Mario Andreottis «Struktur der modernen Literatur», eine Erfolgsgeschichte

Die seit langem angekündigte Besprechung des Buches von Mario Andreotti «Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzähl-prosa und Lyrik», ist nun endlich vollbracht. Gastautorin Christiane Matter würdigt dieses Werk als Longseller und erklärt, warum es heute immer noch zu begeistern vermag.

Dass Fachbücher sich zum Bestseller entwickeln, kommt nicht häufig vor, dass sie es zum Longseller schaffen, ist sogar eine Rarität. Dem St. Galler Lehrbeauftragten für Sprach- und Literaturwissenschaft, langjährigen Referenten in der Fortbildung für Mittelschullehrkräfte und anerkannten Experten für die Literatur der Moderne gelang dies mit seinem Lebenswerk «Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik», welches 1983, also vor gut 40 Jahren, seine erste Auflage erlebte.

In der im Februar 2022 neu erschienenen 6. Auflage wurden nicht nur Inhalte erneuert und aktualisiert, sondern auch das Format verändert. Das neue, grössere Buchformat (15 x 21,5 cm) macht das Werk handlicher. Die Grafiken, Bilder und Tabellen sind somit noch leserfreundlicher gestaltet und kommen gut zur Geltung. Auch auf das ansprechende Titelblatt mit einer Collage mit modernen Autoren darf hingewiesen werden.

So gleicht keine Auflage der vorherigen, jedes Buch weist neue Kapitel und aktualisierte Textbeispiele auf.

Mario Andreotti erlaubt durch seine strukturale Herangehensweise einen tiefen Einblick in das Wesen moderner Werke und damit ihr besseres Verständnis. Er versammelt in seinem Werk unendlich viele Aspekte, von literaturgeschichtlichen Themen über die Merkmale und Analyse moderner Prosa und Lyrik bis hin zu ökonomischen Aspekten des Literaturbetriebes. Dabei zeichnet sein Schaffen aus, dass er über 40 Jahre hinweg beständig die Neuerungen der Moderne und Postmoderne nah am Puls mitverfolgte und oft zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieb. So fand die Spoken Word Literatur sehr schnell Eingang in sein Werk wie auch Formen der digitalen Literatur, z.B. der «Handyroman» oder die «Twitterlyrik». Die meisten deutschsprachigen Neuerscheinungen wurden vom Autor rezipiert und auf Innovationen abgeklopft, welche dann als Textbeispiele oder sogar als ganz neue Kapitel in die nächste Auflage seines Werkes Einzug fanden. So gleicht keine Auflage der vorherigen, jedes Buch weist neue Kapitel und aktualisierte Textbeispiele auf.

Mario Andreottis «Struktur der modernen Literatur», 6. Auflage

Als Novität wartet die 6. Auflage mit zwei neuen Haupt- und fünf neuen Unterkapiteln auf. Der Abschnitt «Buch und Markt» erlaubt zum Beispiel Einblicke in die Gesetze des Literaturbetriebes, besonders in die ökonomische Situation der Schriftsteller und ihre Schwierigkeiten bei der Verlagssuche. Der Druck auf die Autoren, sich marktgerecht zu verkaufen und trendige Themen abzuhandeln, wird kritisch unter die Lupe genommen, wie auch die Literaturinstitute, die sich der Professionalisierung des Schreibens widmen.

In einem anderen neu konzipierten Kapitel untersucht Mario Andreotti neben der neu aufkommenden filmischen Schreibweise, gekennzeichnet durch abrupte Szenenwechsel, die sprachliche Vielfalt im modernen Erzählen, welche sich durch die Annäherung der poetischen Sprache an die Alltagssprache, den sogenannten Parlandostil, und die Enttabuisierung der Sprache auszeichnet. Hierfür analysiert er aktuelle Textbeispiele der deutschsprachigen Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wie z.B. Judith Zanders Debütroman «Dinge, die wir heute sagten» (2010), Peter Stamms Erzählband «Seerücken» (2011) oder auch Helene Hegemanns «Axolotl Roadkill» (2018). Das Phänomen des Code-Switching wird an Arno Camenischs Roman «Der letzte Schnee» (2018) demonstriert.

Monika Schnyder und ihr Gedichtband “Auch Götter haben Gärten”.

