Gastautorin - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 17 Sep 2023 11:33:12 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Gastautorin - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Neusprech-Taktik der Reformer und ihre Folgen https://condorcet.ch/2023/09/die-neusprech-taktik-der-reformer-und-ihre-folgen/ https://condorcet.ch/2023/09/die-neusprech-taktik-der-reformer-und-ihre-folgen/#comments Sat, 16 Sep 2023 10:05:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=14940

Diane Ravitch sendet uns einen aktualisierten Beitrag aus dem Jahre 2014, der uns erklärt, wie die Reformkommunikation im Schulwesen funktioniert und welche Folgen sie in den USA gehabt hat.

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Mein Beitrag aus dem Jahre 2014 ist heute so aktuell wie damals. Die Reformer haben mit Kommunikationsspezialisten zusammengearbeitet und dabei eine Sprache entwickelt, die ihre wahre Bedeutung verschleiert.

Es ging und geht ihnen nicht darum, die öffentlichen Schulen samt ihren unbestrittenen Mängeln zu verbessern, wie sie immer behaupteten. Es ging um ihre Zerstörung. Einige wollten sie sogar abschaffen. Sie sind der Meinung, dass öffentliche Gelder an jede Organisation gehen sollten, die behauptet, junge Menschen zu erziehen. Sie haben kein Problem damit, religiöse Schulen zu finanzieren. Zweifellos hätten sie auch nichts dagegen, satanistische Schulen zu finanzieren, um der Fairness willen.

Diane Ravitch, amerikanische Pädagogin: Sie haben das Gemeinwohl aus den Augen verloren.

Diese Reformer glauben an eine strenge Rechenschaftspflicht für öffentliche Schulen, ihre Direktoren, ihre Lehrer und ihre Schüler.

Sie glauben an null Rechenschaftspflicht für jeden, der öffentliche Gelder für nicht-öffentliche Schulen nimmt. Sie behaupten einfach, dass der Markt das regeln würde. In den meisten Staaten, in denen es Gutscheine gibt, müssen die Schüler keine staatlichen Prüfungen ablegen. Die Schüler können nicht wie die Schüler der öffentlichen Schulen nach Testergebnissen beurteilt werden; ihre Lehrer können nicht nach Testergebnissen bewertet werden. Ihre Schulen können nicht aufgrund von Testergebnissen geschlossen werden. Es gibt keine Testergebnisse.

Lehrer an öffentlichen Schulen müssen einen Hochschulabschluss haben, ein Studium der Pädagogik absolviert haben und zertifiziert sein. Lehrer an Voucher-Schulen müssen weder einen Hochschulabschluss noch eine Zulassung haben.

Hunderte von Millionen, vielleicht sogar Milliarden finanzieren heute den Heimunterricht. Bei gut ausgebildeten Eltern mag der Hausunterricht in Ordnung sein, auch wenn die Kinder die positiven Aspekte vermissen, wie das Zusammentreffen mit Kindern unterschiedlicher Herkunft, die Arbeit in Teams und zu lernen, mit anderen auszukommen. Aber seien wir ehrlich: Nicht alle Heimschüler sind gut ausgebildet. Bildungsferne Eltern versorgen ihre Kinder oft mit Fehlinformationen und beschränken sich nur darauf, was sie wissen, und nicht mehr.

Lehrer an öffentlichen Schulen müssen einen Hochschulabschluss haben, ein Studium der Pädagogik absolviert haben und zertifiziert sein. Lehrer an Voucher-Schulen müssen weder einen Hochschulabschluss noch eine Zulassung haben.

Und dann ist da noch der Segen, den der Oberste Gerichtshof der USA der öffentlichen Finanzierung religiöser Schulen erteilt hat. Der Zweck der meisten religiösen Schulen besteht darin, ihre Religion zu vermitteln. Das richtige Wort dafür ist „Indoktrination“. Wir haben eine lange Tradition, keine religiösen Schulen zu finanzieren. Aber jetzt wird von uns allen erwartet, dass wir die Rechnung dafür bezahlen, dass die Kinder die Gebete und Rituale jeder Religion lernen. Ich möchte keine Steuern dafür zahlen, dass mir die Religion eines anderen eingeimpft wird. Ich möchte auch keine Steuern zahlen, um meine eigene Religion zu unterrichten.

