aber Schreiben ist eine Kompetenz…

Gewiss doch …. und immer an konkrete Formen gebunden, welche die Literatur hervor- und zur Blüte gebracht hat. Leider hängt die heutige Generation zunehmend auf Whatsapp-Niveau.

Was ist da falsch?

Die heutige Jugend schreibt viel, kommuniziert viel, kritisierte eine Germanistin von der Universität Basel meine skeptische Einstellung gegenüber den heutigen Deutschunterricht. Aber mal ehrlich: Die Kommunikation in den Sozialen Medien, die von Hieroglyphen dominiert wird, ist getrieben, ohne Reflexionsfähigkeit. Man bleibt den formalen Plattitüden verhaftet und ist nicht selbstbestimmt.

Wie informieren Sie sich über die Bildungsthemen?

Ich habe mittlerweile ein festes Netzwerk von Lehrkräften, Unternehmern, Lehrlingsausbildnern. Dazu kommen meine Erfahrungen als Vater und dann ist ja da noch die immer grösser werdende Bildungsliteratur. Und, das darf man nicht vergessen, jedes Interview, das man führt, jede Recherche führt zu Exzellenz, also zu vermehrtem Wissen.

Und wie vermeiden Sie Einseitigkeit?

Margrit Stamm: Erfrischend undogmatisch

Ich habe mir die Neugier bewahrt und nehme für mich in Anspruch, ehrlich zu fragen, um hinhören zu können. Vorgefertigte Meinungen sind nicht mein Ding.

Sie treffen in Ihrer täglichen Arbeit viele Menschen aus dem Bildungsbereich. Wer ist Ihnen da besonders aufgefallen?

Da fällt mir die Bildungsforscherin Margit Stamm ein. Sie ist erfrischend immun gegen ideologische Behauptungen und hat einen pragmatischen Zugang zu ihren Untersuchungsfeldern. Das führt hin und wieder zu überraschenden Thesen, wie zum Beispiel ihre Ergebnisse über den phänomenalen Bildungswert der Secondos. Auch das Gespräch mit dem emeritierten Bildungsforscher Juergen Oelkers über den Reformwahn im Bildungswesen blieb mir nachhaltig in Erinnerung.

Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.

Eines der Narrative der derzeitigen Bildungspolitik ist die Gleichung «mehr Geld = bessere Leistungen». Sie haben letzthin im Nebelspalter den Bericht des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern vorgestellt, der dieses Narrativ in Frage stellt. Haben Sie das Gefühl, dass im Bildungsbereich Geld auch verschwendet wird?

Ich sehe derzeit vor allem im universitären Bereich, der ja unglaubliche Summen verschlingt, eine problematische Mengenausweitung. Besonders im Bereich Geisteswissenschaften. Es kommen Master- und Bachelorarbeiten auf den Markt in nie gekanntem Ausmass, die uns kein bisschen weiterbringen.

Wir haben da als Gegenstück die Fachhochschulen…

Um ihre Hörsäle und Klassenzimmer füllen zu können, müssen sie Studenten im Ausland rekrutieren. In Shanghai und so weiter. Und sie drängen leider auch immer mehr in die universitären Gebiete vor und treiben parallel zu den Universitäten die Grundlagenforschung voran, statt bei den angewandten Wissenschaften zu bleiben.

Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie.

Die Player in der Bildungspolitik finden sich derzeit in den Bildungszentralen unseres Landes. Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben. Wo sollte die Bildungspolitik nach Ihrer Meinung ansetzen?

Eine grosse Frage. Die Bildungsverwaltungen bedienen heute zu stark die Bildungsbürokratie. Mit der Möglichkeit, alles messbar zu machen und zu dokumentieren, will man heute angeblich die Bildungsqualität steigern. Aber da sind praxisferne Leute in den Schaltzentralen grosser Bildungstanker mit dem Unvermögen, auf Fehl- und Kollisionskurse zu reagieren. Die Einführung von Frühfranzösisch mit ihren Lehrmitteln «Mille feuilles» und «Clin d’oeil» ist ein solches Beispiel. Bis das korrigiert ist, vergeht eine Generation.

Welche Rolle spielen dabei die Lehrerverbände?

Sie sind den Bildungsverwaltungen zu nah und hörig. Sie orientieren sich nach «oben»; seltsam, dass sie kaum auf ihre Basis hören.

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin: Ihre Forderungen entsprechen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie.

Aber die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler gibt ja selber noch Schule!

Während in zahlreichen Kantonen Eltern und Lehrer die integrative Schule in Frage stellen, entsprechen Röslers Stellungnahmen genau den Vorstellungen der Bildungsbürokratie. Vielleicht ist eine solche Haltung das Eintrittsbillett, um die Pforten zum Palast des Bildungsestablishments zu durchschreiten. Ein paar Jahre war ich in der Schulpflege, beziehungsweise im Schulrat. Da habe ich selbst erlebt, dass man mit der Einführung der Schulleitungen die Korporale eingesetzt hat, welche die behördlichen «Glücksverheissungen» durchsetzen sollen. Ich will das System Schulleitung dabei nicht schlecht reden. Es gibt einige hervorragende, kritische und umsichtige Schulleitungen. Aber sie haben es im System schwer und müssen sich immer wieder absichern.

Die weissen Raben, sozusagen

Grossartige Ausnahmen!

Die Bildungsberichterstattung erlebt ja derzeit eine regelrechte Blüte. Berichte aus der Schule sind en vogue, oder sehen Sie das anders?

Ich denke, es macht sich ein Malaise bemerkbar. Die Gesellschaft merkt, dass da etwas nicht mehr stimmt. Vielen Jugendlichen geht es nicht mehr gut. Sie sind psychisch anfällig, wenig kritikfähig, zu wenig resilient. Ich kenne Lehrmeister, die daran fast verzweifeln. Zudem produziert das teuerste Schulsystem der Welt an die 20 Prozent Illetristen. Da kann doch etwas nicht stimmen. Somit spiegelt die Berichterstattung in den Medien dieses gesellschaftliche Unbehagen.

Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen.

Und woran krankt die Bildungsberichterstattung?

Es gibt immer noch zu viele Tabus. Man sieht den Elefanten im Raum nicht oder weigert sich, ihn zu benennen. Dazu zähle ich die Migration, die die Volkschule an den Anschlag gebracht hat. Aber man hat Angst, über die Folgen der Einwanderung wie ungebremst wachsende Schülerzahlen, Lehrermangel, Förderkurse, Schulhausbauten zu reden, weil man meint, damit fremdenfeindliche Gefühle zu bedienen. Was passiert gesellschaftlich: Wir haben zu wenig Nachwuchs, die Geburtenziffer ist weit unter dem Wert, damit sich die Bevölkerung erhält. Wir kompensieren das Manko mit der Migration. Ökonomisch ausgedrückt: Die Paare haben ihre Erziehungsleistung ins Ausland ausgelagert, die Gesellschaft kauft den Nachwuchs mit der Einwanderung ein. Der Preis dafür ist sehr hoch und muss von der Volksschule bezahlt werden. Das sollte man ansprechen.

Eltern in die Pflicht nehmen. Der Kanton Thurgau wurde vom Bundesgericht zurückgepfiffen.

Ein heisses Eisen…

Und nicht das einzige… Ein anderes ist, dass viele Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben. Und sie tun das auch nur, weil sie es sich erlauben können. Mit offenen Armen übernimmt vielerorts die Schule diese Erziehungsleistung.

Um nachher darüber zu klagen, was sie alles übernehmen muss…

Und mit den entsprechenden Forderungen nach Aufstockung der Ressourcen… Die Schule meiner Kinder glaubte, sie müsse mit den Schülern den Jahrmarkt, in Basel, die Herbstmesse, besuchen. Dabei ist das die Aufgabe der Eltern, der Göttis und der Grosseltern. Weil das Zeitbudget der Schule beschränkt ist, geht diese Erziehungsleistung der Schule immer auf Kosten der Bildung.

Es bleibt ihr auch nichts anderes übrig; wir haben ja Schulpflicht.

Der Kanton Thurgau wollte Eltern, die nicht dafür sorgten, dass ihre Kinder vor dem Schuleintritt angemessen Deutsch können, bezahlen lassen – für Deutschkurse entsprechend ihrem Niveau. Das Bundesgericht pfiff die Behörden zurück. Ganz dahingestellt, ob dies wirklich die richtige Massnahme war, gilt es doch festzuhalten, dass es diese Ansätze gäbe. In einem Milizsystem wird auch erwartet, dass man gemeinsam Feuerwehrdienst leistet oder der Armee dient. Warum soll nicht von Eltern eingefordert werden, ihrem Nachwuchs das Sprechen so beizubringen, dass ihr Kind schulreif ist? Leider fehlt die Bereitschaft, dies offen zu diskutieren.

Wie haben Sie dies als Vater gelöst?

Als ich merkte, dass meine Kinder in der Schule bis zur fünften Klasse keinen Aufsatz schreiben mussten, dass das Verständnis in ihren Texten nach drei, vier Sätzen völlig auseinanderbricht, habe ich sie gezwungen, jeweils in den Ferien einen Aufsatz zu schreiben.

Sie werden Sie dafür geliebt haben…. Haben Sie sie auch korrigiert?

Sie haben mich gehasst. Und ja, selbstverständlich habe ich sie korrigiert.

Und benotet?

Nein. Ich habe sie mit ihnen ausführlich besprochen – und oh Himmel – sogar ins Reine schreiben lassen. Heute lachen wir am Abendtisch darüber.

Daniel Wahl, ich danke Ihnen für das Gespräch

 

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Dürrenmatt reloaded 2023 https://condorcet.ch/2023/09/duerrenmatt-reloaded-2023/ https://condorcet.ch/2023/09/duerrenmatt-reloaded-2023/#comments Fri, 15 Sep 2023 08:51:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=14925

Im bernischen Kantonsparlament wurde ein Vorstoss behandelt, der das Rauchen auf Spielplätzen verhindern sollte. Condorcet-Autor Alain Pichard (Grossrat der GLP) lehnte den Vorstoss ab und erntete viel Schelte. Die Debatte erinnerte ihn an eine Rede des verstorbenen Dichters Friedrich Dürrenmatt.

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1990 hielt der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (er verstarb im selben Jahr) zu Ehren von Vaclav Havel eine viel beachtete und stark kritisierte Rede, in welcher er die Schweiz als ein Gefängnis bezeichnete (hier auch als Video). Ein Gefängnis, in dem eigentlich nicht klar sei, wer die Gefangenen und wer die Wärter seien. Im damaligen historischen Kontext wurde die Rede als antibürgerliche Kritik an den starren politischen Verhältnissen der Schweiz interpretiert, was vornehmlich die politische Linke diebisch freute. Allerdings ließ sich der streitbare Literat nie in ein politisches Schema drängen, und so erreicht seine Rede noch dreissig Jahre später eine vielleicht noch aktuellere und treffendere Bedeutung als damals. Zumindest der Vorstoss, der ein Rauchverbot auf öffentlichen Spielplätzen forderte, weckte beim Autor dieser Zeilen bekannte und auch resignative Reminiszenzen.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Die Linke hat einen Röhrenblick.