Im Kapitel über die moderne Lyrik als entpersönlichte Lyrik wurde u.a. das Unterkapitel «Der Kodewechsel im modernen Gedicht» hinzugefügt. Kodewechsel bezeichnet das Phänomen, dass in der modernen Lyrik immer öfter die Sprachebene oder sogar die Sprache selbst gewechselt wird, wie man in dem Gedicht «Fanfare auf Hoher» aus dem Band «Auch Götter haben Gärten» (2019) der St. Galler Lyrikerin Monika Schnyder sehen kann.

 

 

 

see medusen im fransenhut

lachende delphine

ti prendo et ti porta via

regentrompeten

rieselndes zwielicht. wir

fliegen

 

Besonderen Wert legt Mario Andreotti auf die leichte Lesbarkeit und Verständlichkeit sowie auf die Benutzerfreundlichkeit, die auch einem nicht akademischen Publikum den Zugang zum Buch ermöglicht.

Auch in den schon bestehenden Kapiteln wurden viele Textbeispiele durch aktuelle Neuerscheinungen ersetzt, so wird z. B. das Simultanitätsprinzip der modernen Literatur – welches die chronologische Abfolge traditionellen Erzählens durchbricht – anhand von Auszügen aus dem Werk «das alles hier, jetzt» der Gewinnerin des Schweizer Buchpreises 2020, Anna Stern, erklärt.

Besonderen Wert legt Mario Andreotti auf die leichte Lesbarkeit und Verständlichkeit sowie auf die Benutzerfreundlichkeit, die auch einem nicht akademischen Publikum den Zugang zum Buch ermöglicht. So werden beispielsweise alle Fachbegriffe erklärt und zusätzlich nochmal im Glossar aufgeführt.

Das Werk richtet sich zum einen als Lehrbuch für den Literaturunterricht und das Studium der Literaturwissenschaft an Schüler, Studenten, Lehrer und Dozenten. Extra für die zwölf Kapitel des Buches erstellte Arbeitsvorschläge mit Lösungshinweisen sind im Internet abrufbar. Daneben kann es als Nachschlagewerk für ein literarisch interessiertes breiteres Publikum dienen und nicht zuletzt als Anregung für praktizierende Autoren und Autorinnen, die nach neuen Formen des Schreibens suchen.

Ich kann das Buch allen Liebhabern der modernen wie auch der traditionellen Literatur, die komplexe Inhalte gut und verständlich aufgearbeitet und sprachlich ansprechend formuliert schätzen und die zugleich einen Ein- und Überblick über die neuesten literarischen Entwicklungen und Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum suchen, wärmstens ans Herz legen.

Christiane Matter

  • Via: Mario Andreotti (2022): Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techni-ken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik. 6. aktualisierte und stark erweiterte Auflage, UTB 1127. Bern: Haupt, 405 Seiten, 29.90 CHF, 29 Euro (UVP).
  • Tags: , , ,

Verwandte Artikel

Arbeit für eine verspielte Zukunft

BILDUNG SCHWEIZ ist das Organ des LCH, der Dachorganisation der schweizerischen Lehrerverbände. Im Gegensatz zum Condorcet-Blog ist die Zeitschrift “Bildung Schweiz” der Digitalisierung des Unterrichts gegenüber sehr positiv eingestellt. Zumindest lassen dies die Mehrheit der Beiträge und die Auswahl der in ihr schreibenden Autorinnen und Autoren vermuten. Ein Beispiel dafür ist das “Interview” mit einer “spannenden Persönlichkeit” (Originalzitat), verbunden mit dem Versprechen, dieser auf den Zahn zu fühlen. Allerdings merkt man, dass die Eigenschaft, den Interviewpartnern auf den Zahn zu fühlen, nicht zu den Kernkompetenzen dieses Magazins gehört. Nando Stöcklin, wissenschaftlicher Mitarbeiter der PHBern im Fachbereich Digital Learning Base äussert sich euphorisch zu den Möglichkeiten digitaler Technik im Unterricht und sieht vor allem das “Spielpotential”. Im Interesse eines offenen Diskurses veröffentlichen wir diesen Beitrag und danken der Redaktion von “Bildung Schweiz” für die Erlaubnis dafür.

Jetzt kann «Mille feuilles» entsorgt werden

Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier einen Beitrag von Thomas Dähler, Journalist, der am 19.2.21 in der Basler Zeitung erschienen ist. Die Redaktion des Condorcet-Blogs weist daraufhin, dass die Basler Zeitung in den vergangenen Jahren den kritischen Stimmen gegen dieses unmögliche Lehrmittel immer Raum gegeben hat.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert