Alain Pichard - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 08 Apr 2024 17:42:12 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Alain Pichard - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Montaigne: Die Firma “intrinsic” und ihre Patienten https://condorcet.ch/2024/04/montaigne-die-firma-intrinsic-und-ihre-patienten/ https://condorcet.ch/2024/04/montaigne-die-firma-intrinsic-und-ihre-patienten/#respond Mon, 08 Apr 2024 17:42:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=16446

Warum reden die “Intrinsic-Verantwortlichen” unser Schulsystem so schlecht? Die Antwort liefert Montaigne, der grosse französische Humanist.   «Von einem Arzt kann man nicht erwarten, dass er Gesunde sympathisch findet.»  

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Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592)

Warum reden die “Intrinsic-Verantwortlichen” unser Schulsystem so schlecht? Die Antwort liefert Montaigne, der grosse französische Humanist.

 

«Von einem Arzt kann man nicht erwarten, dass er Gesunde sympathisch findet.»

 

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Wenn eine Journalistin ihre Arbeit macht https://condorcet.ch/2024/04/wenn-eine-journalistin-ihre-arbeit-macht/ https://condorcet.ch/2024/04/wenn-eine-journalistin-ihre-arbeit-macht/#comments Wed, 03 Apr 2024 10:10:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=16383

Die NZZ brachte am 2. April einen bemerkenswert gut recherchierten Artikel über die Bemühungen von «intrinsic», VSLCH, Mercator und Co., das Schulsystem zu revolutionieren. Dabei scheute sich die Journalistin Katharina Fontana nicht, kritische Fragen zu stellen, Hintergründe über das Netzwerk zu erforschen und die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen.

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Wie lange mussten wir auf so einen Artikel warten? Zuvor konnte sich die Allianz der Bildungsrevolutionäre (Mercator, Intrinsic, VSLCH u.a.) in diversen Medien ungestört von kritischen Fragen mit ihren Vorschlägen zur Umgestaltung unseres Schulsystems einbringen. Es begann mit dem Elternmagazin «Fritz und Fränzi», das eine Breitseite gegen das gängige Notensystem abfeuerte. Der Sonntagsblick brachte kurz darauf ein Interview mit der LCH-Präsidentin Dagmar Rösler («Noten sind nicht mehr zeitgemäss»). Dann folgte eine Salve von Artikeln, welche unser Schulsystem «als das schlechteste in Europa» (Jörg Berger) bezeichnete, die Selektion in Frage stellte, die Abschaffung der Hausaufgaben und individuelle Lernpfade für die Lernenden forderte.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Endlich einmal beide Seiten gehört

Den Vogel abgeschossen hat aber die Teamlead-Gesellschaftsjournalistin (was für eine Funktionsbezeichnung!!!) Karen Schärer im Blick. Sie plapperte die Behauptungen der «Bildungsrevolutionäre» in einem Kommentar einfach nach, sprach von einem volkswirtschaftlichen Schaden der Selektion und plädierte im Parallelschritt ebenfalls für den Totalumbau. Verlautbarungsjournalismus nennt man das heute. Dass die «Bildungsrevolutionäre» ihre Behauptung auf die Wyman-Studie abstützten, war ihr vermutlich gar nicht bekannt. Diese Wyman-Studie wird mittlerweile selbst von den Hardcore-Aktivisten des Umbaus als «nicht evident» bezeichnet und wurde von unserem Condorcet-Autor Felix Schmutz aufgrund ihrer komplett fragwürdigen Korrelationen zerzaust.

Völlig unvorbereitet stieg auch die Tagesgespräch-Moderatorin Simone Hulliger in eine Diskussion mit  Frau Prof. Katharina Maag Merki, Universität Zürich, ein. Während dieses Interviews wurden wie in den anderen Verlautbarungen im «Neusprechslang» viele Behauptungen, viel Dogmatisches und Strukturgläubiges von Seiten der universitären «Expertin» für Volksschule – von der Abschaffung der Noten über die Aufhebung der (gegliederten) Niveaustufen bis zum Vorzeigemodell einer einzigen Schule, der privaten Mosaikschule, heruntergeplappert ohne je gründlich hinterfragt zu werden. Hofjournalismus nennt man das heute.

Die Schule braucht keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion wird sie in keiner Weise besser.

In Ihrem Bericht «Bildungsrevolution von oben» (https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/04/Bildungsrevolution-von-oben.pdf)  beschreitet die Journalistin Katharina Fontana den Weg handwerklich fundierter Berichterstattung. Sie fasst die Forderungen der «Bildungsrevolutionäre» korrekt zusammen, leuchtet das hinter ihr stehende Netzwerk aus und gibt auch der Gegenseite die Möglichkeit, ihre Kritikpunkte darzulegen. Dabei wird auch der Condorcet-Blog zitiert und Philipp Loretz, Sekundarlehrer und Präsident des lvb  lässt sich folgendermassen verlauten: «Die Schule braucht keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion wird sie in keiner Weise besser. Man muss endlich die zentralen Probleme wie das mangelnde Leseverständnis vieler Schulabgänger angehen – stattdessen hat man nach dem «Pisa-Schock» im Jahr 2000 eine zweite Fremdsprache in der Primarschule eingeführt. Den Bildungsforschern, den Erziehungsdepartementen und den Schulleitern wird tendenziell mit Skepsis begegnet. Die Reformkritiker sehen nicht ein, warum sie ausgerechnet den Rezepten jener Personen vertrauen sollen, die für den gegenwärtigen Zustand der Volksschule, den sie jetzt so intensiv beklagen, mitverantwortlich sind.»

Der Artikel ist fair, nimmt keine Stellung und beschreibt die aktuelle Situation treffend. Ob damit das medial unterstützte Showlaufen der Bildungsrevolutionäre beendet ist? Mindestens ist zu hoffen, dass Ihnen mit mehr journalistischer Neugier und kritischem Nachfragen begegnet wird.

 

 

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Der Condorcet-Blog steht für Diskurs https://condorcet.ch/2024/03/der-condorcet-blog-steht-fuer-diskurs/ https://condorcet.ch/2024/03/der-condorcet-blog-steht-fuer-diskurs/#comments Tue, 26 Mar 2024 06:59:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=16273

In einem heftigen Tweet auf LinkedIn beklagte sich Felix Scheibe, Dozent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) über die Kritik an den Personen, welche seit Wochen in den Medien für ihre Ideen für einen Umbau der Schule werben. Auch der Condorcet-Blog wurde hier angeführt und ganz allgemein warnte er vor einer Bubble-Bildung. Was den Vorwurf der Bubble-Bildung betrifft stimmt das natürlich nicht… im Gegenteil, findet Condorcet-Autor Alain Pichard.

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Herr Scheibe schreibt in einem Post: «Nennt man heutzutage «seine» eigene Bubble produzieren, in der man sich unglaublich wohl fühlen kann. Muss schön sein, sich von ja-sagern umgeben zu können und das nur per Knopfdruck. Es lebe der Fortschritt.»