So hatte er während der letzten 20 Jahre immer wieder mit Geboten, Eingriffen, Regulierungen zu kämpfen, die allesamt dem Schutz eines ominösen und wandelbaren Kollektivs dienen sollten, aber unmerklich auch einen kulturellen Rückschritt einleiteten.

Die traditionelle Weihnachtsfeier unserer Schule sollte in der alten ehrwürdigen Aula stattfinden. Schließlich traf die Nachricht ein, dass wegen Brandschutzbestimmungen die Aula nicht von mehr als 50 Personen betreten werden dürfe. Folge: Die Weihnachtsfeier durfte nicht in der Aula ausgerichtet werden.

Unser Schulhaus erhielt einen Erweiterungsbau. Alle freuten sich: hellere Räume, breitere Gänge, eine hervorragende, nach neuesten Energiestandards erstellte Isolation mit einem raffinierten Heizungssystem, ein Meisterwerk des schweizerischen Ingenieurswesens. Die Bilder in den Gängen, die Tische und Stühle, die wir für Einzelarbeiten installiert hatten, die Pflanzen, die ein gewisses Cachet vermittelten, müssten aber, so der Brandschutzexperte, entfernt werden.

Zweiseitiger Bestimmmungskatalog für das Skifahren

Wenn heute ein Lehrer mit seiner Klasse nach einer dreistündigen Wanderung an einen Bergsee gelangt, müsste er eigentlich, wenn er über kein Lebensretterdiplom verfügt (was alle 5 Jahre erneuert werden muss), die nach Abkühlung lechzende Klasse stoppen. Und wenn er selbst im Besitz eines solchen Zertifikats ist, dann darf er nicht mehr als 10 SchülerInnen in seiner Gruppe das Baden erlauben, weil es sonst nämlich noch eine zweite ausgebildete Fachperson braucht.

 

In immer dichtere Gefilde

Wenn ich heute mit meiner Klasse eine Badeanstalt besuche, wird mir als verantwortlichem Klassenlehrer immer öfter eine Art Vertrag vorgelegt (Rekord: 2 komplette Seiten in der Badi Zurzach), welche sämtliche Eventualitäten regeln soll. Ohne Unterschrift keinen Eintritt. In meinem Fach lag ein zweiseitiger Katalog von Sicherheitsbestimmungen, der das Skifahren im Skilager gefahrenfrei machen soll.

Dem langjährigen Bäcker, der an unserer Schule Gipfeli, Sandwichs und auch Schokodrinks verkauft hatte, wurde der Auftrag entzogen. Grund: Die Ernährungsvorschriften der Stadt lassen so etwas nicht mehr zu. Gewünscht sind Vollkornbrötchen, Äpfel, Gemüseschnitten und Darwida. Folge: Unsere Schüler decken sich in der nahegelegenen Migros mit Süßigkeiten ein.

Ernährungsvorschriften lassen dies nicht mehr zu.

Mein Großkind durfte in Zürich an seiner Schule zu seinem Geburtstag nicht mehr einen zu Hause gebackenen Schokoladenkuchen für seine Klasse mitbringen. Auch hier liessen es die Ernährungsvorschriften nicht mehr zu. Am traditionellen „Sächselüte“-Umzug in Zürich durfte ein 6-jähriger als Cowboy verkleideter Knirps nicht mit seinem „Käpseliplastikgewehr“ am Umzug teilnehmen. Seine Kindergärtnerin hatte es ihm untersagt. Ich erhielt von der Lehrerin meines Sohnes einen mahnenden Brief, das Pausen-Sandwich nicht mehr in Alufolie einzupacken (was mir zu meiner Schande wirklich passiert ist, weil mir die Plastikfolie ausgegangen war). Immer mehr Schulen diskutieren Kleidervorschriften, verbieten Trainerhosen und bauchfreie Kleidung. Für Velotouren werden an den Schulen neuerdings «Outdoorkonzepte» eingefordert. Unseres verschlang mehrere Sitzungen und umfasste schliesslich sieben Seiten.

Cowboy mit Käpseligewehr? Verboten

„Reformieren“, „Reglementieren“, „Strukturieren“

In einem weiteren Sinn macht diese Regulierungswut auch nicht vor unserem Unterricht halt. Es gibt kaum eine Behörde, Fachstelle oder Beratungsinstitution, die nicht ständig am „Reformieren“, „Reglementieren“, „Strukturieren“ und „Konzeptionieren“ ist.

Wenn unsere Biologie- und Chemiestudenten ihren Abschluss in der Tasche haben, dürfen sie die auf staatlichen Rat und staatliches Geheiß erworbenen Kenntnisse gar nicht anwenden. Bei der Gentechnik sind uns so schon einige tausend Arbeitsplätze verloren gegangen, bei der Nanotechnologie droht dasselbe.

Diese Reglementierungswut stößt in immer neue Gefilde vor, welche die individuellen Lebensweisen des Einzelnen betreffen und dies in aller Freiheit.

Wenn eine Großmutter oder Tante regelmäßig Kinder hütet, hätte sie nach Ansicht unserer Regierung eine Ausbildung absolvieren müssen (dieser Vorschlag unserer Landesregierung wurde allerdings schubladisert). Als Fan eines Fußballclubs steht eine zwangweise Fankarte zur Debatte, als Velopendler droht mir ein Helm-Obligatorium.

In Basel können Eltern gebüßt werden, wenn sie ihre Kinder nicht vor 22.00 Uhr ins Bett schicken oder selber einen Elternabend „schwänzen“. In den Städten will man die Pausenplätze, beliebte Aufenthaltsplätze für Jugendliche, an Sommerabenden außerhalb der Schulzeiten für die Öffentlichkeit schließen.

Schulfest: kein Alkoholausschank

Nur noch Süßmost, Mineralwasser und Tee

Das alljährliche Schulhausfest, ein beliebter Anlass, der meistens bis spät nach Mitternacht ein gemütliches Zusammensein von Lehrkräften, Eltern, Behördenmitgliedern und Ex-Schülerinnen zulässt, soll künftig ohne Alkoholausschank auch für die Erwachsenen stattfinden. In unserer Nachbargemeinde, wo diese Regelung umgesetzt wurde, werden nur noch Süßmost, Mineralwasser und Tee in Plastikbechern ausgeschenkt. Coca-Cola scheitert an den Zuckerbestimmungen. Die Folge: Nach der Theatervorführung verziehen sich die Eltern in die Restaurants oder nach Hause, der Pausenplatz darf nach 20.00 Uhr bereits aufgeräumt werden.

An unserem Schülerband-Festival im Freien kamen kürzlich zwei Spezialisten des Bundesamtes für Gesundheit und maßen die Dezibel. Aufatmen: Wir erfüllten die Auflagen, wenn auch knapp.

 

„Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich“ (Dürrenmatt)

 

Sinnvolle Regelungen gegen das Rauchen z.B. in Restaurants werden zu Kreuzzügen.

Die Linke hat einen Röhrenblick

Im Kantonsparlament reichte die Linke wieder einmal einen Verbotsvorstoss ein. Das Rauchen auf Spielplätzen sollte verboten werden. Ich konterte mit einer persönlichen Schilderung: «Wenn ich am späten Abend vom Bieler Bahnhof auf dem Velo nach Hause fahre, nehme ich die Route über den Strandboden. Ich fahre an einem grossen Spielplatz vorbei, der zu dieser Zeit natürlich kinder- aber nicht menschenleer ist. Rund um diesen Spielplatz sammeln sich Jugendliche, viele mit Migrationshintergrund und – zurzeit – recht viele Eritreer. Die Restaurants sind für sie zu teuer, von den öffentlichen Plätzen im Stadtzentrum werden sie wegen Lärm oft weggewiesen und so ziehen sie sich an diesen scheinbar anonymen Ort zurück. Sie trinken, hören aus Boxen laut Musik, kiffen und ja, sie rauchen auch, und einige tun dies sogar ab zu auf einem der Spielgeräte. Und ja, da kann es vorkommen, dass der eine oder andre Zigarettenstummel im Sand liegen bleibt. Ich frage Sie nun, sollen wir hier uniformierte Polizisten hinsenden und diese Kids wegjagen, verzeigen oder sogar büssen?»

Dieses Votum brachte die Linke in Rage. «Unverantwortlich», «schrecklich», «wie kann man nur?», hallte es aus den ratsinternen Lautsprechern. Es wurden minutiös die Gefahren von Nikotin aufgezählt, an die Gefahren von unachtsam hingeworfenen Zigarettenstummeln für die Kinder erinnert, den «Schwächsten unserer Gesellschaft», die es zu schützen gelte.

Kurzum, es wurde die Moralkeule ausgepackt. Wenn aber moralisches Handeln die Debatte bestimmt, dann verwandeln sich sinnvolle Verbote, wie gegen das Rauchen in Restaurants, unvermittelt zu regelrechten Kreuzzügen. Die Verbotsanhänger haben einen Röhrenblick und verschliessen sich einem Gesamtbild. Sie stellen sich keine Fragen über Wirkung und Folgen. Sie spüren nicht, dass sie dabei sind, unsere Schulen, unsere Gesellschaft in eine Richtung zu entwickeln, die uns in den prüden, spiessigen und repressiven 60er-Jahre-Modus zurückentwickelt oder – was natürlich alle ablehnen – uns in eine Art «Swiss-Singapur» transformiert. Vor allem aber verfehlt die Verbotstendenz ihre Wirkung.

„Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behauptet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.“ (Dürrenmatt)

Das Muster dabei ist immer dasselbe: Eine Minderheit von Personen hat ein Problem oder macht Probleme (Raser, Hooligans, Alkoholsüchtige, Übergewichtige, Raucher, Nichtschwimmer, Nichthelmträger). Daraufhin werden Regelungen, Verbote und Gesetze erlassen, welche die große Mehrheit der Bevölkerung einschränkt, zum Verdruss der Regulatoren aber die Zielgruppe oft gar nicht trifft, weil diese sich eh nicht an Regeln halten.

Gefangene tragen keine Verantwortung. Wenn immer mehr Aufgaben und Pflichten an den Staat delegiert werden, wenn immer mehr Regeln den gesunden Menschverstand ersetzen, der bei einem überwiegenden Teil der Bevölkerung vorhanden ist, dann interessieren uns diese Aufgaben und Pflichten gar nicht mehr.

Eigentlich sind Gefängnisse für Gesetzesübertreter da. Aber wenn ein Staat, der seine Kernaufgaben im Wesentlichen gelöst hat, auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern um die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ein immer dichteres Netz von Gesetzen, Regelungen, Vorschriften und Verboten zieht, dann droht eine potenzielle Kriminalisierung.

Die Folgen sind Einschränkung der persönlichen Freiheit, geistige Stagnation, praxisferne Öde und eine Lähmung des gesellschaftlichen Austausches.

“Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit”. (Dürrenmatt, „Die Schweiz ist ein Gefängnis“, 1990)

Gefangene tragen keine Verantwortung. Wenn immer mehr Aufgaben und Pflichten an den Staat delegiert werden, wenn immer mehr Regeln den gesunden Menschverstand ersetzen, der bei einem überwiegenden Teil der Bevölkerung vorhanden ist, dann interessieren uns diese Aufgaben und Pflichten gar nicht mehr.