Nahaufnahme eines Kruzifixes auf der amerikanischen Flagge mit dramatischem Licht und stimmungsvollem Ton – Zeichen für das evangelikale Amerika, das Christentum, die Wiedergeburt Christi und das fundamentalistische religiöse Rechtskonzept

Aber der Oberste Gerichtshof hat uns Schritt für Schritt an einen Punkt gebracht, an dem die Weigerung der Regierung, für katholische Schulen, muslimische Schulen, jüdische Schulen und evangelikale Schulen zu zahlen – ohne Regulierung, ohne Rechenschaftspflicht und ohne Aufsicht – gegen die Religionsfreiheit verstößt. Das ist der Weg, den wir gehen.

Neunzig Prozent der Menschen in diesem Land haben einen Abschluss an einer öffentlichen Schule gemacht. Diejenigen, die ihre Kinder auf private oder religiöse Schulen schickten, zahlten ihr Schulgeld selbst. Diese Regelung hat funktioniert. Im Laufe der Zeit wurden wir in vielen Bereichen zur führenden Nation der Welt. Unser Bildungssystem hatte sicherlich etwas mit unserem nationalen Erfolg zu tun.

Jeder kann sich dafür entscheiden, die öffentliche Schule zu verlassen und eine nicht-öffentliche Schule zu besuchen, aber er sollte nicht von den Steuerzahlern verlangen, dass sie seine private Entscheidung finanzieren.

Ich bin der Meinung, dass die Menschen Wahlmöglichkeiten haben sollten. Die meisten öffentlichen Schulen bieten mehr Wahlmöglichkeiten bei den Lehrplänen als Charterschulen, Privatschulen oder religiöse Schulen. Jeder kann sich dafür entscheiden, die öffentliche Schule zu verlassen und eine nicht-öffentliche Schule zu besuchen, aber er sollte nicht von den Steuerzahlern verlangen, dass sie seine private Entscheidung finanzieren.

Das Traurigste von allem ist, dass der derzeitige Trend zur Schulwahl die Gesamtqualität der Bildung senken wird.

Die Öffentlichkeit zahlt für die Polizei, aber sie zahlt nicht für private Sicherheitsdienste. Die Öffentlichkeit zahlt für Feuerwehrleute, Autobahnen, Strände, Parks und viele andere öffentliche Dienste. Warum sollte die Öffentlichkeit für Ihre Entscheidung, eine private Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, bezahlen?

Das Traurigste von allem ist, dass der derzeitige Trend zur Schulwahl die Gesamtqualität der Bildung senken wird. Die Kinder der Wohlhabenden, die private Eliteschulen besuchen, werden eine hervorragende Ausbildung erhalten, auch wenn sie auf ihrem 60.000-Dollar-Campus nicht mit dem wirklichen Leben konfrontiert werden. Keine dieser Schulen wird arme Voucher-Kinder aufnehmen, weil sie nur einen Hungerlohn mitbringen.

Wir lernen jetzt, dass die meisten öffentlichen Schulen den meisten Voucher-Schulen überlegen sind. Viele Charterschulen sind leistungsschwach.

Im Durchschnitt wird die Schulwahl unsere heranwachsende Generation verdummen. Sie wird die sozialen und religiösen Spaltungen vertiefen. Sie wird keine bessere Bildung oder eine besser ausgebildete Gesellschaft hervorbringen. Sie wird bereits bestehende Ungleichheiten verstärken.

Über diese verhängnisvolle Zeit, in der wir eine unserer wichtigsten und demokratischsten Institutionen aufgegeben haben, sind Bücher geschrieben worden und werden noch geschrieben werden. Libertäre und religiöse Eiferer haben jahrelang, ja jahrzehntelang an diesem Projekt gearbeitet. Indem sie führende Politiker beider Parteien davon überzeugt haben, ihnen zu folgen, haben sie den Rest von uns verraten. Sie haben das Gemeinwohl aus den Augen verloren.

Diese Worte sind der Schlüssel: das Gemeinwohl. Mit ihnen können wir als Gesellschaft jedes Ziel erobern, jedes Ideal verwirklichen. Ohne sie werden wir zu zerstrittenen Stämmen, Cliquen und Fraktionen. Wir werden zu dem, wovor die Gründerväter gewarnt haben.

