6. Oktober 2024

Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung – Teil 1

Der emer. Professor der Universität Zürich Jürgen Oelkers hat uns eine umfassende Analyse der Umgestaltung unserer Schullandschaft im Zeitaler der Digitalisierung zur Verfügung gestellt. Die Redaktion des Condorcet-Blogs ist sich einig, dass es sich hier um eine hervorragende Beschreibung des gegenwärtigen Reformdiskurses handelt. Deshalb veröffentichen wir ihn in voller Länge, aufgeteilt in drei Teile. Lesen Sie heute den 1. Teil: “Wandel der Lebenswelten”.

  1. Der Wandel der Lebenswelten
Jürgen Oelkers, emer. Professor der Universität Zürich: Schulen haben das Monopol der Wissensvermittlung verloren, sind aber für Bildungsprozesse nicht überflüssig.

Mit dem Aufkommen und der schnellen Verbreitung von Smartphones seit etwa fünfzehn Jahren hat sich das Lernverhalten nicht nur von Kindern und Jugendlichen massiv verändert. Es wurde dabei hochgradig individualisiert und die genutzten Umwelten sind auf ein Gerät reduziert. Gelernt wird im Alltag mit neuen und jederzeit zugänglichen Quellen der Informationsgewinnung, mit schneller Kurztext-Kommunikation in der Öffentlichkeit von Twitter, mit Bild- und Videokommunikation auf Instagram. Die Folge davon ist der Dauereinsatz der persönlichen Aufmerksamkeit, die einhergeht mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Wohlbefinden derer, die als «User» und – genderkorrekt – als «Userin» bezeichnet werden.

Die damit verbundenen Erfahrungen wirken sich direkt auf die Lernerwartungen in Schulen und Elternhäusern sowie Universitäten aus, weil schnelle Zugänglichkeit gefragt ist, lange Suchprozesse die Frustrationstoleranz strapazieren und Ergebnisse erwartet werden, die keinen grossen Aufwand verlangen.

Das betrifft direkt die Schulen, also den nach dem Gesundheitswesen zweitgrössten institutionellen Komplex der modernen Gesellschaft. Die Kulturen, in denen Kinder und Jugendliche heute gross werden, haben sich in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren stärker und schneller verändert als in allen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Kulturen, in denen Kinder und Jugendliche heute gross werden, haben sich in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren stärker und schneller verändert als in allen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Schülerinnen und Schüler wachsen heute mit ständiger und schneller Erreichbarkeit auf, sie lernen, sofort zu reagieren, ein Tag ohne Smartphone erscheint wie eine einzige Zumutung und selbst gemeinsame Mahlzeiten verfügen über keine Schutzzone, wenn man keinen Druck ausübt. Das gilt nicht nur für die Kinder, sondern für alle, die mit Smartphones leben. Sie werden an das Gerät gefesselt und scheinen es nicht zu merken oder als Behinderung zu erleben.

Wer heute noch mailt, ist bereits überholt.

Die sozialen Medien sorgen nicht nur für Beschleunigung, sondern stehen auch selbst unter Beschleunigungsdruck. Pointiert gesagt: Wer heute noch mailt, ist bereits überholt. Seit gut zwanzig Jahren prägen immer neue Medien den Alltag und so auch Aufmerksamkeit und Zeitnutzung.

Umgekehrt gesagt, wer sich unterscheiden will, muss Briefe schreiben.

Facebook wurde 2004 gegründet, Instagram 2010 und gehört nach schnellem Erfolg seit 2012 zu Facebook, Twitter besteht seit 2015 und das Videoportal TikTok, mit grossem Einfluss auf Kinder, wird seit September 2016 angeboten. Das Computerspiel Counter-Strike gibt es seit 1999, es hat also bereits ein Alter, das in der medialen Welt an Methusalem erinnert. Für viele zählt gar nicht mehr, was vorher war. Umgekehrt gesagt, wer sich unterscheiden will, muss Briefe schreiben.

Die neuen Medien verstärken und radikalisieren die Trends, die bereits zuvor westliche Gesellschaften verändert haben. Die Lebensentwürfe folgen persönlichen Idealen, die Mobilität ist hoch und die Bindekräfte traditioneller Institutionen wie Kirchen oder Vereine nehmen weiter ab. Man kann so von einem Wandel hin zu einem individuellen Lernnutzen sprechen, der unmittelbare Folgen für die gesellschaftliche Bildung und ihre Organisation hat.

Lehrerinnen und Lehrer sind nirgendwo «Influencer».

Schulen sind historisch unter gänzlich anderen Voraussetzungen entstanden .