Wir verbannen Eigenverantwortung, Reflexion und Diskurs

Es wäre ja unsere Aufgabe, unseren Schüler zu lehren, mit dem Überangebot an Esswaren umgehen zu können, mit dem sie außerhalb der Klassenzimmer konfrontiert sind. Mit einer Verbannung setzen wir ironischerweise nicht nur die im Lehrplan «gepredigten» Kompetenzen «wie kritisches Denken» oder «Mündigkeit» aufs Spiel, sondern auch die Eigenverantwortung, die dynamische Selbstbestimmung, den Diskurs und den freien Geist. Leben ist auch Wagnis, Erfolg beruht auf Scheitern, Entwicklung auf Wettbewerb.

Gesetze sollten nicht eine ideale Welt mit idealen Menschen zum Ziel haben, sondern sich an der Wirklichkeit abarbeiten. Die Wirklichkeit kann am Ende sehr eigensinnig sein, aber gerade das macht ihren Reichtum und Reiz aus. Oder mit den Worten von Friedrich Dürrenmatt: „Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.“

Wann werden die Gefangenen revoltieren?

Einen Anfang machte ein Schüler von mir. Dimitri hieß er und er schrieb in unserer Schulhauszeitung: „Ich bin schlank, habe keine Probleme mit dem Gewicht, verhalte mich anständig und möchte mir ab und zu in der Pause ein Gipfeli leisten. Jetzt befiehlt man mir, die Mütze auszuziehen und Darwidaguetzli zu essen. Ich glaube, ich ersticke hier langsam.“

Der Junge war damals 15 Jahre alt und hatte schon viel begriffen.

Nachtrag: Der Vorstoss wurde klar abgelehnt. Durch den Rat ging ein Graben. Die SP, eine Mehrheit der Grünen, die EDU und die EVP unterstützten das Verbot, Die SVP, die Mitte, die FDP und die GLP sprachen sich geschlossen dagegen aus.

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Die 8B und die Liebe zum Kebab https://condorcet.ch/2023/08/die-8b-und-die-liebe-zum-kebab/ https://condorcet.ch/2023/08/die-8b-und-die-liebe-zum-kebab/#comments Thu, 31 Aug 2023 10:40:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=14877

Die Junglehrerin Rebecca Schär – sie wurde auf diesem Blog bereits einmal als PH-Studentin interviewt (https://condorcet.ch/2020/12/interview-mit-einer-ph-studentin-habe-mir-den-beruf-nicht-so-cool-vorgestellt/) - startet zum Beginn der Berufswahlkunde mit ihrer Klasse ein mutiges und spektakuläres Projekt. Ihre 8.-Klässler übernahmen kurzerhand eine grössere Kebabbude im Bahnhofquartier von Biel. Ihr ehemaliger Mentor, Condorcet-Autor Alain Pichard, liess sich mit Freunden von den Kids bewirten.

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«Am Mittag war viel Betrieb, die Mittagsgruppe hat das aber gut hingekriegt», sagte die leicht nervöse Klassenlehrerin Rebecca Schär, welche den Schulunterricht für eine Woche in ein Kebab-Imbiss verlagerte. Sie wohnt gerade um die Ecke. In ihrer Wohnung sitzen derzeit vier Schülerinnen – es handelt sich um die Bürogruppe – und kalkulieren die Einnahmen, berechnen Bestellungen und machen natürlich eifrig Werbung für ihr Projekt. Rebecca Schär ist eine Art Stammkundin dieses Restaurants. Die Vegetarierin schätzt die Qualität des berühmten Haloumi-Dürüms und der Falafels sowie die Freundlichkeit des Besitzers. Die aktive Eishockey-Spielerin kommt des Öfteren spät nach dem Training nach Hause und da sei ein kleiner Imbiss Abstecher im «City-Food» ab und zu im Programm. Doch wie kam sie auf die Idee, diesen Laden mit ihren Schülerinnen und Schülern zu übernehmen?  «Im OSZ-Orpund, (ihre Schule) haben die Schülerinnen und Schüler bereits einmal vor Corona das Hostel «Lago Lodge» für eine ganze Woche übernommen mit grossem Lerneffekt und viel Freude. Da sagte ich mir, dass wir das doch auch machen könnten!»

Alain Pichard: Die Schüler haben etwas gelernt
Rebecca Schär, Klassenlehrerin: Am Schluss dieser Woche bin ich ein Kebab.

Rebecca Schär fragte zuerst den Besitzer, Huseyn Sar, ob dieser sich vorstellen könnte, seinen Betrieb einer 8. Klasse für eine Woche zu übergeben. Huseyn Sar, kurdischer Türke, war von Anfang an begeistert und sagte zu. Danach galt es die Einwilligung der Schulleitung einzuholen, sowie das Klassenteam um Unterstützung zu bitten. Die Schulleitung war ohne Problem dabei. Und auch das Klassenteam half tatkräftig bei den Vorbereitungen mit. Die Werklehrerin betreute die Jugendlichen beim Bedrucken der T-Shirts mit Namen und Logo und eine weitere Lehrperson half beim Bauen der Holz-Schilder für den Eingangsbereich. Eine Mutter half, die leckeren Baclavas, welche die Schülerinnen den Gästen nach erfolgter Konsumation auftischen konnten, zu backen.

Viele Eltern sagten zu, dass sie mit ihren Freunden und Verwandten vorbeikommen würden. Huseyn Sar, der die Kids in einem Schnellkurs schulte, ist des Lobes voll: «Die Jungen haben schnell gelernt. Natürlich fehlt ihnen noch das Tempo und die Routine.  Aber die Dürüms werden sehr gut präpariert und eingepackt. Für mich ist das eine «win-win-Situation». Es kommen viele Gäste, die sonst nie das City-Food betreten würden. Und wer weiss, vielleicht kommen sie ja wieder.»

 

City Food befindet sich an zentraler Lage

Huseyin Sar, Besitzer des City Food: Ich arbeite gern mit diesen jungen Menschen.

Ein besonderer Umstand beschert Huseyn Sar noch weitere Kundschaft. Sein Restaurant befindet sich in der Nähe des Bahnhofs und vor der Bushaltestelle der Meinisberger-Linie. Genau dieser Bus bringt viele Ex-Schülerinnen und -Schüler – inzwischen Lehrlinge oder Gymnasiastinnen – nach Ende der Schule in ihre Gemeinden. Sie sehen ihre ehemaligen jüngeren Mitschülerinnen und kommen spontan in das Restaurant.

Die Schüler arbeiten in Schichten, die immer 4 Stunden dauern. Es gibt eine Servicegruppe, eine Kochgruppe, Medienarbeitende, eine Einkaufs- und Finanzabteilung und eine Putzequipe. «Das Putzen machen sie wirklich sehr gut», freut sich Huseyn Sar, «und es ist wirklich streng, denn mein Restaurant wird natürlich vom Lebensmittelinspektorat kontrolliert.»

Wie steht es mit dem Lohn, wollte ich wissen. Rebecca Schär: «Wir haben andere Ziele. Die Schüler erfahren konkret, was es heisst, in einem Restaurationsbetrieb zu arbeiten. Sie arbeiten als Team zusammen, werden gefordert und müssen auch unter Stress cool bleiben. Wir stellen ein kleines Klassenkässeli auf, da können die Besucher, wenn sie wollen und zufrieden sind, uns einen kleinen Zustupf geben. Ansonsten sind wir hier, um herauszufinden, wo unsere Stärken und Schwächen sind und was wir für Ansprüche an unseren künftigen Beruf haben».

Der Stress zu den Stosszeiten machte uns Mühe

Die Schülerinnen und Schüler haben sichtlich Spass an dieser Woche. Neel, der für den Service verantwortlich ist, bedient die Gäste wie ein Profi, aufmerksam, freundlich und immer fragend, ob man noch etwas möchte. Philippa entpuppt sich als wahrer Putzteufel. Levy und Mila kommen aus dem Büro mit den neusten Flyern. Es herrscht ein Kommen und Gehen. «Wenn die Leute am Mittag kommen, wird es streng»,

Philippa erwies sich als wahrer Putzteufel.

Elowan: Zu Hause putze ich nicht so gerne.

meint Elodie, welche an der Theke arbeitet und die Dürüms und Co. vorbereiten muss. Der Stress in den Rushhours sei denn auch die grösste Herausforderung, meint Tonja. Da gäbe es Momente, die ihr nicht gefallen, aber das sei ja wohl auch ein Teil des Projekts, fügte sie hinzu. Elouan hilft im Service und wäscht das Geschirr ab. Zu Hause tue er das nicht gerne, hier gefällt es ihm. Überhaupt hat er ein Auge für anstehende Aufgaben und hilft aus, wenn Not am Mann ist. Ahmed, der im Service arbeitet, ist offensichtlich für die gute Laune zuständig. Seine Fröhlichkeit weht durch alle Ecken des Restaurants. Elodie meint, dass die 4 Stunden gut seien. Am Mittag könnte sie ohne Weiteres länger arbeiten, am Abend sei sie froh, wenn sie nach Hause gehen könne.

Die Schulleiterin Nadine Streit liess es sich nicht nehmen mit ihrer Familie im City Food Mittag zu essen. Für einmal etwas ganz Neues, meinte sie verschmitzt. Sie gab die Bewilligung, ohne zu zögern. Einziger Wermutstropfen: das Tempo bei der Zubereitung der Waren. Während den Stosszeiten bildeten sich Schlangen, was einzelne Kunden dazu bewog, zu einem anderen Kebab-Imbiss zu gehen. «Ich habe am Mittag einfach nicht so viel Zeit», meinte eine Verkäuferin, welche sich jeweils am Mittag ein Sandwich holt. Aber schon am 3. Tag gelangen die Handgriffe geschickter, wurde die Zubereitung geübter, lief die Ausgabe flinker.

Am dritten Tag wurden die Handgriffe flinker.

Ich verlasse das Restaurant mit einem etwas wehmütigen Gefühl. Die Schülerinnen und Schüler der 8b werden am Schluss der Woche viel gelernt haben. Und Junglehrerinnen wie Rebecca Schär bestätigen mit ihren innovativen Ideen eine Weisheit des verstorbenen Buchautors Remo Largo: «Wo Schule schön ist, ist sie ein Geschenk an das Leben.»

Reportage des Lokalradios canal3

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Mehr Geld, aber nicht mehr Qualität im Bildungssystem https://condorcet.ch/2023/07/mehr-geld-aber-nicht-mehr-qualitaet-im-bildungssystem/ https://condorcet.ch/2023/07/mehr-geld-aber-nicht-mehr-qualitaet-im-bildungssystem/#comments Wed, 26 Jul 2023 08:23:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=14634

Condorcet-Autor Alain Pichard hat die Politik des "Immer-Mehr" stets kritisch beurteilt. Seiner Meinung nach müssten die Investitionen auch eine Wirkung erzeugen, vor allem, wenn sie fast ungebremst wachsen. Nun hat eine neue Studie des IWP (Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik) seine Befürchtungen bestätigt. Die Quintessenz: Mehr Geld führt nicht immer zu mehr Bildungsqualität.

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Tatort Grossrat in Bern: Während der Budgetdebatte im Dezember letzten Jahres forderte der Grünen-Politiker Manuel C. Widmer, dass man das Budget im Bereich der Bildung um 40 Millionen Franken erhöhen solle. Zur Frage, wo und wie das zusätzliche Geld investiert werden sollte, gab er einige Tipps: Bessere Löhne, Entlastungen der Lehrkräfte, mehr Personal in der Integrationsarbeit. Und er untermalte seine Geldforderung mit einer Metapher: „Wenn man ein Feuer entfachen will und es brennen soll, braucht es Holz. Wir können kein Feuer bestellen, wenn wir das Holz dazu nicht liefern.“

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Es gibt nur die Addition, das Immer-Mehr.

Damit liegt der Mann ganz auf der Linie der Personalverbände, deren Allzweckwaffe für alle Probleme im Bildungsbereich sich bekannterweise auf eine Forderung reduzieren lassen: Mehr Feuer bzw. mehr Holz oder im Klartext – mehr Geld!

Anna-Katharina Zenger, Sekretärin von Bildung Bern: Teamteaching und maximal 20 Schülerinnen pro Klasse.

Die Forderungen von Bildung Bern (bernischer Lehrerinnen- und Lehrerverband) der letzten Monate wurden in einem Condorcet-Beitrag https://condorcet.ch/2022/09/die-krokodilstraenen-der-lehrer-und-lehrerinnenorganisationen/ thematisiert: „LCH, Bildung Bern und andere kennen in ihrem politischen Handeln nur die Quantität.  Lohnerhöhungen? Unbedingt! Arbeitszeitverkürzung? Auf jeden Fall! Harmos? Nur zu! Tagesschulen? Ein Muss! Begabtenförderung? Von uns aus! Qualitätskontrollen? Super! Frühfranzösisch? Perfekt, brauchen wir! Probleme mit der Integration? Mehr Heilpädagoginnen! Probleme mit schwierigen Schulklassen? Teamteaching! Überlastung der Klassenlehrkräfte? Eine zweite Entlastungslektion! Soziale Probleme in Brennpunktschulen? Mehr Schulsozialarbeit! Zu viel Bürokratie? Gemeinden müssen mehr Schulsekretärinnen einstellen, um die Lehrer und Schulleitungen zu entlasten!“ Anna Katharina Zenger wird in einem BUND-Beitrag folgendermassen wiedergegeben: «Die Gewerkschafterin fordert deshalb maximale Klassengrössen von 20 Kindern und durchgehendes Teamteaching vom Kindergarten bis zur zweiten Klasse sowie mehr zeitliche Ressourcen bei gleichen Aufgaben für die Schulleitungen.»  (https://www.derbund.ch/wieso-lehrpersonen-ihr-pensum-nicht-erhoehen-wollen-761786151125).

Im Jahr 2020 haben Bund, Kantone und Gemeinden 40,8 Milliarden Franken für Bildungszwecke ausgegeben. Eine Zuwachsrate von 250%

Viele dieser Maximalforderungen wurden im bürgerlich dominierten Grossrat abgelehnt, was von Gewerkschaftsseite gelegentlich als „Kaputtsparen bei der Bildung“ kommentiert wird. Dass die Bildungsausgaben grundsätzlich aber steigen, bestreitet niemand. Im Jahr 2020 haben Bund, Kantone und Gemeinden 40,8 Milliarden Franken für Bildungszwecke ausgegeben. Dieser Betrag entspricht 16,2% der gesamten öffentlichen Ausgaben und 5,9% des Bruttoinlandprodukts.

Erwin Sommer, Leiter des bernischen Volksschulamtes: 16’429 Fr. pro Schüler und Schülerin.

1996 betrugen Sie noch 16, 6 Milliarden Franken. Das entspricht einer Zuwachsrate von knapp 250%. Auch der Anteil am Bruttosozialprodukt stieg von 4,2 % auf knapp 6%. Angesprochen auf die Kostensteigerung erklärte der Leiter des bernischen Volksschulamtes, Erwin Sommer: Mehr Schülerinnen und Schüler, mehr Lektionen wegen des Lehrplan 21 und Reallohnerhöhungen für den Kindergarten und die Primarstufe. Interessant war seine Auskunft über die Kosten pro Schüler. Sie betragen derzeit im Kanton Bern 16‘429 Fr. und liegen im Schnitt der Bildungsausgaben der Kantone. Es ist genau diese Zahl, die uns interessieren muss. Denn, dass bei mehr Schulkindern auch die Kosten steigen, ist eine Binsenwahrheit. Die Frage muss daher lauten: Wie viel Geld gibt die Öffentliche Hand pro Schulkind aus? Und wie hat sich diese Zahl entwickelt?

Am 4.6.21 schrieb Andri Rostetter in der NZZ: „Die Kantone und die Gemeinden investierten 2018 im Durchschnitt gut 20 000 Franken pro Schülerin und Schüler auf obligatorischer Schulstufe. Das ist ein Anstieg von 22 Prozent innert 10 Jahren.“

Die Frage muss daher lauten: Wie viel Geld gibt die Öffentliche Hand pro Schulkind aus? Und wie hat sich diese Zahl entwickelt?

Daniel Wahl vermerkte im Nebelspalter: „Kein Staat der Welt investiert mehr Geld pro Schüler in die Ausbildung als die Schweiz. Die Ausgaben im Bildungswesen sind in den letzten zwanzig Jahren stark gestiegen. Während die durchschnittlichen realen Ausgaben im Jahr 1999 bei 12’074 Franken pro Studierendem lagen, beliefen sie sich im Jahr 2019 auf 18’370 Franken. Im Durchschnitt stiegen die Ausgaben pro Schüler innerhalb von zwei Jahrzehnten um 52,15 Prozent.“ (Nebelspalter 22.7.23)

Der Personalaufwand (Löhne der Lehrerinnen und Lehrer sowie des Überbaus)

 

Pierre-Yves Grivel, ehem. FDP-Präsident Kanton Bern: Jeder Franken Investition in die Bildung ist ein guter Franken.

Eine der Prämissen in der Volkswirtschaftslehre ist das Gesetz der Knappheit der Ressourcen. Dieses Prinzip wird zwar in Zeiten der stetigen Geldvermehrung scheinbar ausgehebelt, hat aber immer noch seinen Stellenwert in der Ökonomie. Die Bildungsausgaben werden im Ökonomenjargon auch Bildungsinvestitionen genannt. Und bei Investitionen gibt es immer ein „Return on Invest“, sprich eine Renditeerwartung. Was also erwarten Bildungsverantwortliche, wenn sie mehr Geld in die Bildung investieren? Für den ehemaligen Grossrats- und Parteipräsidenten der FDP Pierre-Yves Grivel (Biel) ist die Antwort klar: An einem Podiumsgespräch (2.4.2006 in Biel) sagte er: „Jeder Franken, der in die Bildung investiert wird, ist ein guter Franken!“

Die Worte aus dem Munde eines bürgerlich-liberalen Politikers lassen sich wohl vor allem damit erklären, dass Herr Grivel selbst Lehrer war und damit auch teilweise als Interessenvertreter bezeichnet werden muss. Bildungsökonomen sehen die Dinge etwas nüchterner. Wenn man mehr Geld in ein Bildungsprojekt investiert, sollten wohl auch bessere Bildungsleistungen die Folge sein.

Die Studie des IWP

Genau diese Frage untersuchten Matthias Biedermann, Melanie Häner und Christoph Schaltegger, Leiter des Wirtschaftsinstituts IWP an der Universität Luzern.

Dr. Melanie Häner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Bildung beim IWP Luzern: Man sollte sich fortan genau überlegen, wo man im Bildungswesen investiert.

Die Konklusion ihrer Studie, die sich einem aufwändigen „Peer-review-Prozess” unterzogen hat, spricht eine deutliche Sprache: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen höheren Bildungsausgaben und klügeren Schülern. Wenn man sie konkret auf den bedeutendsten Bildungsraum der Schweiz, den Kanton Zürich umlegt, dann lässt sich zum Beispiel Folgendes verlässlich behaupten: Wenn die Stadt Zürich wie vom Volk beschlossen 174 Millionen in Tagesschulen investiert und der Kanton Zürich mit weiteren 150 Millionen Franken Klassenlehrer entlasten will, wird dies keinen messbaren Effekt auf die Ausbildungsqualität haben. Weder werden die Schulabgänger besser lesen noch werden mehr minderprivilegierte Kinder höhere Bildungsabschlüsse machen können.

Trotz dieser erheblichen Mehrausgaben ist der sogenannte „Output“ gesunken. Mittlerweile erreichen gerade noch 62,2 Prozent beim Abschluss der obligatorischen Schulzeit die Grundkompetenzen in Mathematik. In Deutsch sind es nur noch 88,2 Prozent. Mit anderen Worten: Rund ein Viertel der Schulabgänger im teuersten Bildungssystem der Welt erfüllt die Mindestanforderungen nicht mehr.

Trotz höherer Ausgaben sinken die Leseleistungen.
Die IWP-Studie wurde vom European Journal of Political Economy peer-reviewed.

Vergleichbarer Bildungsraum

Daniel Wahl schreibt im Nebelspalter: “Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu. Ebenso wenig die Analyse, dass zusätzliche Bildungsausgaben keinen Einfluss auf die Leistungen der Schüler haben. Solche Aussagen machten schon zigfach andere Studien, die die Bildungssysteme der Länder miteinander verglichen. Sie belegten, dass Schulabgänger in teuren Bildungssysteme nicht die besten Pisa-Resultate liefern.

Doch diese internationalen Studien gerieten schnell in Verruf. Kritiker warfen den Autoren jeweils vor, bei den oft grundlegenden verschiedenen Bildungssystemen in den verschiedenen Ländern Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Sie würden beispielsweise die Effekte von Hochlohnländern mit Billiglohnländern vernachlässigen. Solches kann man nun Melanie Häner und Christoph Schaltegger, deren Studie in der Fachzeitschrift European Journal of Political Economy peer-reviewed veröffentlicht wurde, nicht mehr vorwerfen.

Die beiden haben die Auswirkungen unterschiedlicher Bildungsausgaben unter den Kantonen in der Schweiz verglichen, in einem Bildungsraum, der um Harmonisierung seiner Schulsysteme bemüht ist. Der Vorteil: Die Ausbildung ist in allen Kantonen mindestens bis zum Ende der Primarschulzeit sehr ähnlich und darum leichter vergleichbar. Dennoch sind die Pro-Kopf-Ausgaben in der engräumigen Schweiz derart gross, dass eigentlich Effekte auf die Bildungsqualität zu vermuten wären.”

Wallis und Freiburg: besser und günstiger als Basel-Stadt

Beispielsweise investierte der Kanton Wallis im Jahr 2019 lediglich 13‘300 Franken pro Schüler und Schuljahr, der Kanton Freiburg knapp 11‘000 Franken , der Kanton Basel-Stadt dagegen aber satte 28‘600 Franken. Dennoch trägt der Kanton Basel-Stadt nach nationalen Checks regelmässig die rote Laterne. Und das, obwohl er auch in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten zusätzliche finanzielle Mittel ins Bildungssystem pumpte: 1999 waren es 14’016 Franken pro Schüler; im Jahr 2019 betrugen die Pro-Schüler-Ausgaben 28’557 Schweizer Franken – sie stiegen massiv um 104 Prozent.

Bildungspolitiker in Basel reagierten auf die schwachen Testresultate ihrer Schüler jeweils mit vielfältigen Ausreden: Man habe viele Ausländer, man lebe in Grenznähe, man sei ein Stadtkanton und so weiter. Das mag alles stimmen. Aber mit ihrer Studie belegen Schaltegger und Häner jetzt, dass man das Problem nicht löst, indem man einfach mehr Geld ausschüttet.

Verzerrungen herausgerechnet

Professor Christoph Schaltegger, Direktor des IWP Luzern: Nicht einfach mehr Geld ins Bildungssystem pumpen.

Daniel Wahl: “Mit komplizierten Formeln haben sie die Effekte herausgerechnet, die zu Verzerrungen führen könnten. Getestet wurde darum die Lesekompetenz – «eine Schlüsselkompetenz», wie Melanie Häner sagt. Den Messzeitpunkt legte man auf das 8. Schuljahr, «weil die Bildungssysteme in den Kantonen bis zu diesem Zeitpunkt einander am ähnlichsten sind».

Effekte wie die unterschiedlichen Klassengrössen und Betreuungsverhältnisse wurden ebenfalls berücksichtigt. Auch die Anzahl Unterrichtsstunden in der Landeshauptsprache. Da gibt es grosse Differenzen. Einzelne Kantone unterrichten gegen 210 Lektionen, andere wiederum nur 146. Gemäss der Studie darf man erstaunt feststellen: Klassengrössen und Anzahl Schulstunden sind gar nicht matchentscheidend, wenn man die Bildungsqualität misst. Zudem zeigt sich: Auch ohne Berücksichtigung dieser Effekte ist kein Zusammenhang zwischen höheren Bildungsausgaben und besserer Bildungsqualität nachweisbar.”

Was in vielen Länder unter dem Begriff «Baumol-Kostenkrankheit» dokumentiert ist, lässt sich auch in der Schweiz feststellen. Die Bildungsausgaben steigen, ohne dass sich dies auf die Qualität auswirkt. Dies liegt daran, dass der arbeitsintensive Bildungssektor die Löhne erhöhte, um mit anderen Sektoren konkurrenzfähig zu bleiben. Zu einer «Produktivitätssteigerung» führt es nicht. Bemerkenswert ist in der Schweiz ferner, dass ein Grossteil der massiv gestiegenen Bildungskosten nicht einmal für Gehälter ausgegeben wurde, sondern für andere Stellen, etwa für Infrastruktur oder Verwaltungskosten oder den therapeutischen „Gürtel“.

Allein in der Stadt Biel kümmern sich mittlerweile an die 30 Institutionen rund um die Schule um das Wohl der Jugendlichen: Erziehungsberatung, Jugendpsychiatrischer Dienst, Heilpädagogisches Ambulatorium,  Logopädie, Therapeutische Wohngemeinschaft, Foyer Viadukt, Stützunterricht für Fremdsprachige mit Fachstelle, CONTACT Beratungsstelle für Drogenprävention, Fachstelle Berner Gesundheit, Psychologische Beratungsstelle für Lehrlinge, Move (Unterstützung für Schulabgänger), Schulsozialarbeiter, Junior Coaching der Berufsberatungszentren, KKF Kirchliche Kommission für Flüchtlingsfragen, Krisenintervention und Gewaltprävention des Psychologischen Instituts der Uni Bern,  Konflikttraining des Schweizerischen Roten Kreuzes, Jugendamt, Schularztamt, Psychologisches Erste Hilfe-Team des Kantons Bern, Sozial- und Fürsorgeamt, Isa Informationsstelle für Ausländerfragen, A.I.D.A  Alphabetisierung für junge Migrantinnen, Case-Management Berufswahl, Kultur-Mediatoren, Kirchliche Jugend Beratungsstelle Project X, Jugendarbeit der Stadt Biel, Integrationsstelle der Stadt Biel, Entlastungsdienst. Trotzdem brauchen immer mehr Jugendliche eine psychische Betreuung.

Auch der Überbau wurde massiv ausgebaut. Schmiss der „alte Gilgen“ (Alfred Gilgen Erziehungsdirektor des Kt. Zürich von 1974 – 1995) seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Angestellten, so kann sich die heutige Erziehungsdirektorin Sylvia Steiner auf 1‘300 Mitarbeiter stützen. Ein inzwischen professionalisierter Schulkommissionspräsident in der Stadt Zürich verdient heute 200‘000 Fr. https://condorcet.ch/2021/07/der-fall-rodriguez-in-zuerich-oder-wohin-fliessen-eigentlich-die-investitionen-fuer-die-bildung/

Die Studienautoren Schaltegger und Häner raten darum, dass sich Bildungspolitiker besser überlegen, wie finanzielle Ressourcen effizient eingesetzt werden können, statt einfach mehr Geld ins Bildungssystem zu pumpen. Entscheidend für das Erreichen der Grundkompetenzen sind vielmehr individuelle Merkmale wie der elterliche Hintergrund oder die zu Hause gesprochene Sprache. Benachteiligt ist, wer mit den Eltern nicht die Unterrichtssprache spricht.

 

Quelle: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0176268023000514

Nebelspalter: https://www.nebelspalter.ch/mehr-geld,-aber-nicht-mehr-qualitaet-im-bildungssystem

NZZ: https://www.nzz.ch/schweiz/bildungsausgaben-erneute-zunahme-in-den-vergangenen-jahren-ld.1628582

Bundesamt für Statistik: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/indicators/bildungsausgaben-kopf.html

 

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Die Wette – oder wer ist der Beste im Land? https://condorcet.ch/2023/07/die-wette-oder-wer-ist-der-beste-im-land/ https://condorcet.ch/2023/07/die-wette-oder-wer-ist-der-beste-im-land/#comments Sat, 22 Jul 2023 09:33:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=14616

Unser Condorcet-Autor Alain Pichard verabschiedete sich mit einem Theaterprojekt aus seinem aktiven Berufsleben. In diesem Beitrag stellt er das Stück vor, sagt, woher die Idee stammt, und erklärt, wie das „Entwicklungstheater“ geht.

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Es gibt gute Gründe, sich in der reichen Jugendtheaterliteratur umzusehen, ein Stück auszuwählen und es mit den Schülerinnen und Schülern auf die Bühne zu bringen. Hierzu habe ich bereits einen Beitrag verfasst („Das Haus mit den sieben Stockwerken” https://condorcet.ch/2020/07/deutschprojekt-dino-buzzati-das-haus-mit-den-7-stockwerken/)

Wenn das Stück für Schüleraufführungen geeignet ist und angepasst werden kann, ist diese Möglichkeit vor allem dann praktisch, wenn die Zeit für das Einstudieren einer Schüleraufführung knapp ist.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1: Das Stück muss den Zuschauern Spass machen.

Ich habe diesen Weg eher selten beschritten, weil das Theater einer meiner Leidenschaften ist, ich eine Affinität für Komödien und witzige Dialoge habe und mir selbst zutraue, diese auch zu schreiben. Es gibt allerdings kaum etwas Mühsameres als Lehrkräfte, die sich dazu berufen fühlen, Theaterstücke nach ihrem Gusto zu schreiben und diese dann den Jugendlichen überzustülpen. Ich halte mich auch nicht für einen verkannten Drehbuchautor, der in der werkstattgeschützten Schulsituation endlich sein Talent der Öffentlichkeit vorstellen darf.

Für mich hat Theater in erster Linie zu unterhalten. Es darf keine Pflichtveranstaltung werden, an denen nur die Eltern der Darsteller Freude haben. Es soll aber auch kein Ventil für Botschaften sein, die dem Autor, sprich dem Lehrer, am Herzen liegen. Und es muss den Schülerinnen und Schülern Spass machen. Wichtig ist auch, dass man sich bemüht, dass sie sich mit dem Geschehen auf der Bühne identifizieren können.

So entwickelte ich mit der Zeit eine Art Mischung aus Improvisationstheater, Einbezug spannender Vorlagen, die ich als Rahmenhandlung vorschlug, und diskursiven Entwicklungsgesprächen. Auch dazu habe ich bereits ein Projekt auf dem Condorcet-Blog veröffentlicht ( https://condorcet.ch/2021/07/orpund-next-level-ein-theaterprojekt/ ). In diesem Beitrag habe ich auch meine Vorgehensweise beschrieben, weshalb ich auf diese im Folgenden nicht mehr so detailliert eingehen werde.

Die Quelle: Ein Vorfall in Düsseldorf

1974 erschien in einer Zeitung ein Kurzbericht über einen Betrugsfall in einem Düsseldorfer Gymnasium. Einem Schüler wurde von seinem Vater 10‘000 Mark in Aussicht gestellt, wenn er Klassenbester werden sollte. Als er dies seinen Kameraden erzählte, beschlossen diese, ihn mit gemeinsamen Kräften zum Klassenbesten zu machen und sich die Summe danach aufzuteilen. Der Betrug flog auf. Was mit den Beteiligten geschah, konnte ich nicht eruieren.

Der Begriff „Klassenbester“ hiess hier „Streber“ und auch in der Kommunikation der Lehrkräfte kam dieser Begriff kaum vor.

Die 1. Aufführung im OSZ-Madretsch Biel

Diese neckische Geschichte bewahrte ich sorgsam in meiner literarischen “Schatztruhe” auf, um sie 2006 das erste Mal als Rahmengeschichte einer Schulklasse vorzuschlagen. Es handelte sich um eine Realklasse mit 90% Migrationsanteil. Das ergab bereits einen entscheidenden Unterschied zur Ursprungsvariante in Düsseldorf, wo es sich um Gymnasiasten handelte. Der Begriff „Klassenbester“ hiess hier „Streber“ und auch in der Kommunikation der Lehrkräfte kam dieser Begriff kaum vor. Einmal thematisiert, gelang es mir, den Schülerinnen und Schüler bewusst zu machen, dass es sehr gute Lernleistungen über alle Fächer gibt. Die Frage lautete nun: Wie macht man aus einem schlechten bis mittelmässigen Schüler einen guten bis sehr guten Schüler? Und, was heisst das überhaupt, ein sehr guter Schüler zu sein? Auf was kommt es an?

Nachdem diese Fragen geklärt waren, gab ich ihnen die Düsseldorfer Variante als Rahmengeschichte und forderte sie auf, mir Ideen zu liefern, wie dieses Ziel zu erreichen wäre. Im Deutschunterricht ergaben sich nun ausserordentlich witzige Unterrichtsgespräche über Betrug, Spickmethoden, aber auch tiefsinnige Diskussionen über den Wert des Lernens. Aus dem überambitionierten Düsseldorfer Vater wurde ein reicher Onkel aus Übersee, aus dem Düsseldorfer Gymnasiasten der Fussballnarr Aldin. Das Bühnenstück erhielt ein gutes Echo und die Schülerinnen und Schüler waren mächtig stolz auf ihre Leistung.

Neu in den Fokus geriet nun die Geschlechterfrage bzw. die Tatsache, dass die Mädchen in der Schule oft die „besseren“ Lernenden seien. So entstand die Figur der Vlora, eine „Klugscheisserin“, welche die Jungs zur Verzweiflung treibt, das Projekt aber entscheidend voranbringt.