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Der Blog steht für einen offenen Diskurs

Was den Condorcet-Blog betrifft, müssen wir diesen Vorwurf zurückweisen. Die Gründer des Bildungsblogs sind zwar «Lehrplan 21-kritisch» eingestellt und vertreten ein eher humanistisches Bildungsprinzip, aber sie suchen den Bildungsdiskurs. In unserem Newsletter schreiben wir jeweils die Anrede: «Liebe Freunde des gepflegten Bildungsdiskurses».

Felix Scheibe, Dozent ZAHW: Seine eigene Bubble produzieren, in der man sich unglaublich wohl fühlen kann.

Das hat auch mit unserer Geschichte zu tun, denn der Blog wurde von Leuten aus dem linken, liberalen und konservativ-rechten Spektrum gegründet. Sie alle verbindet der Wunsch nach einer Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler etwas lernen, und das Ziel, das Kant’sche Ideal der Mündigkeit anzustreben. Selbstverständlich bildet unsere Autorenschaft (über 60 Schreibende) keinen monolithischen Blog. Während Professor Herzog und ich selbstorientierte Lernformen unterstützen, lehnen diese andere mehr oder weniger heftig ab und setzen auf die direkte Instruktion. Als ich mich kritisch über das Schulschwänzen zu Fridays for Future geäussert hatte, widersprach mir mein Freund und Mitgründer des Condorcet Blogs, Georg Geiger aufs Schärfste. Und auch über das Gendern und den Sinn von PISA führen wir einen kontroversen Diskurs.

Bei uns hat schon Franz Eberle sein Kompetenzprinzip verteidigt, Herr Wampfler seine Thesen zur Digitalisierung darlegen dürfen oder Herr Leuenberger die Positionen des VSLCH. Wir suchen den Widerspruch und pflegen ihn. Denn nur im Diskurs wächst das gegenseitige Verständnis und die Argumentationsfähigkeit.

Auf LinkedIn hingegen wurden sachliche Kommentare unseres Mitarbeiters Philipp Loretz, Präsident des LVB, gelöscht und manche Leute haben ihn gar blockiert. So etwas würde bei uns nie vorkommen!

Dass es Herr Scheibe auch anders kann, zeigen er und Herr auf der Maur zurzeit auf LinkedIn. Dort gibt es derzeit einen echten Diskurs zwischen ihnen und unserem Condorcet-Autor Philipp Loretz. Es herrscht das Prinzip Rede und Gegenrede, alles sachlich und respektvoll. Ihn zu lesen ist erhellend und spannend.

Herr Scheibe zitiert in seinem Post beispielsweise den Satz unseres Autors Felix Schmutz: «Tatsache ist, dass nicht nur pädagogische Motive den Reformdiskurs antreiben, sondern auch handfeste geschäftliche Interessen. (Condorcet Artikel , 17.3.24)». Darüber kann man streiten. Mir kommen hier Sätze der Reformer in den Sinn, welche die Schule als Ganzes als rückständig, ungerecht und ressourcenverschleudernd darstellen. Aber im ganzen Artikel setzt sich Herr Schmutz vor allem ausführlich mit der von den Reformern ins Feld geführten Wyman-Studie auseinander. In bester Condorcet-Manier hinterfragt er deren Resultate, entlarvt das fragwürdige Design der Studie und bringt andere gegenteilige Untersuchungen in die Diskussion ein. Das ist Diskurs im besten Sinne des Wortes. Was bei uns leider oft fehlt, ist die Reaktion der Gegenseite, obwohl sie willkommen ist. Die Debatten werden auf verschiedenen Plattformen geführt. Die unzähligen Beiträge in den Medien, die Tweets und Videos seitens der Reformer werden in Safe Spaces veröffentlicht, auf denen nicht oder nur gefiltert geantwortet werden kann. Dass es Herr Scheibe auch anders kann, zeigen er und Herr auf der Maur zurzeit auf LinkedIn. Dort gibt es derzeit einen echten Diskurs zwischen ihnen und unserem Condorcet-Autor Philipp Loretz. Es herrscht das Prinzip Rede und Gegenrede, alles sachlich und respektvoll. Ihn zu lesen ist erhellend und spannend.

Wir freuen uns auf Ihre Beiträge oder noch besser: Vielleicht sehen wir uns ja einmal an einem Podium Pro und Contra versteht sich. Denn letztendlich geht es neben den Lerninhalten ja auch um Mündigkeit. Offene Debatten, gegensätzliche Meinungen anhören und sich dann eine Meinung bilden. Mündigkeit erfordert allerdings Mut und Souveranität.

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Wie wär’s mit “Einfach mal vormachen”? https://condorcet.ch/2024/03/wie-waers-mit-einfach-mal-vormachen/ https://condorcet.ch/2024/03/wie-waers-mit-einfach-mal-vormachen/#comments Fri, 22 Mar 2024 10:38:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=16230

Condorcet-Autor Alain Pichard, mit 44-jähriger Praxis in den Brennpunktschulen, liest seit Wochen die flammenden Appelle, die zu einer fundamentalen Reform unserer Schule aufrufen. Letzthin wieder im Tagesgespräch von SRF mit der Bildungsforscherin Katharina Maag (https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/katharina-maag-merki-an-den-schulen-rumpelt-es-wie-noch-nie?id=12559295). Das machte ihn betrübt. Doch tapfer wie er ist, fasst er sich ein Herz und bittet die Bildungsrevolutionäre um Hilfe.

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Lieber Herr Minder, liebe Frau Maag, lieber Herr Berger, lieber Herr Müller

Als Lehrer, der 44 Jahre lang in der Praxis gearbeitet hat, der sich seinerzeit dafür einsetzte, das Ausleseverfahren von der 4. Klasse auf die 6. Klasse zu verschieben und der in einem durchlässigen Oberstufenmodell arbeitet, freue ich mich immer wieder über ihre wohlfeilen Ratschläge aus den Büros fernab den Herausforderungen der Unterrichtspraxis. Sehen Sie, da liegt unser Problem. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich sind derart mit unseren Alltagsproblemen beschäftigt, dass wir gar keine Musse haben, uns mit ihren steilen theoretischen Thesen auseinanderzusetzen, die da täglich vom medialen Parkett auf uns hereinprasseln. Wir haben auch gar keine Zeit, die von Ihnen zitierten Studien zu lesen, die ihre Forderungen untermauern sollen. Und wenn es ein Kollege doch einmal tut, kommt heraus, dass diese Studien in ihrem Design komplett unbrauchbar sind.

Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Energiesparen in energetisch katastrophalen Schulhäusern.

Das schreckt ab. Sie müssen es uns nachsehen, dass wir etwas utilitaristisch veranlagt sind.