Wenn es noch nicht zu spät ist, sollten wir uns hinter diesem Banner versammeln: dem Gemeinwohl. Und der Einsicht, dass wir alle im selben Boot sitzen und uns um die anderen kümmern müssen.

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Welche Sprachen sind leicht zu lernen? https://condorcet.ch/2023/09/welche-sprachen-sind-leicht-zu-lernen/ https://condorcet.ch/2023/09/welche-sprachen-sind-leicht-zu-lernen/#comments Sun, 10 Sep 2023 12:01:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=14915

Wer Deutsch als Muttersprache spricht, hat in der Regel mit Englisch keine großen Probleme: Die beiden Sprachen sind eng verwandt. Gemeinsame Wurzeln sind allerdings nicht allein entscheidend. Es gibt linguistische Eigenarten, die das Erlernen einer Fremdsprache für alle erschweren. Wir bringen einen Beitrag von Christiane Gelitz, der in der Zeitschrift Spektrum erschienen ist.

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Deutsch ist eine verrückte Sprache. Löffel und Gabel haben ein Geschlecht. Das Verb steht mal am Anfang, mal am Ende eines Satzes. Und mit dem Wörtchen “sie” kann eine Frau gemeint sein, aber ebenso gut 100 Männer. “Gewiss gibt es keine andere Sprache, die derart schlampig und unsystematisch ist”, schimpfte der US-Schriftsteller Mark Twain 1880 in einem Essay über die deutsche Sprache. Vor allem die Deklination trieb ihn zur Verzweiflung. “Es ist so schlimm wie im Lateinischen”, schrieb er. “Ich habe einen kalifornischen Studenten in Heidelberg sagen hören, er werde lieber zwei Drinks ausschlagen als ein deutsches Adjektiv deklinieren.”

Gastautorin Christiane Gelitz, Diplompsychologin und Redakteurin für Psychologie

Offenbar hatte der Schriftsteller noch keine Bekanntschaft mit dem Finnischen und dessen 15 Fällen gemacht. Verglichen damit ist das Deutsche für Twain und seine Landsleute leicht zu lernen – wenn auch schwieriger als andere germanische Sprachen, wie die Erfahrungen des Auswärtigen Dienstes in den USA zeigen. Dessen Trainingszentrum, das Foreign Service Institute (FSI), bereitet jedes Jahr rund 100 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Regierungsbehörden auf ihre Auslandseinsätze vor und bietet dazu Unterricht in mehr als 70 Sprachen an.

Für die Trainees ist der Besuch der nahe dem Pentagon gelegenen Sprachschule ein Vollzeitjob: Sie werden 25 Stunden pro Woche unterrichtet, dazu kommen täglich drei Stunden Selbststudium. Mit diesem Pensum erreichen sie in einigen Sprachen schon nach knapp einem halben Jahr ihr Ziel, Level 3: Sie können flüssig lesen, in normaler Geschwindigkeit sprechen und an den meisten Gesprächen teilnehmen. In den schwierigsten Sprachen brauchen sie dafür drei- bis viermal so lang.

Deutsch und Französisch sind schwieriger als gedacht

Anhand dieser Erfahrungen hat das Foreign Service Institute die Sprachen nach ihrer Schwierigkeit eingeteilt. Für Deutsch und Französisch waren ursprünglich 24 Wochen veranschlagt, wie für die übrigen germanischen und romanischen Sprachen. Doch das genügte nicht: Weit mehr als die Hälfte der Trainees scheiterte an den Lernzielen. Die Dauer wurde zunächst für beide auf 30 Wochen verlängert, für Deutsch schließlich auf 36 Wochen. Nun steht es auf einer Stufe mit Suaheli und Indonesisch.

“Ich habe einen kalifornischen Studenten in Heidelberg sagen hören, er werde lieber zwei Drinks ausschlagen als ein deutsches Adjektiv deklinieren.”

Mark Twain, Schriftsteller

 

Die meisten Sprachen, zum Beispiel Griechisch, Russisch und Türkisch, zählen zur nächsthöheren mittleren Kategorie. Unter ihnen gibt es wiederum ein paar, für die es in der Regel etwas mehr Zeit braucht, wie Finnisch, Ungarisch und Vietnamesisch. Als größte Herausforderung gelten jedoch Arabisch, Chinesisch (Mandarin und Kantonesisch), Japanisch und Koreanisch: Für sie sind 88 Wochen veranschlagt, knapp viermal so viel wie für Spanisch oder Schwedisch. Dem FSI zufolge erreichen etwa 60 Prozent der Trainees Level 3 in der vorgesehenen Zeit, und mit Verspätung gelangen rund 90 Prozent ans Ziel.

 

 

Es geht aber auch schneller. Der US-Opernsänger Gabriel Wyner berichtet, er habe in drei bis vier Monaten fließend Deutsch gelernt, in fünf Monaten Französisch, in zehn Monaten Russisch. Heute bringt er anderen bei, wie man Sprachen lernt. Er sagt: “Es gibt keine schwierigen Sprachen. Es gibt aber Sprachen, die für dich schwieriger zu lernen sind, weil sie nicht zur Familie der Sprache(n) gehören, die du bereits kannst.” Englisch und Japanisch etwa hätten nur wenig Wortschatz und Grammatik gemeinsam. Anders das Englische und Französische: Beide zählen, wie das Deutsche, zur indoeuropäischen Sprachfamilie.

Die indoeuropäische Sprachfamilie

Im 18. Jahrhundert entdeckte der englische Gelehrte Sir William Jones Ähnlichkeiten des altindischen Sanskrit mit dem Lateinischen, dem Griechischen, den germanischen sowie keltischen Sprachen und schloss daraus auf deren gemeinsamen Ursprung. Heute sind knapp 450 indoeuropäische Sprachen bekannt, darunter so unterschiedliche wie Isländisch, Französisch, Russisch und Persisch. Mit 3,3 Milliarden Sprechern bilden sie die größte der rund 20 Sprachfamilien. Nur wenige Sprachen gehören zu keiner Familie, etwa Japanisch und Baskisch.

Der Verwandtschaftsgrad ist aber nicht allein entscheidend. Beispielsweise hat das Deutsche mit seinem westgermanischen Bruder Englisch weniger gemeinsam als mit seinen nordgermanischen Cousins. “Wortschatzmäßig steht das Deutsche dem heutigen Dänischen und Schwedischen ungleich näher als dem Englischen”, heißt es im Fischer-Lexikon “Sprachen” von 1987. Phonetisch, also in der Aussprache, hätten sich die germanischen Sprachen teils sogar so stark auseinanderentwickelt, “dass nur wenige Brücken von der einen zur anderen Sprache führen”. Deutsche könnten beispielsweise das Türkische und das Indonesische lautlich leichter nachahmen als das Dänische.

“Es gibt keine schwierigen Sprachen. Es gibt aber Sprachen, die für dich schwieriger zu lernen sind, weil sie nicht zur Familie der Sprache(n) gehören, die du bereits kannst.”

Gabriel Wyner, US-Opernsänger

 

Neben einer engen Verwandtschaft gibt es noch andere Merkmale, die das Lernen grundsätzlich eher erleichtern. Die indonesische Grammatik etwa ist sehr regelmäßig – ein Vorteil, wie 2021 ein Experiment in den Niederlanden zeigte. Eine Gruppe um die Psychologin Antje Meyer, Direktorin am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen, ließ Versuchspersonen konstruierte Fantasiesprachen lernen. Das gelang bei hochgradig systematisch aufgebauten Sprachen leichter. Ein nur teilweise systematischer Aufbau half hingegen wenig. Bloß bei hoher Regelhaftigkeit und überschaubaren Ausnahmen könne man das Gelernte gut verallgemeinern, erläutern die Forscherinnen.

Worin sich Sprachen unterscheiden

Gibt es noch mehr solche Merkmale, die das Fremdsprachenlernen grundsätzlich erleichtern oder erschweren? Niemand weiß Sprachen besser zu vergleichen als Martin Haspelmath, Professor für Linguistik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Herausgeber des »World Atlas of Language Structures« (WALS). In diesem Werk wurden 2005 zum ersten Mal linguistische Merkmale von Sprachen systematisch erfasst und kartografiert. Mehr als 2600 Sprachen sind darin zu finden, gut ein Drittel der über 7000 bekannten, wobei alle geografischen Regionen und Sprachfamilien der Welt vertreten sind. Verzeichnet ist zum Beispiel die Art und Weise, wie Sätze gebaut und wie Wörter gebildet werden. “Das Lernen einer Fremdsprache fällt leichter, wenn sie der Muttersprache darin gleicht”, sagt Haspelmath.

Die Laute und ihre Verbreitung sind im Sprachstrukturatlas ebenfalls dokumentiert. Demnach gibt es die Vokale “ö” und “ü” äußerst selten. Sie existieren im Deutschen, Französischen, Finnischen, Türkischen, vereinzelt auch in Asien – also in unterschiedlichen Sprachfamilien, die sich tausende Kilometer voneinander entfernt entwickelt haben. “Solche Ähnlichkeiten, die man nicht gut durch Entlehnung erklären kann, sind ein großes Rätsel”, berichtet Haspelmath.

Die deutsche Eigenart, bei Ja-Nein-Fragen das Verb an den Anfang zu stellen, gibt es nur in 1,4 Prozent der Sprachen.

Auch wenn die Ähnlichkeiten mit der Muttersprache viel ausmachen: Manche Merkmale erschweren das Lernen für alle. Zum Beispiel mehrere Konsonanten hintereinander, wie im deutschen Wort “Herbst” oder im russischen »Borschtsch«, erläutert der Linguist. Offene (auf einen Vokal endende) Silben wie das japanische Wort “ko” sind in der Regel einfacher auszusprechen als geschlossene Silben wie “Kind”, die deutsche Übersetzung. Auch der Verzicht auf grammatische Geschlechter sei ein Vorteil, sagt Haspelmath. “Wir unterscheiden im Deutschen drei Formen: männlich, weiblich, sächlich. Trotzdem lernen auch wir leichter eine Sprache, die nur ein Genus kennt, wie das Englische.”

Was die deutsche Grammatik ebenfalls verkompliziert, ist das sprunghafte Verb. Es steht im Hauptsatz an zweiter Stelle, im Nebensatz am Ende, in Fragesätzen vorne, und noch verwirrender wird es, wenn es aus zwei Teilen besteht oder ein Hilfsverb dazukommt. “Das gibt es in der Form nirgendwo anders”, berichtet der Sprachatlas-Autor. Menschen mit Englisch oder Niederländisch als Muttersprache kennen zumindest ähnliche Konstruktionen, sie haben es damit beim Deutschlernen leichter.

Die Liga der Sonderlinge

Linguisten aus den USA haben anhand solcher Seltsamkeiten eine Rangliste der merkwürdigsten Sprachen erstellt. Sie ermittelten zunächst 21 linguistische Merkmale, die voneinander unabhängig sind, etwa die Stellung der Verben und die Anzahl der Vokale. Für 239 Sprachen fanden sie Informationen zu allen 21 Merkmalen. Die Sprache mit den meisten seltenen Eigenschaften war demnach “Chalcatongo Mixtec”, ein mexikanischer Dialekt. Eine seiner Besonderheiten: Aussagen beginnen mit dem Prädikat, also einem Verb, anstatt wie üblich mit dem Subjekt, dem Satzgegenstand, auf den sich das Prädikat bezieht. Außerdem lässt sich eine Ja-Nein-Frage nicht von einer Aussage unterscheiden – auch die Betonung ist gleich.

Die Eigenart, bei Ja-Nein-Fragen das Verb an den Anfang zu stellen (“Kommst du?”), gibt es nur in 1,4 Prozent der Sprachen, darunter auch das Deutsche. Es landete auf Platz 10 und war damit die sonderbarste indogermanische Sprache. Überhaupt erwiesen sich die germanischen Sprachen als recht merkwürdig; sie verwenden zum Beispiel Pronomen wie “ich” und “du”, worauf die meisten Sprachen verzichten. Das Englische (Platz 33) zeichnet sich vor allem durch eine unberechenbare Aussprache aus.

 

 

“Die Muttersprache setzt Grenzen.”

Job Schepens, Linguist

 

Michael Cysouw, Professor für Sprachtypologie an der Universität Marburg, hat ebenfalls einen Seltenheitsindex berechnet. Er griff dazu gleich auf 142 Merkmale aus dem Sprachatlas zurück und fand Raritäten insbesondere unter den Sprachen im Nordwesten Europas: Englisch, Deutsch, Niederländisch, Friesisch, Französisch. Er gibt aber zu bedenken, dass die vorliegenden Daten vor allem von Menschen mit indoeuropäischem Sprachhintergrund gesammelt wurden. Eine andere Perspektive könnte die Ergebnisse verändern.

Cysouw kombinierte außerdem die linguistischen Merkmale aus dem WALS mit den Statistiken des Foreign Service Institute in den USA. Er bestätigt: “Eine Fremdsprache zu lernen, ist umso schwieriger, je mehr sie sich von der Muttersprache unterscheidet.” Bei englischer Muttersprache fallen demnach die indoeuropäischen Sprachen mit lateinischer Schrift und ähnlichen grammatischen Strukturen am leichtesten, allen voran die germanischen Geschwister Norwegisch und Schwedisch. Japanisch und Koreanisch bildeten die Schlusslichter, noch hinter Chinesisch und Arabisch.

“Die Muttersprache setzt Grenzen”, hat der Niederländer Job Schepens von der TU Dortmund auch diesseits des Atlantiks beobachtet. Der Linguist und sein Team analysierten Daten von 50’000 Migrantinnen und Migranten, die sich für eine Arbeitserlaubnis in den Niederlanden einer Sprachprüfung unterzogen hatten. Die Muttersprache erklärte ein bis zwei Drittel der Unterschiede in ihren Prüfungsergebnissen, unabhängig von anderen Faktoren wie Geschlecht, Alter und Bildung. Vor allem die Ähnlichkeit im Wortschatz war entscheidend. Kein Wunder, dass viele Deutsche das niederländische Staatsexamen schon nach wenigen Wochen Unterricht schaffen, wie Schepens berichtet: Fast die Hälfte der Wörter ähnelten einander.

Die Bedeutung des gemeinsamen Wortschatzes

Kommt es also am meisten auf den gemeinsamen Wortschatz an? “Für verwandte Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Französisch würde ich das so erwarten”, sagt Schepens. Aber nicht, wenn eine Sprache weniger Verwandte habe, wie das Griechische oder das Koreanische, denn dann gebe es nicht so viele ähnliche Wörter. “In dem Fall ist der gemeinsame Wortschatz wahrscheinlich weniger wichtig für die Frage, wie leicht man eine Sprache lernen kann.”

Die Verwandtschaft ist noch in anderer Hinsicht bedeutsam: bei der Frage, ob das Alter das Lernen erschwert. “Wenn Deutsche Niederländisch lernen, spielt das Alter kaum eine Rolle”, hat Schepens herausgefunden. Ist die Fremdsprache mit der Muttersprache nicht oder wenig verwandt, sehe es etwas anders aus. Die Unterschiede seien für Ältere ein größeres Hemmnis als für Jüngere.

Einen allgemeinen Übungseffekt im Sprachenlernen hat Schepens nicht feststellen können.

Vorkenntnisse in anderen Fremdsprachen brächten vor allem dann viele Vorteile, wenn diese der Zielsprache ähnlicher sind als die Muttersprache, sagt der Linguist. Etwa wenn ein Amerikaner schon Deutsch gelernt habe: Dann falle ihm Niederländisch leichter als seinen Landsleuten ohne Deutschkenntnisse. Einen allgemeinen Übungseffekt im Sprachenlernen habe er nicht feststellen können. So helfe Latein wahrscheinlich nur beim Lernen von romanischen Sprachen wie Französisch, aber kaum beim Japanisch lernen, vermutet Schepens.

Lassen sich die Erkenntnisse aus den Niederlanden und den USA auf Deutschland übertragen? Einen Datenschatz wie den des Foreign Service Institute gibt es hier zu Lande nicht. “Wir führen keine empirischen Erhebungen zu Zwecken von Wissenschaft und Forschung durch”, teilt das Bundessprachenamt auf Anfrage mit. Seine rund 1000 Beschäftigten unterrichten jedes Jahr mehr als 15’000 Angehörige der Bundeswehr sowie Angestellte aus Bundes- und Landesressorts in Fremdsprachen von Amharisch bis Vietnamesisch. Sofern sie auch Abschlusstests absolvieren, sollten also umfangreiche Daten vorliegen. Das Amt bräuchte nur, wie das FSI, Unterrichtsdauer und Prüfungsergebnisse in den verschiedenen Sprachen zu vergleichen, um deren Schwierigkeit für Deutschsprachige zu bestimmen.