Die Orpunder Variante

Sechs Jahre später – ich wechselte inzwischen in die Agglomerationsgemeinde Orpund – entschloss ich mich, als Abschlusstheater wieder diesen Düsseldorfer Skandal als Rahmengeschichte vorzuschlagen. Hier waren die Bedingungen ziemlich anders. Der Migrationsanteil war gering (nur 4 von 24 Sch. sprachen zu Hause kein Deutsch). Die Bildung spielte in den Elternhäusern eine grössere Rolle, was dazu führte, dass auch die Begriffe „Klassenbester“ und „Notendurchschnitt“ durchaus eine gewisse Rezeption erzeugten. Ohne hier nun einem pauschalisierenden Dünkel Vorschub leisten zu wollen, muss ich feststellen, dass in diesem Umfeld die Entwicklungsphase substanziellere Beiträge einbrachte. Die offengelegten Spickmethoden waren für uns abgebrühte Lehrkräfte erstaunlich, die Diskussionen über Noten, Lernen, Unterricht und Schulleistungen von einer bis anhin unbekannten Qualität. Neu in den Fokus geriet nun die Geschlechterfrage bzw. die Tatsache, dass die Mädchen in der Schule oft die „besseren“ Lernenden seien. So entstand die Figur der Vlora, eine „Klugscheisserin“, welche die Jungs zur Verzweiflung treibt, das Projekt aber entscheidend voranbringt.

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Aufführung ein Highlight meiner „Schultheater-Tätigkeit“ war.

Das ist doch kein Theater!
Ohne den Theaterpädagogen Rolf Brügger hätte ich es nicht geschafft.

Die dritte Aufführung – von Schwierigkeiten geprägt

Rund elf Jahre nach der Orpunder Aufführung bot ich den Stoff noch einmal an – diesmal für ein Wahlfach Theater. Ich sprang – mittlerweile als pensionierter Lehrer – notfallmässig als Klassenlehrer in eine verwaiste Oberstufenklasse des OSZ-Mett-Bözingen in Biel ein. Es meldeten sich 14 Schülerinnen und Schüler, mit denen ich in bewährter Manier das Theaterstück neu aufgleisen wollte. Im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen ist der Migrationsanteil wieder wesentlich höher (90%).

Keine Frage: Das Thema packte die beteiligten Schülerinnen und Schüler von Anfang an. Das Problem bestand anfangs in der Zusammensetzung der Theatergruppe. Einige Knaben erwiesen sich als unkonzentriert, frech und launisch. Andere waren enorm talentiert und willig. Diese Gruppendynamik belastete die Probenarbeit erheblich. Wir kamen kaum vorwärts. Die Motivation der Mädchen sank, die Sache stand kurz vor dem Abbruch. Schliesslich haben wir drei Jungs aus der Theatergruppe geworfen. Aus dem Hauptdarsteller Jeton wurde eine Jetonia (ein Mädchen) gemacht und zwei Ukrainer in die Gruppe integriert. Diese Massnahmen erwiesen sich als Glücksgriff. Vor allem die beiden Ukrainer waren erste Klasse, trotz der grossen Sprachbarrieren. Allerdings verloren wir dadurch und durch die grossen Schwierigkeiten bei der Textarbeit – fast alle Schülerinnen und Schüler hatten einen Migrationshintergrund – viel Zeit. So konnten einige anspruchsvolle Szenen nicht mehr rechtzeitig eingeübt werden. Die Theaterregie mutete den Kids zudem einiges zu. Es gab schnelle Wechsel, offene Bühnenumbauten und einen Film, der eigens für dieses Stück produziert wurde. Für die Jugendlichen war das anfangs kein Theater und es kam zu offenen Protesten. Es war der grossen Professionalität und Geduld von Rolf Brügger, Theaterpädagoge und Regisseur, zu verdanken, dass dieses Stück trotz dieser enormen Schwierigkeiten schliesslich doch noch zur Aufführung kam und erst noch viel Applaus erhielt. Ohne ihn hätte ich dies kaum geschafft. Wir mussten ein ganzes Übungswochenende einschalten, um das Stück doch noch aufzuführen. Im Grunde genommen schweisste das Wochenende die Gruppe richtig zusammen. Als neues Element haben wir einen Film gedreht, der die Lebensgeschichte des reichen Onkels Ali, der dieses “unmoralische” Angebot macht, einblendete. Die kreative Kollegin Sandra Rychener, ihres Zeichens eine passionierte Filmemacherin, produzierte diese Einblendung für uns.

Der Film von Sandra Rychener erwiese sich als belebendes Element.

Die Schülerinnen und Schüler waren am Schluss mächtig stolz auf ihre Leistung und zeigten dies auch. Ihr Selbstwertgefühl wurde gestärkt, ihre Sprachkompetenz verbessert. Ironischerweise spiegelte die Thematik dieses Stücks auch die Situation in der Theatergruppe selbst. Die Unkonzentriertheiten beim Zuhören der Regieanweisungen, die Unwilligkeit, Bewegungen und Szenen mehr als zweimal zu wiederholen, bremsten die Qualität der Aufführung. Im Prinzip hätte man ein reines Action-Theater entwickeln können, mit dem Thema der Schauspielenden. Aber dann hätte der ambitionierte Teil der Gruppe das Handtuch geworfen.

Das Stück gab in der Schule viel zu reden. Was bedeuten Noten? Was ist ein Klassenbester? Wo und wie zählt Leistung? Was zählt in einer albanischen Familie? Welchen Stellenwert hat die Bildung? Was ist ein Streber? Somit könnte man feststellen: Wieder einmal hat sich dieser Plot bewährt. Trotzdem muss ich mir als Lehrer die Frage stellen, ob in diesem Setting das Stück überhaupt geeignet war.

Fazit: Die gleiche Rahmenhandlung, drei verschiedene Aufführungen

Der Vorteil der entwickelnden Theaterarbeit liegt in der Variabilität des Produkts und dem weitgehenden Einbezug der Akteure in die Handlung. Gleiche Rahmengeschichte, verschiedene Inhalte. Die drei Aufführungen unterschieden sich stark, im Inhalt, in der Qualität der Aufführung, in ihren Schwerpunkten. Aber allesamt spiegelten sie die Themen unserer Schülerinnen und Schüler. Damit aber diese Produktion auch für die Zuschauer ein Erlebnis wird, benötigt man ein gutes Lehrkräfte-Team um sich, einen Theaterfachmann und eine Schulleitung, welche uns die Freiräume für solche Projekte freischaufelt und hinter uns steht. Ausserdem sollte die Aufführung nie länger als eine Stunde dauern. Mehr gibt die Substanz der Jugendlichen in der Regel nicht her. Das Stück selbst kann hier Winner oder Spinner heruntergeladen werden. Es handelt sich um die Orpunder Version.

 

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464 Tage und Nächte https://condorcet.ch/2023/06/464-tage-und-naechte/ https://condorcet.ch/2023/06/464-tage-und-naechte/#respond Tue, 27 Jun 2023 21:17:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=14399

Condorcet-Autor Alain Pichard wird in zwei Wochen - nach einer Ehrenrunde von drei zusätzlichen Jahren - zum zweiten Mal pensioniert. Der Mathematiklehrer liess während seiner letzten Abschlussreise mit einer 9. Klasse alle seine Lager Revue passieren und zählte die Tage und Nächte, die er mit seinen Schülerinnen und Schülern verbracht hatte. Die Zahl wurde von der Redaktion zur Zahl des Monats gekürt.

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Alain Pichard während seiner letzten Abschlussreise.

Ich befinde mich zurzeit auf meiner letzten Abschlussreise mit einer 9. Klasse, die uns nach Venedig führte. Während der langen Reise im Flixbus hatte ich Zeit, all meine Lager, Projektwochen und Ferienkolonien durchzugehen. In meiner nun zu Ende gehenden Schulmeisterzeit (46 Schuljahre) habe ich 40 Skilager (200 Tage),  12 Abschlussreisen (60 Tage), 30 Projekt- oder Landschulwochen (150 Tage) und 3 Ferienkolonien (54 Tage) geleitet.

Das ergibt insgesamt 464 Tage oder 1 Jahr und drei Monate und zwei Wochen.

Nicht darin eingeschlossen sind die zwei- oder dreitägigen Schulreisen, die ich auch noch organisieren durfte. Neben Polizeieinsätzen, Helikopterflügen, Lawinenalarm, Liebesdramen, sexuellen Übergriffen und Diebstählen erlebte ich in dieser Zeit wohl die wunderbarsten Geschichten, die uns unser Beruf beschert. Fröhlichkeit, ausgelassene Partys, enge Vertrautheit, Dankbarkeit, Solidarität und jede Menge lustige Momente. Vor allem aber erlebte ich die wohl wirksamsten schulischen Momente.

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Ja, ja, es steht drin, aber wir schaffen es halt nicht. Die Eltern müssen ran. https://condorcet.ch/2023/06/ja-ja-es-steht-drin-aber-wir-schaffen-es-halt-nicht-die-eltern-muessen-ran/ https://condorcet.ch/2023/06/ja-ja-es-steht-drin-aber-wir-schaffen-es-halt-nicht-die-eltern-muessen-ran/#comments Sun, 18 Jun 2023 12:50:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=14332

Condorcet-Autor Alain Pichard, Mitglied der bernischen Grossen Rates, gewährt uns am Beispiel der Motion für Schwimmgutscheine einen Einblick in einen parlamentarischen Prozess. Es war ein hartes Stück Arbeit für die drei Motionäre Andrea Zryd (SP), Nadja Guenthör (SVP) und Alain Pichard (GLP). Die Motion schaffte es nur, weil sie in ein Postulat umgewandelt worden war.

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Motionärin Andrea Zryd, Grossrätin SP: Das Schwimmenlernen ist im Lehrplan als Kompetenzziel festgelegt.

Die Motion «Schwimmgutscheine» (siehe: https://condorcet.ch/2023/06/der-fluch-der-unkonventionellen-massnahme/) hat Missverständnisse ausgelöst. Viele Fraktionen im bernischen Grossen Rat glaubten, dass damit der Schwimmunterricht flächendeckend ausgelagert werden solle. Auch Bildung Bern empfahl, das Anliegen in ein Postulat zu verwandeln.  Und die Bildungsdirektion meinte lapidar: «Schwimmen ist Sache der Eltern!» Das ist angesichts des erklärten Kompetenzziels, der im LP21 deutlich festgehalten ist, eine fatalistische Einstellung, so im Sinne: «Ja, ja steht schon drin, aber wir schaffen es nicht!»

Grossrätin Andrea Zryd erklärte den Grossrätinnen und Grossräten den Ernst der Lage, indem sie statistisch untermauerte, dass die Situation bezüglich «Schwimmfähigkeiten» immer problematischer werde. Immer mehr Kinder, aber auch Erwachsene könnten nicht mehr schwimmen, das habe ernsthafte Konsequenzen. Als Mitmotionär, der sich ansonsten stark gegen jede zusätzliche Wunschprosa für den Unterricht wehrt, betonte ich, dass die Schwimmgutscheine eine

NZZ: Ernsthafte Konsequenzen

Beim Schwimmen geht es auch in einem wassereichen Land wie der Schweiz um Teilhabe und Partizipation.

unkomplizierte und effektive Massnahme sei, ein klein wenig gegen den Trend anzukämpfen. Es gehe keineswegs darum, die Schulen von der Schwimmpflicht zu befreien, quasi ganze Klassen in private Schwimmkurse zu schicken. Es müsse aber möglich sein, dass Kinder, die nicht schwimmen können, weil sie es weder in der Schule noch im Elternhaus gelernt haben und einfach durch die Maschen gefallen sind, in ihrer Freizeit einen Schwimmkurs besuchen können. Es würden Einzelfälle bleiben. Eine Parlamentarierin meinte: «Wir empfangen in unseren Schulen beispielsweise ständig Kinder von frisch Zugewanderten. Mit denen im Rahmen eines normalen Sportunterrichts den Schwimmkurs nachzuholen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Warum sollen wir in einem Teilbereich nicht handeln, also dort das Problem lindern, auch wenn wir das Gesamtproblem dadurch nicht beseitigen können?