Deshalb ein bescheidener Rat aus der Praxis. Bei uns in den Oberstufenzentren im Kanton Bern sind auf den nächsten Sommer viele Stellen ausgeschrieben. Tausende von Lehrkräften unterrichten bereits ohne Diplom. Kündigen Sie Ihre Stellen oder nehmen Sie ein Jahr einen Bildungsurlaub. Dann gibt es auch keinen Einkommensverlust für Sie. Natürlich ist ein Oberstufenkonferenzraum nicht zu vergleichen mit den Tagungsstätten, auf denen Sie sich zu bewegen pflegen. Auch die Kameras fehlen. Aber ich kann Ihnen versichern, es ist einiges spannender bei uns, und einen Apéro am Freitagnachmittag gibt es auch. Fassen Sie sich ein Herz und bewerben Sie sich auf eine unserer ausgeschriebenen Stellen, ein Jahr lang. Natürlich müssten Sie da auch Ihre Skier wieder hervornehmen und ab und zu auswärts übernachten mit einem 24-Stundenbetrieb. Sie können aber auch den Innendienst leiten.

Sie haben ja alle in Urzeiten einmal Unterricht gegeben, besitzen ein Patent und verfügen über ein sprachliches Level, das über das heute verlangte B2-Sprachniveau hinausgeht. Das zeigen Ihre exquisiten Texte, die wir leider nur teilweise lesen können… Sie wissen ja, die Praxis ruft und die Korrekturen der Aufsätze (darf man das Wort «Aufsätze» in Ihrem pädagogischen Duktus überhaupt noch aussprechen?) beansprucht viel Zeit.

Einmal bei uns im Kollegium angekommen, können Sie uns dann in der Praxis zeigen, wie Ihre Reformgedanken didaktisch umgesetzt werden. “Vorzeigen-Nachmachen”, ein altes Aebli-Prinzip. Aber wahrscheinlich ist Hans Aebli für Sie überholt. Sie sind sicher viel moderner ausgerichtet. Es ist eine Win-win-Situation. Und wir sind so froh, wenn Sie uns helfen könnten, diesem von Ihnen konstatierten Elend der Volksschule zu entkommen. Sie müssen uns glauben, wir wussten gar nicht, wie schlimm es um unser Wirkungsfeld bestimmt ist.

Freundliche Grüsse

Alain Pichard

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Die Kompetenzraster der Wunschprosa-Phantasten: Lernziel – Engel https://condorcet.ch/2024/03/die-kompetenzraster-der-wunschprosa-phantasten-lernziel-engel/ https://condorcet.ch/2024/03/die-kompetenzraster-der-wunschprosa-phantasten-lernziel-engel/#comments Tue, 05 Mar 2024 17:17:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=16081

Die Notendebatte hat uns im Griff. Den Anfang machte das Eltern-Magazin "Fritz und Fränzi", dann kam die Vereinigung der Schulleiterinnen und Schulleiter, gefolgt von der Mercator-Stiftung und schliesslich noch die famose Rahel Tschopp, eine Mischung aus Mutter Theresa der Pädagogik und Trudi Gerster. Sie alle wollen die Noten ersetzen. Mit was? Condorcet-Autor Alain Pichard hat es herausgefunden.

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Schon während den Lehrplandiskussionen vor 10 Jahren machten die ersten Kompetenzraster die Runde. Den Anfang machte ein 7-seitiger Beobachtungsbogen,  mit dem Kindergartenkinder in St. Gallen vermessen werden sollten. Unvergessen das Beobachtungsmerkmal: “Kann Papier schneiden, ohne die Zunge herauszustrecken”. Das hatte meine Kinder zu einem Lachanfall veranlasst, weil  ihrem Vater dieses Behinderungsmerkmal gelegentlich immer noch unterlief.

Alain Pichard, Condorcet-Redaktion, Grossrat, Mitglied der Bildungskommission im Kanton Bern.

Dann folgte die Sache mit den überfachlichen Kompetenzen. Auf einer Skala von 1 – 10 sollten in Zeugnissen plötzlich Verhalten und Charakterfragen beurteilt werden, wie “kann sich situationsgemäss ausdrücken” oder “kann mit Vielfalt umgehen”. Ein Ansinnen, das aufgrund eines medialen Shitstorms in der Schublade der Freiwilligkeit verschwand.

Seit einigen Wochen hat nun eine Notendebatte eingesetzt. Losgelöst wurde sie vom Verband der Schulleiter und Schulleiterinnen der Schweiz und dankbar von einer Vielzahl von eifrigen Bildungsreformern aufgenommen, die unsere Schule von Grund auf erneuern wollen. Sie sprechen den Noten jegliche Signifikanz ab. Sie seien ungerecht, ungenau, diskriminierend, willkürlich, unpädagogisch, unwissenschaftlich, fremdenfeindlich. Gefragt sei eine umfassende und nicht eine diskriminierende, sondern eine fördernde Beurteilung. Auf die Frage, was denn die Alternative sei, kommt von den Notenverächtern selten etwas Klares. Tortenkleberli und Rüebli können es ja auch nicht richten. Von der Mercator-Stiftung, ein ganz eifriger Alternativbeurteiler, sind uns aber ausgeklügelte Beurteilungsunterlagen zugänglich gemacht worden [1]. Und damit wären wir wieder bei den guten alten Kompetenzrastern. Als Beispiel sei hier ein Bogen aufgeschaltet, der sich mit einem Lernziel zusammenfassen lässt: Wie werde ich ein Engel.

Jetzt aber “zeige ich Mitgfühl und Verständnis” und schliesse diesen Beitrag.

[1] https://www.zebis.ch/unterrichtsmaterial/kriterienraster-ueberfachliche-kompetenzen

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Wann kommt die Initiative für einen ausgewogenen Regenfall? https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/ https://condorcet.ch/2024/01/wann-kommt-die-initiative-fuer-einen-ausgewogenen-regenfall/#respond Sun, 28 Jan 2024 18:07:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=15792

Der aargauische und der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverband lancierten diese Tage eine Verfassungsinitiative, welche eine qualitativ gute Bildung in ihren Kantonen garantieren soll. Alain Pichard erklärt, weshalb er dieser Initiative nicht viel abgewinnen kann.

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Am 28. November 2021 wurde die Initiative «Für eine starke Pflege (Pflegeinitiative)» von Volk und Ständen mit einem Ja-Anteil von 61% angenommen. Artikel 117b Bundesverfassung verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anerkennen und fördern. Der Zugang zu einer Pflege von hoher Qualität soll für alle Menschen garantiert sein.

Alain Pichard, GLP-Grossrat im Kanton Bern, Mitglied der Bildungskommission: Das Muster ist immer dasselbe.

Heute nach 3 Jahren herrscht bezüglich der Wirkung dieses politischen Begehrens eine Katerstimmung. Diese Initiative habe nichts gebracht, eine Prognose, die viele Fachleute der Initiative vorausgesagt hatten. Aber wer konnte schon gegen eine qualitativ gesicherte Alterspflege für alle sein?

