28. März 2024

Schweizer Maturität – Quo vadis?

Praktisch geräuschlos läuft im Moment eine Vernehmlassung im Rahmen der sogenannten „Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität“ (WEGM). In einem ersten Schritt geht es um die Reform des Maturitätsanerkennung-Reglements resp. der -Verordnung (MAR/MAV, im Grunde deckungsgleich). Ein weiterer Reformschritt wird in einem Jahr folgen, wenn es um einen neuen gesamtschweizerischen Rahmenlehrplan (RLP) gehen wird, wofür lediglich noch eine „Anhörung“ geplant ist. Wieso diese Reformen? Gastautor René Roca analysiert diese neuste Reformbestrebung und stellt sie in einen grösseren Zusammenhang.

Reformen ohne Not

René Roca, Gymnasiallehrer für Geschichte in Basel: Die bisherigen Reformen der Volksschule und auch der „Bologna-Prozess“ an den Hochschulen müssen kritisch hinterfragt werden.

Die massgebenden Akteure dieses Reformprozesses, das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), begründen die Reformschritte damit, dass sich „das schweizerische Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert“ habe. Das ist durchaus der Fall. In diesem Kontext wird explizit auf das Harmos-Konkordat, auf die neuen sprachregionalen Lehrpläne der obligatorischen Schule (u.a. Lehrplan 21) und auf den Bologna-Prozess an den Hochschulen verwiesen. Als „letzter Baustein“ muss nun noch die Sekundarstufe II, also neben den Berufsschulen und dem KV auch die Maturitätsschulen ins neue System „eingepasst“ werden. Diese Einpassung, so WBF und EDK, sei nötig,

da sich die Grundlage der gymnasialen Ausbildung seit der letzten Reform 1995 kaum weiterentwickelt hätte. Zudem werden „Megatrends“ wie die Globalsierung und Digitalisierung als Rechtfertigung für die WEGM angeführt, um Reformkritiker gleich vorweg als Ewiggestrige und Technikfeinde abzukanzeln. Die WEGM erfolgt notabene zu einem Zeitpunkt, der die gravierenden Mängel und katastrophalen Auswirkungen der oben erwähnten Reformen deutlich vor Augen führt und deshalb immer mehr Kritiker auf den Plan ruft, die mittlerweile auch in den Medien Gehör finden.

In den letzten 25 Jahren gab es immer wieder sinnvolle Teilrevisionen des MAR (z.B. Einführung von Informatik als obligatorisches Fach). Eine grundlegende Reform ist absolut nicht zwingend, die Reform erfolgt also ohne Not.

Entscheidend für ein Gelingen des Bildunsprozesses ist die zentrale Rolle der Lehrperson; diese wird aber mit den Reformen weiter geschwächt.

Ausrichtung auf Kompetenzen

Der Entwurf zur Maturreform tangiert das Selbstverständnis von Bildung im weitesten Sinne.

Die Schweizer Maturität hat weltweit vorläufig noch einen sehr guten Ruf. Wieso aber werden die Reformen trotzdem durchgezogen? Insgesamt unterwirft sich die WEGM unkritisch den genannten „Megatrends“, um eine Internationalisierung der Bildung zu erreichen. Sie ist letztlich eine blosse Anpassung an das bereits gescheiterte angelsächsische Modell, das den Fokus nur noch auf Kompetenzen legt und den Bildungs- und Wissensbegriff weiter entleert. So wird die Ausrichtung auf Kompetenzen im MAR erstmals erwähnt und initialisiert; für den neuen, völlig überfrachteten RLP sind Kompetenzen schlicht die Grundlage. Wohin führt das? Entscheidend für ein Gelingen des Bildunsprozesses ist die zentrale Rolle der Lehrperson; diese wird aber mit den Reformen weiter geschwächt. Zweifellos führen diese auch zu mehr Kontrolle und Steuerung, also zu mehr Gängelung von Oben und einer Vertiefung der Top-Down-Strategie. Das ist gut für die Bildungsbürokratie des Bundes und der Kantone, aber schlecht für die Lehrpersonen. Die nächsten Reformschritte, so etwa die grundsätzliche Infragestellung des Fächerkanons (ähnlich wie bei der KV-Reform), sind schon in der Pipeline.

Ablehnung der WEGM – eine Grundsatzdiskussion ist nötig

Die ganze Reform läuft nach einem bewährten Strickmuster ab: ein überrissenes Reformpaket wird durch kurzfristig terminierte „Konsultationen“ und eine Vernehmlassung gejagt. Das Paket wird dann etwas abgespeckt, der Rest wird aber durchgedrückt, ein letztlich intransparentes und undemokratisches Verfahren. Was tun?

Falls das erste Ziel der gymnasialen Maturität, nämlich der „prüfungsfreie Zugang zu den universitären und pädagogischen Hochschulen“ schweizweit auf lange Sicht weiterhin erreicht werden soll, müssen die bisherigen Reformen der Volksschule und auch der „Bologna-Prozess“ an den Hochschulen kritisch hinterfragt werden. Die alleinige Fixierung auf letztlich ideologisch motivierte „Kompetenzen“ ist zu revidieren und Lernziele sind wieder mit einem vernünftigen Wissensbegriff klarer zu fassen. Nur so kann ein humanistischer Bildungsbegriff zurück gewonnen werden, der die Qualität der Gymnasien langfristig sichert und die kontinuierliche Niveausenkung stoppt. Zudem würde so auch das zweite Ziel der gymnasialen Maturität, die „vertiefte Gesellschaftsreife“, wieder in greifbarere Nähe rücken.

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