Beim Schwimmen gehe es auch in einem wassereichen Land wie der Schweiz um Teilhabe und Partizipation. Wenn sich die jungen Menschen, Männer und Frauen im Sommer am Abend beim «Bräteln» an den Flüssen und Seen treffen und sich zwischendurch im Wasser abkühlen oder in Gummischlauchbooten die Aare runtertreiben, ist das für Nichtschwimmer eine harte Prüfung, die die Betroffenen nicht selten zu Leichtsinnigkeit verleitet, einfach, um dabei zu sein.

Das Postulat wurde schliesslich mit einem recht deutlichen Resultat überwiesen. Es gilt nun, einen vernünftigen Erlass zu entwerfen, der es möglich macht, Kooperationen mit den Schwimmvereinen einzugehen.

 

 

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Der Fluch der unkonventionellen Massnahme https://condorcet.ch/2023/06/der-fluch-der-unkonventionellen-massnahme/ https://condorcet.ch/2023/06/der-fluch-der-unkonventionellen-massnahme/#comments Sat, 03 Jun 2023 19:03:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=14200

Die bernischen Grossrätinnen Andrea Zryd (SP) und Nadja Günthör (SVP) reichten eine Motion ein, in welcher sie die Regierung aufforderten, Schwimmgutscheine für Nichtschwimmer einzuführen. Die Regierung lehnt dies ab. Und auch der Lehrerinnen- und Lehrerverband will nur eine Prüfung. Condorcet-Autor Alain Pichard, Grossrat und Mitunterzeichner, unterstützt die Motion und erklärt in seinem Beitrag die Gründe.

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Motionärin Andrea Zryd, Grossrätin SP: Das Schwimmenlernen ist im Lehrplan als Kompetenzziel festgelegt.

Drei Fakten sind sowohl bei den Motionärinnen wie auch bei den Gegnern der Motion unbestritten:

  1. In den letzten zehn Jahren ertranken durchschnittlich 46 Menschen in Schweizer Gewässern.
  2. Im Lehrplan 21 (Fachbereichslehrplan | Bewegung und Sport | Kompetenzaufbau BS.6 Bewegen im Wasser) ist der Grundanspruch festgehalten, dass alle Schülerinnen und Schüler sicher schwimmen und in einer frei gewählten Technik 50 Meter schwimmen können bzw. den Wassersicherheitscheck erfüllen.
  3. Immer mehr Schülerinnen und Schüler können nicht mehr schwimmen. Auch auf der Sekundarstufe 1 steigt die Zahl der Nichtschwimmer.
Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Eine unkonventionelle und effektive Massnahme.

Nun wissen wir ja, dass ein Fünftel unserer Schülerinnen und Schüler nach 9 Schuljahren auch nicht richtig lesen und schreiben kann, obwohl dies im Lehrplan 21 als Ziel definiert ist. Ebenso erfüllen nur 11% der Französischlernenden die Grundkompetenzen in Französisch! Und niemanden scheint dies zu stören. Was soll also diese Aufregung um die Nichtschwimmer?

Die Beliebigkeit der Vorgaben

Nicht nur im Bildungssystem werden im Zuge der Kompetenzorientierung die Ziele immer enger gefasst und die Massnahmenkataloge konsequenterweise auch umfangreicher. Nimmt jemand ab und zu mal eine dieser unzähligen Zielsetzungen ernst, ist er selbst schuld, Papier ist bekanntlich geduldig. Der Gesetzgeber sollte allerdings aufpassen, dass er bei der Setzung von Zielen nicht allzu sehr einer Allmachtsphantasie verfällt und ständig Vorgaben formuliert, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen. Sonst stellt sich auch im Betrieb eine resignative Beliebigkeit ein.

Warum Schwimmen?

Rein physiologisch ist der Fall klar: Schwimmen trainiert die Muskeln, ohne die Gelenke zu belasten. Schwimmen korrigiert Fehlhaltungen, baut Stress ab, trainiert Kraft und Ausdauer – und das bei einem sehr geringen Verletzungsrisiko. Beim Schwimmen wirkt der Körper schwerelos, das schont Knorpel und Knochen, während fast jeder Muskel trainiert wird. Schwimmen gehört aber in unserem wasserreichen Land zur Kultur, viel mehr als beispielsweise das Skifahren. Fast jede Wanderung in der Sommerzeit, jede Schulverlegung führt irgendwann einmal an ein Gewässer. Auch im späteren Leben laden Gewässer jeglicher Art zum Schwimmen, Plantschen, Abkühlen oder zu Expeditionen auf Booten ein. Nichtschwimmer sind in solchen Situationen bedauernswert, ganz zu schweigen, wenn sie selbst einmal Kinder haben. Es gibt – darüber herrscht wohl Konsens – sehr plausible Gründe, das Schwimmen zu einer Grundkompetenz zu erklären.

Warum können immer weniger Kinder und Jugendliche Schwimmen?

Zahlen vermutlich zu hoch, aber bedenklich

Die in den Medien kolportierten Zahlen sind vermutlich allzu dramatisch angesetzt. Es ist aber nicht mehr zu leugnen, dass viele Kinder in unserem Land nicht schwimmen können. Die Gründe dafür sind mannigfaltig:

  1. Die Corona-Epidemie mitsamt ihren Schliessungen der Schwimmanstalten hat dazu geführt, dass ein Teil der heutigen Schülergeneration keinen lebensrettenden Schwimmstil erlernen konnte.
  2. Die Einwanderung aus Ländern mit weniger Gewässern und anderen Einstellungen zum Schwimmen bringt uns auch ältere Jugendliche, die nie schwimmen gelernt haben.
  3. Religiöse Einwände (Kopftuch und Ganzkörperbedeckung) sowie eine zunehmende Körperscham führen vor allem bei den Mädchen zu einer Flucht vor Badeausflügen (mittels Krankmeldungen, Einsprachen, Schwänzen, freie Halbtage).

Die Taube auf dem Dach versus Spatz in der Hand

Angesichts dieser Fakten ist Handlungsbedarf angezeigt. Dies würde man mit mehr finanziellen Ressourcen wie der Schaffung von Schwimmflächen, der Anstellung von Schwimmlehrkräften und grosszügiger Alimentierung von Projektwochen mit Schwimmen als Thema erreichen. Der Finanzierung solcher Massnahmen sind allerdings Grenzen gesetzt. Zusätzliche Schwimmflächen sind teuer, sowohl im Bau als auch im Unterhalt. Ausserdem würde die Realisierung einer erfolgversprechenden Infrastruktur wohl über 10 Jahr dauern.

Die Bildungsdirektion schiebt daher den Ball den Eltern zu: «Primär sind die Eltern dafür verantwortlich, dass ihre Kinder das Schwimmen erlernen. So gibt es im Kanton viele Angebote von öffentlichen Schwimmkursen für Kinder, welche die Eltern nutzen können.»

In der Tat bringen viele Eltern ihren Kindern das Schwimmen selbst bei. In den meisten Fällen ist das kein Problem, denn Schwimmen ist keine besondere Kunst und kann leicht erlernt werden. Das Problem ist: Es sind gerade die Kinder der unterprivilegierten Schichten, welche diese Unterstützung des Elternhauses nicht haben. Zudem gibt es auch Kinder, die eher ängstlich sind oder einige Schwierigkeiten bei der Koordination haben. Hier ist es gut, wenn ein Profi zur Seite steht, welcher das Kind unterstützen kann. Dadurch werden Fehler beim Schwimmen direkt von Anfang an korrigiert und das Kind hat es später leichter. Aber auch für die soziale Entwicklung ist ein professioneller Schwimmkurs, ob in der Schule oder in einem Schwimmverein, essenziell. Gemeinsam mit anderen Kindern lernt das Kind das Schwimmen und dabei noch neue Freunde kennen.

Wenn die Schule mit ihren Ressourcen – und dazu gehören auch die Fähigkeiten der Lehrkräfte – Ziele verfolgt, die sie im Rahmen ihres Unterrichts nicht garantieren kann, muss sie Kooperationen mit ausserschulischen Institutionen eingehen.

Kooperationen mit ausserschulischen Institutionen

Wenn die Schule mit ihren Ressourcen – und dazu gehören auch die Fähigkeiten der Lehrkräfte – Ziele verfolgt, die sie im Rahmen ihres Unterrichts nicht garantieren kann, muss sie Kooperationen mit ausserschulischen Institutionen eingehen. Eifrig werden in Projektwochen externe ICT-Fachleute, Ernährungsspezialisten, Theater-Profis oder professionelle Musiker beigezogen und entschädigt. Institutionen wie die Jugendarbeit oder Naturschutzverbände bieten längst lehrplankompatible Angebote auf dem Markt an, die von den Schulen genutzt werden. Deren Finanzierung läuft über schuleigene Konten oder Gemeinde- bzw. Kantonsbudgets.

Die Angst vor den Bildungsgutscheinen

Bildungsgutscheine haben – nicht zu Unrecht – bei den Personalverbänden und vor allem den Verteidigern der öffentlichen Schule keine grosse Anhängerschaft. Sie werden in der Regel als Einfallstor der Privatisierung des Schulsystems betrachtet. In diesem Fall ist diese Angst unbegründet. Der Einsatz von Schwimmgutscheinen soll gezielt erfolgen. Eine Auslagerung ist nicht vorgesehen.

Schwimmunterricht der Schwimmvereine: hohe Professionalität, hohe Motivation.

Die diversen Schwimmclubs in unseren Gemeinden bieten allgemein anerkannte Schwimmkurse zwischen 200 – 400 Fr. für 10 Doppellektionen an, die von den Eltern eifrig genutzt werden. Sie verfolgen in der Regel keine Profitinteressen, sondern leisten mit viel Engagement und Können einen grossen Beitrag zur Schwimmfähigkeit unserer Jugend. Mit Schwimmgutscheinen könnten in Einzelfällen schwimmwillige Kinder ohne grosse administrative Hürden das Schwimmen erlernen. Der Schwimmunterricht findet in der Regel ausserhalb der Schulzeit statt und belastet den Unterricht nicht.

Es werden Einzelfälle bleiben. Warum sollen wir in einem Teilbereich nicht handeln, also dort das Problem lindern, auch wenn wir das Gesamtproblem dadurch nicht lösen können?