Ähnlich verhielt es sich mit dem Klimagesetz. Die Eidgenössische Abstimmung über die Totalrevision des CO2-Gesetzes wurde am 13. Juni 2021 mit einer Mehrheit von 51,59 % abgelehnt. Deshalb versuchte man es mit einem Klimagesetz, dessen konkrete und spürbare Umsetzungen aber noch bevorstehen und ebenfalls vor dem Souverän bestehen müssen.

Nun lancierten der bernische Lehrerinnen- und Lehrerverein (Bildung Bern) und der aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverein je eine kantonale Volksinitiative, welche die Sicherung der Bildungsqualität in die Verfassung schreiben will.

Das Muster dabei ist immer dasselbe. Man versucht, einen Missstand – zu wenig Pflegende, zu wenig Lehrkräfte, zu viel CO2 – zu bekämpfen und formuliert daraufhin griffige Forderungen. Die Krux: Auch bei konkreten Gesetzesvorlagen und Budgetforderungen gibt es Debatten, werden Kosten-Nutzen-Analysen erstellt, können sich Geister scheiden. Und wenn dann diese konkreten Massnahmen von der Wirklichkeit umzingelt werden, einen Realitätscheck oder gar ein Referendum durchlaufen müssen und schliesslich an der Urne scheitern, flüchtet man in Wunschprosa und formuliert ein hehres Ziel für die Verfassung.

Kathrin Scholl, Mitglied der Geschäftsleitung des ALV: Es muss was geschehen.

Die Präsidentin des aargauische Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Kathrin Scholl, verweist darauf, dass bis 2031 47’000 neue Lehrpersonen benötigt, derzeit aber nur 34’000 ausgebildet würden. Auf die Frage, was da eine Initiative nützen soll, meinte sie: «Wir wollen Druck auf die Politik ausüben!»

Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.

Immerhin wird der Grüne Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer – ein vehementer Unterstützer der Initiative –  konkreter: In einem Beitrag auf LinkedIn formuliert er den ganzen Katalog der Begehrlichkeiten der Personalverbände, ohne Priorisierung und Reflexion:

  • Gute Infrastruktur inklusive Mittel für Digitalisierung
  • Teamteaching im Zyklus 1 und bei schwierigen Klassenzusammensetzungen
  • Stärkung des Frühbereichs und der Kindertagesstätten
  • Niederschwellige Angebote von Fachstellen für Kinder und Jugendliche
  • Zeitliche Ausstattung der Klassenlehrpersonen aller Stufen
  • Unterstützung bei der Zusammenarbeit von Eltern
  • Aufstockung der Pensen von Schulleitungen für ihre mit hoher Verantwortung verbundenen Führungsaufgaben
  • konkurrenzfähige Löhne
  • Schlanke, effiziente Abläufe in der Administration
  • Kantonale Unterstützung der Gemeinden für Schulsekretariate
  • Verpflichtung zur Ausbildung für Lehrpersonen ohne Lehrdiplom
  • Unterstützung für qualifizierte Quereinststeiger:innen
  • Eine der Qualität der Bildung direkt dienendes Weiterbildungsangebot
  • Vorausschauende Partizipative Planung von geeigneten Schulgebäuden
Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer: Mehr …

Abgesehen davon, dass dieser grandiose Wunschzettel die im Kanton Bern vorhandene Schuldenbremse pulverisieren würde, müssen sich die Lautsprecher dieser Forderungen auch die Frage der Wirksamkeit stellen. Das Beispiel des Kantons Basel-Stadt, wo die Ausgaben pro Schüler mit jährlich 25’000 Fr. ausgewiesen werden, also 10’000 Fr. über den bernischen liegen, lässt vermuten, dass in der Forderung des “Immer mehr” vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss liegt.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Verbände den Druck, der auf ihnen selbst lastet, abmildern wollen. Regierungsnah und politisch weitgehend impotent, will man eine gewisse Mitverantwortung für das gegenwärtige Malaise nicht wahrhaben. Denn der Lehrkräftemangel hat auch mit den Reformen der letzten Jahre zu tun: «Teamteaching, kleinere Schulklassen, Lektionenausweitung durch Lehrplan 21, Frühfranzösisch, Frühenglisch, Kompetenzorientierung, Digitalisierung, Bewertung der überfachlichen Kompetenzen, Kreuzchenorgie in Zeugnissen, die Pflicht, über jedes Elterngespräch ein Protokoll zu führen, unausgegorene Inklusionsprojekte, Sitzungsmarathons, Weiterbildungsdokumentationen, die ständige Bevormundung seitens der Behörden, die den freien Gestaltungsraum einengen, Konzeptionitis auf allen Stufen… usw.  All diese Massnahmen haben unsere Gewerkschaftskollegen in den Berufsorganisationen teilweise frenetisch unterstützt.

Mehr Geld? In kaum einem Bereich unseres Staatshaushalts stiegen die Ausgaben wie in der Bildung. Erfolg: Sagenhafte 25% der Schülerinnen und Schüler können nach neun Schuljahren keinen einfachen Text entschlüsseln. Mehr Lehrkräfte? Bitte sehr, wer will das nicht? Aber wo sollen die herkommen? Frau Scholl meint: «Unsere Mitglieder haben in unseren Umfragen mehrfach gesagt, dass endlich etwas passieren muss.» Ja bitte sehr, aber was? Und da wären wir wieder bei der Pflegeinitiative oder dem Klimagesetz. Mit solchen Volksbegehren rennt man mit martialisch-nebulösen Rammböcken offene Türen ein. Ein Mitglied der kantonalen Bildungskommission in Bern meinte ironisch: «Wann kommt die Verfassungsinitiative, welche ausgewogene Niederschläge fordert? Genannt will er natürlich nicht werden, denn wer kann schon gegen eine gesicherte Bildungsqualität sein?

 

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Wie weiland Don Quijote https://condorcet.ch/2024/01/wie-weiland-don-quijote-copy/ https://condorcet.ch/2024/01/wie-weiland-don-quijote-copy/#respond Sun, 21 Jan 2024 09:10:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=15730

Nach bald fünf Jahren Condorcet wagt der Mitbegründer unseres Bildungsblogs, Alain Pichard, eine augenzwinkernde Tour d'horizon - von Luther über Don Quichote - erklärt den neuen, einfacheren Spendenmodus und verspricht mit einer Aufsehen erregenden Personalie mehr Professionalität.

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Alain Pichard, Mitbegründer des Condorcet-Blogs: Zuerst liefern.

Wie wir ja alle wissen, sagte schon Martin Luther, dass aus einem traurigen Arsch niemals ein fröhlicher Furz entweicht. Und so kämpfen wir, wie weiland Don Quichote, einfach fröhlich weiter gegen die Windmühlen fortschreitender Wunschprosa der Bildungsbürokratie, die sich in Standardisierung, Kompetenzorientierung, Vermessung der Gesinnung, Top-Down-Politik und viel Ideologie breitmacht. Aber was wir nicht ändern können, das müssen wir ja nicht auch noch ernst nehmen. Für uns fängt bekanntlich der Spass erst an, wo er für die gescheiterten Möchtegernreformer aufhört.

Wenn uns die ganzen Feingeister in ihren Hochglanzprospekten, in ihren gestylten Büros der Bildungszentralen fernab der Praxis verfluchen und ins Pfefferland wünschen. Wir halten das aus. Und das schon seit 5 Jahren.

Auf unseren November-Spendenaufruf haben wir dieses Mal verzichtet. Wir künden ja seit einem Jahr gewisse Neuerungen an, haben diese aber noch nicht umgesetzt. Wir wollen zuerst liefern und dann schauen, ob es gefällt. Das ist wahrlich wenig kaufmännisch, aber wir betreiben unseren Blog ja nicht um des schnöden Mammons Willen.

Unterstützung leicht gemacht!

Trotzdem, ohne Ihre Unterstützung geht es nicht. Das Spenden wird Ihnen, liebe Freunde des Bildungsblogs, leichter gemacht. Im oberen Balken haben wir eine Rubrik “Spenden” eingerichtet (Zwischen dem Autorenteam und Kontakte). Dort können Sie ganz einfach eine Patenschaft lösen oder für uns eine Spende tätigen, unkompliziert mit Kreditkarte. Auch die IBAN-Nummer unseres neugeschaffenen Kontos finden Sie dort und mit dem QR-Code können Sie den Einzahlungsschein herunterladen.

Und endlich sind wir auch auf den sozialen Medien präsent. Sie können uns auf Meta und X (vormals Twitter) folgen, bewerten, liken und weiterempfehlen.

Aber das Selbstverständnis, das uns der Marquis de Condorcet eingehaucht hat, nämlich einen klugen, diversen und witzigen Bildungskurs in Gang zu bringen, der auf Mündigkeit setzt, wird bleiben.

Claudia Wirz, Journalistin: Verstärkt ab 1. April unsere Redaktion

Ja, und am 1. April können wir Condorcet-Anarchisten uns auch einen journalistischen Zuzug in Form einer Anstellung leisten. Die freie Journalistin Claudia Wirz, ehemalige Gestalterin der Bildungsseiten der NZZ, wird unser Team verstärken und versuchen, uns auf den Pfad der Professionalität zu bringen. Zugegeben, kein leichtes Unterfangen.

Aber das Selbstverständnis, das uns der Marquis de Condorcet eingehaucht hat, nämlich einen klugen, diversen und witzigen Bildungskurs in Gang zu bringen, der auf Mündigkeit setzt, wird bleiben. Bei uns diskutieren, analysieren und kommentieren weiterhin linke, liberale und konservativ-rechte Persönlichkeiten das Bildungsgeschehen in der Schweiz, in Deutschland und – wie es sich für uns Prahlhanse gehört – auf der Welt. Und für alle, die uns nicht mögen, bzw. sich über einzelne Beiträge ärgern: Landen Sie einen Konter, schreiben Sie uns, beteiligen Sie sich am Bildungsdiskurs! Vor allem aber, bleiben Sie offen, unverzagt und uns treu.

 

 

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Nour und die Frage des Lernwillens https://condorcet.ch/2024/01/nour-und-die-frage-des-lernwillens/ https://condorcet.ch/2024/01/nour-und-die-frage-des-lernwillens/#respond Mon, 15 Jan 2024 22:28:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=15706

Condorcet-Autor Alain Pichard erinnert sich an einen besonderen Abend, ein besonderes Schulprojekt und an eine besondere Schülerin.

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Eine der Sternstunden meiner Lehrerlaufbahn waren die von der Bielerin Tina Messer initiierten schulischen Workshops in der Poery-Slam-Kunst. Während zweier Halbtage wurden meine Schülerinnen und Schüler in die Kunst des Poetry-Slams eingeführt, konnten erste zaghafte Versuche in eigener Dichtkunst wagen, tolle Texte kreieren und anschliessend vor Publikum präsentieren. Die gegenseitigen Auftritte steigerten das Selbstbewusstsein und die Freude am Formulieren. Die Texte wuchsen in Länge und Gehalt. An einem schulinternen Abend für Lehrkräfte, Eltern, Behördenmitgliedern und natürlich den Schülerinnen und Schülern selbst, konnten die jungen Poeten ihre selbst formulierten Texte vortragen. Sie wurden in bewährter Poetry-Slam-Tradition mit Punkten bewertet (1 – 10). Die bestbewerteten Darbietungen konnten dann im Rahmen eines grossen Poetry-Wettbewerbs im altehrwürdigen «Chessu» (das autonome Jugendzentrum) sich mit den Cracks einer anderen Schule messen. Der Anlass erfreut sich jeweils grosser Beliebtheit und wird von meinen Schülern als «megacool» empfunden. Spannend ist es dabei, auch die Reaktion der Eltern zu beobachten, viele von ihnen mit Migrationshintergrund. Auch wenn diese nicht alle Texte vollständig verstanden, waren sie dennoch stolz, ihre Kinder auf der Bühne zu sehen. Kulturarbeit im besten Sinn.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Sie liess sich weder von Mitschülern, noch von Experten in den Bildungsbüros bremsen.

Besonders in Erinnerung blieb mir eine junge libanesische Schülerin meiner Klasse. Nour, so ihr Name, beeindruckte uns Lehrkräfte und viele Eltern mit einem glühenden Votum für einen besseren Umgang unter den Schülerinnen und Schülern der Oberstufenklassen. Nicht nur das: Sie wollte lernen und baute dies in ihren Text ein:

Nour R., redete Klartext

Eine Passage blieb mir in Erinnerung: „So frage ich, ob es noch Zusatzaufgaben gebe und erhalte als Antwort, ’halt doch die Fresse du Streberin!’ So ist es also hier, wer sich anstrengt und weiterkommen will, ist eine Streberin!”

Natürlich waren nicht alle Mitschülerinnen von so einem Bekenntnis begeistert. Darunter übrigens durchaus nicht nur lustlose Migrantenkinder, sondern auch solide Schweizer Burschen.

Schon damals musste sich meine Nour nicht nur gegen minimalistische Mitschüler behaupten, sondern gegen ein Bündnis von Erziehungswissenschaftlern, PH-Dozentinnen  und Bildungsfunktionären, welche ihre holistischen Vorstellungen auch auf die Studierenden übertragen wollen. So wird zum Beispiel die Forderung immer lauter, die Hausaufgaben abzuschaffen. Sie seien der Grund für Streitereien in der Familie, verursachten Stress und würden die Ungleichheit zwischen privilegierten und unterprivilegierten Schichten fördern. Streng nach dem Motto: Wo was gross ist, bleibt es rundherum klein. Und so etwas gelte es unter allen Umständen zu verhindern.