Schulen sind historisch unter gänzlich anderen Voraussetzungen entstanden und unter diesen Voraussetzungen entwickeln sie sich bis heute. Die Voraussetzungen sind seit dem 19. Jahrhundert konstant und zu ihnen gehören etwa ein staatlicher Lehrplan, eine professionell ausgebildete Lehrerschaft, klare Zeitstrukturen, feste Ferienbestandteile im Schuljahr, die Benotung der Leistungen durch die Lehrpersonen und Präsenzunterricht. Das gilt auch für die Berufsbildung. Lehrerinnen und Lehrer sind nirgendwo «Influencer».

 

 

  1. Die Schule vor der digitalen Welt

 Der digitale Wandel hat die Schulen erreicht, verzögert, weil es sich um geschützte Räume handelt, aber mit der Corona-Krise umso heftiger. Bereits zuvor ist verschiedentlich bezweifelt worden, dass Schulen in ihrer historischen Form einfach so weiterbestehen können, aber nunmehr häuft sich die Kritik und die scheint sich in einer Frage zu bündeln: Brauchen wir Schulen überhaupt noch, wenn sich das Leben weitgehend individualisiert hat und das Internet für die Bildung sorgt?

  • Wikipedia wäre die Suchbasis des Unterrichts,
  • das Lernen könnte komplett selbstorganisiert erfolgen,
  • Aufgaben und Themen folgen den eigenen Interessen,
  • statt Lehrpersonen gibt es den Austausch in Chats
  • und Selfies dienten der Selbstvermarktung nach bestandenen Prüfungen,
  • für die eine anonyme Internetagentur zuständig wäre.

In der Schweiz ist unlängst gefragt worden, ob nicht die Künstliche Intelligenz (KI) Lehrerinnen und Lehrer überflüssig machen werde. Als Zeitangabe wurde der Ausdruck«dereinst» gewählt, also ziemlich bald, nachdem in den Schulen bereits erste KI- «Werkzeuge» eingesetzt werden und irgendwann auch der Ertrag sichtbar wird.1

Brauchen wir Schulen überhaupt noch, wenn sich das Leben weitgehend individualisiert hat und das Internet für die Bildung sorgt?

Denkbar ist alles, etwa ein selbstorganisiertes Lernen mit Alexa von Amazon, die heute noch «Sprachassistentin» heisst, aber morgen das «home schooling» revolutionieren könnte. Ohne Gag gesagt: In den Beschreibungen der Industrie beeinflussen Werkzeuge, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten, gezielt Lernen und Verhalten, erlauben algorithmisch gesteuerte Selbstkorrekturen und stimulieren Nachdenken für bestimmte Aufgaben. Lehren wäre gleichbedeutend mit «tutoring».2

Auf der anderen Seite steht die stalinistische Variante. In der chinesischen «Smart Education» messen Kameras, die mit Künstlicher Intelligenz ausgestattet sind, das Verhalten der Schülerinnen und Schüler im Klassenzimmer, die Konzentration im Unterricht ebenso wie das Zustandekommen der Leistungen und ihre mentale Verfassung. Das Ziel ist, die vollen Potentiale der Lernenden zu erkennen, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen und schlechte Lehrer durch Distanzunterricht zu eliminieren.3

 

Wozu noch Fremdsprachen lernen?

Aber was machbar ist, liegt durchaus näher: Wozu braucht man etwa Fremdsprachenunterricht in Schulen, wenn man – mit garantiertem Wirkungsversprechen – die Berliner Plattform «Babble» benutzen kann, die 14 Sprachen anbietet und rund um die Uhr genutzt werden kann?4  Wählt man das nicht und verfügt auch sonst über keine Fremdsprachenkompetenz, dann benutzt man auf dem Smartphone einfach eine «translation app».5

Das Lernziel reduziert sich auf Urlaubsnutzung. Man lernt dann nicht, wie man sich über Jahre eine Fremdsprache aneignet, sondern nutzt das Angebot «just in time».

Weitergehende Ansprüche an Bildung können ignoriert werden, und wer würde Englisch oder Französisch lernen, wenn klar ist, dass der erwartete Erfolg ausbleibt? Jeder weiss, wie weit man mit dem «Schulfranzösisch» kommt, aber warum wird es dann noch unterrichtet?

Aber wie immer, so gibt es auch hier Gegenrechnungen. Vor einigen Jahren hat der amerikanische Philosoph Michael Patrick Lynch (2016) in seinem Buch The Internet of Us auf eine Gefahr hingewiesen, die Schulkritiker eher nicht sehen, weil sie vom Internet zu viel und von der Schule zu wenig erwarten.

  • Von ihm stammt der Ausdruck «google-knowing», also digitales Informationswissen, das gesucht und gesammelt wird.
  • Dieses Wissen hat bestimmte Eigenschaften, es ist «fast, easy and productive» (ebd., S. 179), aber nur als Wissensspeicher.
  • Die Anstrengung des Verstehens kann dadurch nicht ersetzt werden.
  • «Google-knowing» ist nicht kreativ (ebd., S. 180) und, so lässt sich hinzufügen, auch nicht auf verlässliche Weise selektiv, wie man es lange von den Lehrkräften angenommen hat.

Google ist eine Suchmaschine, aber zugleich auch ein Labyrinth neuer Art.

Google ist eine Suchmaschine, aber zugleich auch ein Labyrinth neuer Art. Das meiste wird nie gefunden, und was gefunden wird, sitzt oft dem Google-Irrtum auf, dass Verstehen direkt gelehrt werden kann (ebd., S. 181). Auch die anderen neuen Medien sind nicht einfach von sich aus bildungsaffin.

Wikipedia ist ein Lexikon in elektronischer Form, das unbegrenzt wachsen kann und tatsächlich zwischen 400 und 500 Artikel pro Tag wächst,6 doch es ist kein Lehrer und keine Lehrerin, sondern nur ein Wissenskorpus, den jeder nutzt und auf den niemand mehr verzichten will oder kann. Das Wissen ist unmittelbar erreichbar und daran lässt sich wohl ablesen, dass Schulen das Monopol der Wissensvermittlung verloren haben, aber nicht, dass sie für Bildungsprozesse überflüssig sind.

Facebook, Twitter und Instagram sind nicht das Mass aller Dinge in den Lernwelten der Zukunft. Die digitalisierten Klassenzimmer, die Apple entwickelt hat, sind für Schulen konzipiert, und sie reduzieren nicht Bildung auf Twitter-Botschaften. Lernplattformen beachten diese Grenze, und deswegen werden sich Schulen diese Technologie zu eigen machen, was nicht heisst, dass Facebook zu einem Bildungsmedium mutieren wird oder mutieren kann. Aber darin liegt gerade die Chance.

Für die pädagogische Institution Schule spricht, dass sie dauerhaft und verlässlich angeboten wird, für alle Kinder und Jugendlichen zur Verfügung steht, mit öffentlichen Geldern finanziert wird, gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt und über die Grenze der Generationen hinweg einen demokratischen Bildungsauftrag erfüllt, der anders nicht wahrgenommen werden könnte. Und ohne duale Berufsbildung wäre die Schweiz ein anderes Land.

Im Blick auf Unterricht, Aufsicht und Betreuung bietet die Schule auch konkret vieles, das für Kinder und Jugendliche unverzichtbar ist:

  • feste Zeiten für Anfang und Ende,
  • einen strukturierten Lerntag,
  • gemeinsame Ziele und Aufgaben,
  • spezialisiertes Personal,
  • ein seriöses Angebot,
  • verantwortliche Aufsicht,
  • Rückmeldungen zu den Leistungen,
  • ein verlässliches soziales Lernfeld
  • und nicht zuletzt die Abwechslung vom Konsumalltag.

Diese Sicht auf Schule ist historisch-pragmatisch. Aber nicht nur das, die Corona-Krise hat gezeigt, wie sehr die Verschulung zur Normalerwartung der Gesellschaft geworden ist und geradezu zu einem Rechtsanspruch stilisiert wurde, was noch Mitte des 19. Jahrhunderts, als ein ganzjähriger Schulbesuch in vielen Regionen ausgeschlossen war, unvorstellbar gewesen ist.

Aber die Rückkehr zur «Normalform Schule», also Präsenzunterricht und Steuerung durch die Lehrpersonen, übersieht Entwicklungen, die schon lange vor Corona die Reformdiskussion bestimmt haben. Mit ihnen ist eine neue Sprache entstanden, die mit Begriffen wie «Lerncoach» oder «Lernbegleiter» arbeitet und die für ein radikal anderes Verständnis von Unterricht ohne die alte Autorität eingesetzt wird. «Le sol» ist im Französischen der Erdboden und so soll man das «selbstorganisierte Lernen» (SOL) verstehen, als neuer Boden für die Schule.

Schluss des 1. Teils

 

1 Vortrag von Beat Schwendimann in der Berner Schulwarte am 9. September 2021.

2 https://elearningindustry.com/5-main-roles-artiuficialintelligence-in-education

3 Neue Zürcher Zeitung Nr. 138 vom 18. Juni 2021, S. 6.

4 https://apps.babbel.com/de/

5 https://mashtips.com/smartphone-translation-apps/

6 https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meilensteine

 

 

 

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