Die Schwimmgutscheine werden das Malaise nicht lösen

Den Motionärinnen ist klar, dass die Schwimmgutscheine das Grundproblem der steigenden Zahl von Nichtschwimmern nicht lösen werden. Es geht darum, dass Kinder, die nicht schwimmen können, es aber weder in der Schule noch im Elternhaus gelernt haben, die einfach durch die Maschen gefallen sind, in ihrer Freizeit einen Schwimmkurs besuchen können. Es geht nicht darum, das Lernziel «Schwimmen können» gänzlich auszulagern. Es werden Einzelfälle bleiben. Warum sollen wir in einem Teilbereich nicht handeln, also dort das Problem lindern, auch wenn wir das Gesamtproblem dadurch nicht lösen können? Es ist mit Sicherheit eine unkonventionelle Massnahme, welche die Motionärinnen hier vorschlagen. Es geht hier um eine kleine, aber umso wertvollere Hilfe für das individuelle Kind. In diesem wirklich kleinen Bereich könnte man ohne grosse Angst vor Folgekosten und allfälligen Nebenwirkungen einen pragmatischen und höchst wirkungsvollen Schritt zu einer Verbesserung einer ausgewiesenen Problemlage wagen. Zur Erinnerung: Wenn ein Kind aus einem Kanton kommt, in welchem es keinen Französischunterricht genossen hat, erhält es staatlich finanzierte Privatlektionen.

Die Bedingungen für die Gewährung eines solchen Unterrichts müssen in einem Erlass umschrieben werden: Das Kind hat keine Möglichkeit gehabt, im Rahmen des Unterrichts schwimmen zu lernen, das Kind und seine Eltern müssen motiviert sein, es zu lernen oder es hat einen besonderen Förderbedarf, will heissen, es hat körperliche Koordinationsprobleme.

Zusatz – meine Erfahrung mit den Schwimmkursen

Vor sechs Jahren übernahm ich eine neue 7. Klasse am Oberstufenzentrum Orpund. In der ersten Projektwoche fuhren wir in die Badi Neuenburg. Während die Schülerinnen und Schüler meiner Klasse sich sofort in das kühle Nass stürzten und die spektakulären Rutschbahnen und Springtürme ausprobierten, setzte sich Albin* in den Schatten. Der 12-jährige Junge konnte nicht schwimmen und dies, obwohl er die ganze bisherige Schulzeit in den Schulen unserer Gemeinde verbracht hatte. Ich sprach mit ihm über die Ursachen. Er meinte, dass er das Wasser nicht so gerne habe, dass er des Öfteren einen freien Halbtag genommen habe, wenn es zum Schwimmen gegangen sei. Pikant: Die Gemeinde besitzt ein eigenes Hallenschwimmbad.

Während eines Elterngesprächs sprach ich das Problem des Nichtschwimmens an. Albin sagte mir, dass er jetzt gerne schwimmen lernen würde, sich aber vor der Klasse schäme. Der Vater bat mich, nach Möglichkeiten zu suchen. Ich empfahl einen Schwimmkurs für Anfänger im städtischen Schwimmverein in Biel. Das Swimm Team Biel-Bienne bot einen Kurs für Erwachsene an. 10 x 60 Minuten. Kosten 200.- inkl. Eintritt.

Ich habe Albin den ersten Kurs aus eigener Tasche bezahlt. Er absolvierte ihn und hat nun einigermassen schwimmen gelernt.

 

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Wie man einem Lehrer die Zeit stiehlt https://condorcet.ch/2023/05/wie-man-einem-lehrer-die-zeit-stiehlt/ https://condorcet.ch/2023/05/wie-man-einem-lehrer-die-zeit-stiehlt/#comments Sat, 27 May 2023 15:27:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=14138 Condorcet-Autor Alain Pichard befindet sich - wie viele seiner Berufskolleginnen und -kollegen - im Abschlussstress. Zeugnisse, Abschlusstheater, Abschlussreise und das grosse Schulfest stehen bevor. Ja, und dann sind noch die Schüler, die alles verpatzt haben und einer Triagestelle gemeldet werden müssen.

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Almir* und Vanessa* stehen einen Monat vor Schulschluss ohne eine Anschlusslösung da. Der eine ist aufgrund seines Verhaltens kaum vermittelbar und hat auch schon einen befristeten Schulausschluss hinter sich, die andere hatte eine „absolut sichere“ Zusage für eine Lehrstelle in der Tasche, was sich letztendlich als Illusion herausstellte.

Ich erspare Ihnen nun die Ursachenforschung, wie es zu den oben geschilderten Situationen kam. Sie kommen immer wieder vor.

Deshalb muss nun eine Lösung gefunden werden. Die Anmeldetermine für die staatlichen Brückenangebote sind zwar längst verstrichen, aber es gibt natürlich immer noch Gefässe, solche Jugendliche in ein Programm zu schicken. Im Folgenden möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einmal schildern, wie ein solches – im Prinzip banales – Anmeldeverfahren im Kanton Bern abläuft.

Nach Elterngesprächen beschliessen wir, Almir an das BVS anzumelden.

Freitag, den 19. Mai, 15.00 Uhr

Ich rufe das Sekretariat des BVS an. Es kommt der Telefonbeantworter. Rufen Sie bitte während der Büroöffnungszeiten an.

Montag, den 22. Mai, 12.00 Uhr

Ich telefoniere mit dem BVS.  Und frage, ob es noch möglich sei, Schüler an das BVS zu melden. Es wird mir mitgeteilt, dass man die Nachzügler nicht mehr direkt bei ihnen anmelden könne, sondern sich an die Triagestelle wenden müsse. Das müsse man mittels des elektronischen Anmeldeverfahrens lösen. Nein, sie könne mir den Link nicht mitteilen, er ist aber auf der Webseite der BKD unter Brückenangebote zu finden.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Versuchen Sie es später.

13.30 Uhr, SOL (Selbstorganisiertes Lernen)

Ich logge mich in das Anmeldeprozedere ein und beginne im Beisein von Almir alle nötigen Daten einzugeben. Vorher habe ich noch das Zwischenzeugnis scannen müssen, weil Almir es nicht mehr in seinen elektronischen Unterlagen finden konnte. Auf Seite 2 erhalte ich einen Code. Der wird mir an meine Mailadresse geschickt. Ich öffne diesen, setze ihn in der Anmeldeseite ein und fahre fort. Es kommt eine Fehlermeldung: “Sie haben nicht alle Fragen beantwortet. Bitte ergänzen Sie Ihre Angaben (1)” Und es geht nicht weiter. Ich überprüfe das Ganze noch einmal, aber es kommt immer noch die Fehlermeldung. Ich setze das Ganze neu auf und fülle noch einmal im Beisein von Almir alle benötigten Daten ein. Erneut erhalte ich einen Code, setze ihn ein, aber wieder kommt die Fehlermeldung. Ich sage Almir, dass ich anrufen werde, er solle in den Unterricht gehen.

15.30 Uhr, Unterricht beendet. Ich rufe die angegebene Nummer (Brückenangebote) an. Es kommt die Nachricht: „Es sind alle Leitungen besetzt, bitte gedulden Sie sich.“ Es folgt eine Musik. Dann: “Im Moment kann Ihr Anruf nicht entgegengenommen werden, versuchen Sie es später noch einmal.“

Ich versuche es noch zweimal. Immer dasselbe. Ich gebe auf und denke, dass ich es morgen erneut probieren werde.

Donnerstag, den 25. Mai, 13.00 Uhr

Es wurde inzwischen Donnerstag, weil ich am Diensrag und Mittwoch alle Hände mit dem Abschlusstheater und der Organisation der Abschlussreise zu tun hatte. Inzwischen hat sich auch Vanessa dazu durchgerungen, dass ich sie bei der Triagestelle anmelde. Ich stelle mit ihr die Dokumente zusammen und  versuche, sie mittels des elektronischen Anmeldeverfahrens anzumelden. Dasselbe Prozedere, der Code und die Fehlermeldung. Um 14.00 Uhr (Bürozeit) versuche ich erneut, das Sekretariat der Brückenangebote zu erreichen. Wieder kommt die Mitteilung: “Im Moment können wir Ihren Anruf nicht entgegennehmen, versuchen Sie es später noch einmal.” Es habe am Donnerstagnachmittag unterrichtsfrei, schnappe mir einen Computercrack aus meinem Kollegium und wir versuchen es zu zweit. Wieder ein Fehlschlag. Mein Kollege meint, da müssten wir anrufen.

Ich versuche es insgesamt an diesem Tag sechsmal. Ohne Erfolg. Daraufhin schreibe ich der Behörde folgende Mail:

Sehr geehrte Damen und Herren

Mein Name ist Alain Pichard. Ich versuche seit einigen Tagen Sie telefonisch zu erreichen und werde durch den Sprachautomaten jeweils abgewiesen. Ich möchte einen Schüler und eine Schülerin bei Ihnen an die Triagestelle anmelden. Ich komme dabei immer zur Codeeingabe und dann, beim Weiter, kommt die Meldung: “Sie haben nicht alle Fragen beantwortet. Bitte ergänzen Sie Ihre Angaben (1)” Und es geht nicht weiter. Ich habe alles überprüft, aber es geht nicht weiter.

https://www.bkd.be.ch/de/start/themen/bildung-im-kanton-bern/berufsbildung/brueckenangebote/anmeldung-brueckenangebote/onlineanmeldung-brueckenangebot.html?action=createPublicForm&accessKey=fb55284a-6ea9-4224-a453-be3e03ea88d5&language=de&mandant=MBA

Der Zulassungscode ist XXXXXXXX (dem Autor bekannt)

Was soll ich machen? Auch bei meinem anderen Schüler geht es nicht.

Freundliche Grüsse

Alain Pichard

Etwas später füge ich noch eine 2. Mail hinzu:

Ist es normal, dass ich während insgesamt acht Telefonaten immer mit der Voicemail abgespeist werde, dass mein Anruf im Moment nicht entgegengenommen werden kann?

Freitag, den 26. Mai, 16.30 Uhr

Ich erhalte folgende Mail:

Guten Tag Herr Pichard

Bitte entschuldigen Sie die Unerreichbarkeit. Auf welche Nummer haben Sie angerufen? Denn wenn Sie auf die Fachstellen-Nr. (031 633 84 54) anrufen und von uns tatsächlich, aufgrund von Sitzungen, Ferien oder Teilzeitarbeit, gerad alle besetzt sind, sollten Sie grundsätzlich an den Empfang weitergeleitet werden und nicht nur an die Voicemail verwiesen werden.

Zu Ihrer Anfrage betreffend Anmeldung an die Triagestelle. Schülerinnen und Schüler aus der 9. Klasse können erst wieder ab der Woche 23 an die Triagestelle angemeldet werden. Daher kommt aktuell eine Fehlermeldung. Diese und weitere Informationen finden Sie ebenfalls auf unserer Webseite: Anmeldung über die Triagestelle Brückenangebote.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Pfingstwochenende.

Freundliche Grüsse

A. B. , Sachbearbeiterin

Game over

Frage an die Wissenschaft: Wo ist es auf der Webseite vermerkt, dass man die Schüler erst ab Woche 23. wieder anmelden darf? Und wenn ich es übersehen habe, weshalb kommt diese Meldung nicht, wenn man das Prozedere beginnt? Wenn lediglich eine Fehlermeldung gemeldet wird, glaubt man in der Regel, man habe einen Fehler begangen. Und ja, ich habe genau bei dieser Nummer angerufen – und bin nicht weitergeleitet worden.

*Namen geändert

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