Die von der Bielerin Tina Messer organisierten Poetry-Slam-Anlässe für die Schule sind erfreuen sich grosser Beliebtheit.

Keine Frage: Es gibt dumme Hausaufgaben, genauso wie es bequeme Lehrkräfte und einfältigen Unterricht gibt. Ich lege selbst auch nicht die Hand ins Feuer, dass ich immer die klügsten Arbeitsaufträge erteile. Hausaufträge können hingegen auch inspirierend und interessant sein, vor allem aber sind sie unvermeidlich, wenn es ums Lernen geht. Die SOL-Lektionen, in denen Schülerinnen und Schüler ihre Aufträge auch in der Schule unter Aufsicht und Betreuung der Lehrkräfte erledigen können, gehören längst zur Stundentafel der meisten Schulen.

Nour gehörte zu den Schülerinnen und Schülern, die gerne lernten, liebend gerne noch etwas mehr, auch zu Hause. Intuitiv misstraute sie den Leuten, welche ihr eine Umdeutung aller Werte predigen wollen: Keine Leistung, dafür viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen. An so etwas wollte sich die Torhüterin ihres Fussballclubs gar nicht erst gewöhnen.

Sie liess sich weder von Mitschülern, noch von Experten in den Bildungsbüros bremsen. Vermutlich ahnte die intelligente Libanesin, dass die Verachtung der Leistung vor allem den Kindern der unteren Schichten schadet, denn gerade sie müssen Leistung zeigen, um hochzukommen. Nour absolvierte eine KV-Lehre, machte anschliessend die Berufsmatur und ist heute in einer internationalen Firma in den Finanzen tätig.

An der schulinternen Ausscheidung schaffte sie es nicht unter die besten Drei, trotz ihres vorzüglichen Textes – und damit meine ich nicht den mutigen Inhalt, sondern auch die sprachliche Brillanz. Durch den Verzicht von zwei vor ihr liegenden Kameraden rutschte sie aber dennoch in das Finale im Chessu. Dort war das Publikum etwas «wohlgesonnener» und erkannte den Wert des Textes. Nour belegte den 2. Platz.

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Liebe Musliminnen, liebe Muslime https://condorcet.ch/2024/01/liebe-musliminnen-liebe-muslime/ https://condorcet.ch/2024/01/liebe-musliminnen-liebe-muslime/#respond Fri, 12 Jan 2024 14:41:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=15507

Condorcet-Autor Alain Pichard bezeichnet sich als Anwalt der Migrantenkinder. Aber, so betonte er stets, Integration sei keine Einbahnstrasse. In diesem Text verbeugt er sich aber vor der grossen Anpassungsleistung der Muslime in unserem Land. Sie bringen ihrer Heimat viel und sie sind die Mehrheit.

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Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Eine starke Gründungsmentalität.

Ich komme schon bei dieser Anrede ins Straucheln. Denn angenommen, ich lebte in einer muslimisch geprägten Umgebung und würde in einem Artikel mit «liebe Christen» angesprochen werden, würde ich mich als Konfessionsloser gar nicht erst angesprochen fühlen. So musste ich zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass gemäss einer Studie, der Anteil der Konfessionslosen bei Ihnen höher liegt als bei den Christen. Wer hätte das gedacht?

Über 5000 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die als Muslime bezeichnet werden, leben derzeit in Biel. Das sind 10%. Die Zusammensetzung dieser Population unterscheidet sich stark von der in Frankreich. Während unser westliches Nachbarland über 7 Millionen Menschen vorwiegend mit maghrebinischen Wurzeln aufweist, zählen wir in unserer Stadt wesentlich mehr Leute aus dem Balkan und der Türkei. Dieses Zusammenleben ist nicht spannungsfrei, aber weit von den Zuständen in den französischen Banlieues entfernt.

Die Beziehung zwischen uns beiden war nicht immer spannungsfrei. 2006 veröffentlichte ich mit drei Kollegen einen Artikel, in dem ich Sie daran erinnerte, dass die Integration keine Einbahnstrasse sei und den mangelnden Lernwillen zahlreicher Migrantenkinder beklagte. Anders als bei den Leuten, die sich Sorge um eine allfällige Überfremdung unseres Landes machen, ging es mir immer um die mir anvertrauten Kinder. Und ich sagte Ihren Kindern immer, dass sie mehr arbeiten müssten als ihre Schweizer Kameraden, das Los jeder Migration. Ein paar Jahre später deckte ich die Machenschaften des Islamrats auf, der Jugendliche aus Biel indoktrinierte und sie in sogenannte Koranschulen schickte, wo einige von ihnen für den Dschihad rekrutiert wurden. Im linken Milieu warf man mir eine Islamophobie vor. Die Informationen zu diesen Vorgängen erhielt ich aber von muslimischen Eltern von Betroffenen, die völlig verzweifelt waren. Und viele von Ihnen kamen später auf mich zu, um sich bei mir zu bedanken.

Anders als bei den Leuten, die sich Sorge um eine allfällige Überfremdung unseres Landes machen, ging es mir immer um die mir anvertrauten Kinder.

Egal ob Bosnier, Albaner, Pakistaner, Türken oder Kurden, die meisten Kinder und Eltern, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, haben meine Anliegen verstanden. Während die Integrationsbehörden Ihnen die Umkehr aller Werte predigten, wonach bei einem Scheitern nicht Sie

Junge Muslime, die in der von unserem Autor gegründeten “Theaterzone Biel” mitwirkten.

sondern unser fremdenfeindlicher Staat die Verantwortung trägt, haben Sie erkannt, dass der Weg der Eigenverantwortung vielversprechender war. Sie haben mich an Ihre Feste und Hauseinweihungen eingeladen, Ihre Kinder haben in meinem Lehrlings- und Migrantentheater mitgewirkt und sind heute stolze Berufsleute.

Hüseyn stellte zum Beispiel sein Kebabrestaurant ohne zu zögern einer Orpunder Klasse zur Verfügung
Pajtime, die zusammen mit einer Jüdin die BESA-Ausstellung in Biel moderierte.

Wir sprechen viel über Integration, aber viel zu wenig über Selbstständigkeit. Ein Fehler, denn punkto Gründungsmentalität können wir viel von Ihnen lernen. Sie tragen erheblich zum Gründungsgeschehen in unserem Land bei. Hüseyn stellte zum Beispiel sein Kebabrestaurant ohne zu zögern einer Orpunder Klasse zur Verfügung, die eine Woche lang die harte Berufserfahrung im Gastronomiegewerbe kennenlernen durfte. Der Gemüseladen, den Akif und seine Familie betreiben und der natürlich auch an einem Sonntag geöffnet ist, bietet nicht nur spezielle Waren und eine überaus freundliche Bedienung, er ist ein Symbol Ihrer Schaffenskraft. An einer kürzlichen Klassenzusammenkunft erzählte mir Erdan, dass er jetzt endlich für seine Familie ein Haus kaufen konnte. Er kaufte es nicht hier, sondern in Kloten, wo der Fluglärm die Häuser billiger und die Steuern niedriger macht. Gleichzeitig gründete er eine Computerfirma. Nehat, der mir als Schüler den letzten Nerv ausgerissen hatte, ist nach einer Automechanikerlehre heute ein stolzer Carrosseriebesitzer. Wir fuhren oft zusammen an die Fussballmatches des FCB, in schicken Autos, die er mir mit Augenzwinkern präsentierte. Birsen, die stolze Kurdin, die nach einer Pflegefachlehre weiterstudierte und eine eindrückliche Karriere absolviert hat, vertraute mir an, dass sie dieses Dschihadgeschwätz nicht mehr ertragen könne. Ich erinnere mich an die Mazedonierin Pajtime, die zusammen mit einer Jüdin die BESA-Ausstellung in Biel moderierte. Die BESA-Ausstellung, welche die Rettung der Juden im 2. Weltkrieg durch die Albaner würdigte, hat mir das ganze Ausmass Ihres Erfolgs aufgezeigt.

Kurz, Sie wurden in unseren Arbeitsmarkt integriert, meistens durch eine Lehre. Nicht auszudenken, wie der Fachkräftemangel sich ausgewirkt hätte, wenn Sie und Ihre Kinder nicht wären.

Ich lernte Architekten, Ärzte, Juristinnen und Ingenieure kennen, Leute, die das Aufstiegsversprechen unseres Landes eingelöst haben, und natürlich immer wieder solide Handwerker. Während unsere Generation Z mit Teilzeitarbeit und Worklife-Balance durchs Leben schreitet und staunt, dass sie mit 30 kein Eigentum erwerben kann, arbeiten Sie in Schichten und mithilfe der ganzen Familie, um sich mit diesem Netz ein Haus leisten zu können. Als ich bei einer Hauseinweihung eingeladen war, schwärmte der frischgebackene Hausbesitzer, dass er schon wenige Wochen nach der Unterschrift im Grundbuchamt eingetragen war. In seinem Herkunftsland wäre dies, so sagte er mir, nicht ohne Schmiergeld gegangen und hätte mehr als ein Jahr gedauert. Kurz, Sie wurden in unseren Arbeitsmarkt integriert, meistens durch eine Lehre. Nicht auszudenken, wie der Fachkräftemangel sich ausgewirkt hätte, wenn Sie und Ihre Kinder nicht wären. Viele von Ihnen sind immer noch sehr israelkritisch. Sie akzeptieren aber, dass der Autor dieser Zeilen, der ehemalige Lehrer Ihrer Kinder, für dieses Land einsteht. Damit haben Sie auch ein wesentliches Prinzip unseres erfolgreichen Staates verstanden. Der Respekt vor anderen Meinungen. Es ist nicht der Islam, der zu uns gehört, es sind Sie, mit Ihrer grossen Anpassungsleistung und dem Willen, die Chance, die Ihnen unsere Gesellschaft bietet, zu ergreifen. Das ging nicht immer reibungslos und erforderte oft harte Arbeit. Und vor dieser kann man nur den Hut ziehen!

 

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Die Sache mit dem Altern oder der Junge von Odessa https://condorcet.ch/2023/12/die-sache-mit-dem-altern-oder-der-junge-von-odessa/ https://condorcet.ch/2023/12/die-sache-mit-dem-altern-oder-der-junge-von-odessa/#respond Sat, 30 Dec 2023 17:40:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=15595

Zum Jahresabschluss veröffentlichen wir einen sehr persönlichen Beitrag unseres Blog-Gründers und Condorcet-Autoren, Alain Pichard. Er wurde vor fünf Monaten pensioniert nach einer dreijährigen Zusatzschlaufe. Der Abgang, so viel sei verraten, fiel ihm nicht leicht. Aber sein Erlebnis in Odessa ist eine wunderbare Metapher zum Jahresende.

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Ich hätte schon 2020 in Pension gehen können. Da ich damals als Klassenlehrer eine 8. Klasse führte und wir bereits die Vorboten des grassierenden Lehrermangels spürten, war es für mich keine Frage, dass ich noch ein Jahr drauflegte und die Klasse zu Ende führte. Zumal die Rahmenbedingungen stimmten: tolle Klasse, gute Eltern, ein lustiges und initiatives Kollegium und eine blendende Schulleitung. Im Sommer 2021 war es dann so weit. Ich wurde mit einem rauschenden Fest verabschiedet, erhielt viele Wertschätzungen und schritt zuversichtlich in die «langen Ferien».

Alain Pichard, pens. Lehrer, GLP, Grossrat im Kanton Bern

In der letzten Woche der Sommerferien kam ich noch einmal in mein ehemaliges Kollegium zurück. Ich benötigte noch ein paar Materialien, die ich vergessen hatte. Ich brachte meinen ehemaligen Kollegen Gipfeli. Diese waren alle am arbeiten, lachten und freuten sich über mein Kommen. Wir tranken einen Kaffee, dann riefen ihre Aufträge wieder. Sie schienen fröhlich, sprachen über die kommende Projektwoche, erzählten von den Ferien. Ich holte die benötigten Sachen und verliess das Gebäude, in dem ich 11 Jahre gewirkt hatte, durch den Hinterausgang. Auf dem Weg zum Hinterausgang, die Treppe hinunter, wurden meine Beine etwas schwerer. Es war nicht die Tatsache, dass mir just dieser Ort nun sehr viel bedeutete oder ich besonders glücklich gewesen wäre in diesen Gemäuern. Ich liebte meinen Beruf, hatte aber durchaus ein Leben neben der Schule. Es war wohl die Tatsache, diesen Ort zu verlassen, einen Teil seines Lebens hinter sich zu lassen, zu erkennen, dass er sich in nichts auflöst. Die Türe schloss sich und ich hatte keinen Badge, um wieder hineinzukommen. In diesem Moment ergriff mich ein Gefühl der Mattigkeit und der Trauer. Ich spürte das Alter.

Philipp Roth, 1933 – 2018, amerikanischer Autor: Das Alter ist ein Massaker.

Das Gefühl ging nicht weg. „Das Alter ist kein Kampf“, resümiert der namenlose Protagonist in einem Roman von Philipp Roth, „das Alter ist ein Massaker.“ Der US-amerikanische Autor, der vor vier Jahren starb, lieferte mit „Jedermann“ eine universale Geschichte über die Angst vor der Sterblichkeit, vor Verlust, Reue und der erdrückenden Einsamkeit am Lebensabend. (Focus-Buchbesprechung) Sein Held ist ein einst erfolgreicher Werbe-Designer, pensioniert, dreifach geschieden und Vater zweier Söhne, die ihn abgrundtief verachten.

Als ich vor kurzem dieses Buch wieder einmal las, gewahrte ich, wie sehr auch ich von Zeit zu Zeit von solchen Gefühlen erfasst werde. Man lässt das eigene Leben Revue passieren und wird mit Beziehungskonflikten, Fehlschlägen oder falschen Entscheidungen konfrontiert. Am Schreiben, am Malen, an den Grosskindern, kurz an all dem, was man zum Inhalt seiner vielen freien Stunden machen wollte, findet man plötzlich wenig Erfüllung.

Die Rente erscheint überraschenderweise nicht mehr als Beginn eines jahrzehntelangen fröhlichen Urlaubs. Das Leben wird enger, man wird einsamer und muss sich aufs Vergessenwerden einstellen.

Es kommen ungeahnte Gefühle auf: Hadern mit dem Verlust der Jugend, jede Menge von Bitterstoffen, der Kampf gegen die nachlassende Bedeutung beginnt. Die Rente erscheint überraschenderweise nicht mehr als Beginn eines jahrzehntelangen fröhlichen Urlaubs. Das Leben wird enger, man wird einsamer und muss sich aufs Vergessenwerden einstellen. Irgendwie will man sich dagegen auflehnen, versucht die Leere mit Tätigkeit zu überbrücken. In meinem Fall als Kolumnist, als Politiker oder als Wiedereinsteiger in den Lehrberuf. Ich muss aber erkennen, dass dies einem Aufschieben der Grundfragen gleichkommt. Wie lange will ich mit meinen vorwiegend älteren Mitstreitern diesen Blog noch betreiben? Wie lange akzeptieren meine Schüler “den alten Knacker” da vorne, der ihnen die binomischen Regeln beibringen will? Wie lange sind meine Texte in der Bildungsszene noch gefragt? Wie lange kann ich als Parlamentarier und Rentner den Jungen glaubwürdig erklären, wie Schule auch noch funktionieren kann? Und vor allem, woher kommt dieses merkwürdige Sendungsbewusstsein? Dieses Suchen nach Aufmerksamkeit, das uns Politikern innewohnt.

«Theater machen ist auf Sand gebaut».

Ralph Fehlmann, Redaktionsmitglied des Condorcet-Blogs, Gymnasiallehrer, Autor, Mitbegründer von FACH: schied anfangs dieses Jahres aus dem Leben.

Ich habe in Gesprächen festgestellt, dass ich bei weitem nicht der einzige bin, den diese Fragen umtreiben. Die Depression meines Weggefährten Ralph Fehlmann, sein freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben Anfang dieses Jahres haben mich tief betroffen und mir zusätzlich einen abrupten Denkbefehl auferlegt.

Vor einiger Zeit bat ich einen guten Freund und Theatermacher, mir bei der Neuauflage des von mir gegründeten Migrantentheaters (Theaterzone Biel) zu helfen. Er sagte mir ab. Am Schluss unseres Gesprächs fragte er mich, warum ich dieses Theaterprojekt machen wolle. Ich antwortete ihm, dass ich das Gefühl habe, es zu brauchen. Daraufhin gab er mir einen bedenkenswerten Satz mit auf dem Weg: «Theater machen ist auf Sand gebaut».

Dieser Satz liess mich an eine Begebenheit aus dem Jahre 1973 denken. Ich besuchte damals in den Sommerferien einen vierwöchigen Sprachkurs in Moskau. Übers Wochenende flog ich mit Freunden nach Odessa, einer in der damaligen spröden Sowjetunion ziemlich mediterranen und lebensfrohen Stadt am Schwarzen Meer.

Als wir längs des Strandes flanierten, gewann ein Junge am Meer meine Aufmerksamkeit. Völlig vertieft tröpfelte er den nassen Sand im Spiel der Wellen zu einem filigranen Turm, der mich an eine Giacometti-Säule erinnerte. Ich liess meine Freunde ziehen, setzte mich auf den Quai und beobachtete diesen ukrainischen Knaben bei seiner Tätigkeit. Völlig vertieft und ohne von seinem Bauen abzulassen, liess er dieses Sandstrebewerk in die Höhe wachsen. Später, als ich selbst Vater war und mit meinen Kindern Sandburgen baute, versuchte ich mich immer wieder darin, diesen Knaben zu imitieren. Nie erreichte ich diese Vollendung. Was mich aber am meisten beeindruckte, war diese Hingabe, die völlige Konzentriertheit auf das Werk. Als ich ihm zusah, wünschte ich mir, dass dieser Moment nie vorbeigehen würde. Die Türme wuchsen – schlank und elegant – beinahe auf seine Körpergrösse.

Strand von Odessa heute

Plötzlich – ich weiss nicht, nach welcher Zeit – rannte er weg und liess seine mittlerweile acht Türme stehen. Er verschwand in der Menge der Strandgänger, ohne sich nach seinem Werk umzusehen. Es schien vollbracht. Er zeigte sein Schaffen niemandem, er ging einfach. Ich blieb sitzen und betrachtete die mit der Flut näherkommenden Wellen. Es dauerte nicht lange, da war dieses in Sand geschriebene Kunstwerk Geschichte.

Nicht alle Erinnerungen sind schmerzhaft, aber im Alter muss man alle Bilder zulassen, auch dann, wenn sie eine Quelle brennender Trauer sind.

Der heitere Bursche war vielleicht acht Jahre jünger als sein heimlicher Beobachter. Was mag mit ihm passiert sein? Lebt er in dieser heute umkämpften und schwer verwundeten, aber immer noch ukrainischen Stadt, lebt er überhaupt noch? Nicht alle Erinnerungen sind schmerzhaft, aber im Alter muss man alle Bilder zulassen, auch dann, wenn sie eine Quelle brennender Trauer sind. Durch diesen Schmerz sagt man Ja zu seinem Leben, ist ihm nah, versöhnt sich auch mit dem Tatbestand, dass etwas vorbei ist. Und man muss lernen, sich an dem zu erfreuen, was man hat und kann. Und man muss versuchen, Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Sich nicht mehr allzu wichtig nehmen, sich kritisch hinterfragen, was in all der Lebenshektik wirklich Sinn macht. Aus einem zusätzlichen Jahr wurden schliesslich drei Jahre. Die letzten beiden Jahre führte ich eine Klasse aus einer Brennpunktschule in Biel in die Berufswelt und wurde vor fünf Monaten ein zweites Mal pensioniert. Diese dreijährige Zusatzschlaufe ermöglichte mir mein gesunder Körper, mein funktionierendes Gehirn, meine Schaffenskraft und meine Liebe zum Beruf. Dafür sollte man dankbar sein.

Der ukrainische Knabe hingegen hat mir eine Blüte hinterlassen, deren Duft mich heute noch zu erfassen mag. Der Sinn des Lebens besteht – auch im Alter – im Leben selbst. Philipp Roth hat übrigens seine wunderbarsten Bücher im hohen Alter geschrieben.

 

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