Welche Fremdsprachen dem Deutschen am meisten ähneln

Erste Hinweise geben die Arbeiten von Ingo Isphording am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn und seinem Kollegen Sebastian Otten, heute an der Universität Duisburg-Essen. Die beiden Ökonomen haben lexikalische Unterschiede zwischen Deutsch und anderen Sprachen bestimmt, indem sie Alltagswörter verglichen wie “ich” und “du”, “Mensch” und “Hund”, “trinken” und “sterben”. Dem Deutschen am ähnlichsten waren demnach wie erwartet germanische Sprachen, besonders Luxemburgisch, Schweizerdeutsch, Niederländisch, Schwedisch, Norwegisch und Dänisch.

Aus Daten des deutschen Sozio-oekonomischen Panels von 1997 bis 2003 schlossen sie außerdem: Wenn jemand mit höchstens elf Jahren nach Deutschland einwandert, spielt die Muttersprache keine Rolle dabei, wie gut er Deutsch lernt. Hingegen hänge die Sprachkompetenz bei den bereits erwachsenen Zugewanderten vor allem davon ab, wie sehr deren Muttersprache dem Deutschen in Wortschatz und Aussprache ähnelt. Das heißt: Ältere Schweden haben es beim Deutschlernen ungleich leichter als zum Beispiel ältere Iraker oder Chinesen.

“Wähle eine Sprache, die du magst.”

Gabriel Wyner, US-Opernsänger

 

Umgekehrt ist es für Menschen aus der germanischen Sprachfamilie nicht anders, wie eine Studie in Israel verdeutlicht. Dort tun sich die englischsprachigen Einwanderer mit dem Hebräischen am schwersten. Jene mit arabischer Muttersprache lernen Hebräisch am besten – beide zählen zu den semitischen Sprachen.

Wenn Deutsche fremdsprachige Bücher im Original lesen wollen, sollten sie sich dann also besser für die schwedische “Pippi Langstrumpf” entscheiden als für chinesische Volksmärchen? “Die härteren Sprachen brauchen mehr Zeit”, sagt der polyglotte Gabriel Wyner. “Aber es gibt keinen Grund, sie nicht lernen zu können.” Er empfiehlt: “Wähle eine Sprache, die du magst.”

Christiane Gelitz, Diplompsychologin und Redakteurin für Psychologie

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“Lehrerinnen und Lehrer wählen mehr Freizeit statt mehr Arbeit” https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/ https://condorcet.ch/2023/08/lehrerinnen-und-lehrer-waehlen-mehr-freizeit-statt-mehr-arbeit/#respond Fri, 18 Aug 2023 20:00:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=14841

Die grossen Belastungen trieben Lehrkräfte in die Flucht, sagen die Lehrerverbände – Bildungsforscher Stefan Wolter sieht die Gründe für den Lehrermangel aber woanders. Er orientiert sich an den Zahlen seiner Forschung und diese ergäben einen klaren Befund, allen Gefühlen aus der Froschperspektive zum Trotz. Wir bringen einen Artikel der Journalistin Nadja Pastega, der in der SonntagsZeitung erschienen ist.

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Es ist inzwischen ein Ritual: Jedes Jahr warnen die Lehrerverbände vor einer Gefährdung der Bildungsqualität. Diese Woche war es der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Schuld am Niedergang der Schulen sei der Lehrermangel. Mit anderen Worten: Schuld sind die Laien, die ohne Lehrerdiplom vor den Klassen stehen, um die Lücken zu füllen – denn genug Lehrpersonen mit Diplom gebe es seit längerem nicht mehr. Stimmt das? Die Antworten von Stefan Wolter, Verfasser des Schweizer Bildungsberichts.

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Die Bildungsqualität sei gefährdet, weil vor den Klassen Lehrpersonen ohne angemessene Qualifizierung stünden – mit dieser Nachricht suchte der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer diese Woche die Öffentlichkeit. Die Zahlen aus einzelnen Kantonen sind in der Tat eindrücklich: 1000 ‘unqualifizierte’ Lehrerinnen und Lehrer sollen im Kanton Bern derzeit angestellt sein, im Kanton Zürich 500. Dabei müsste man allerdings darauf hinweisen, dass gerade im Kanton Bern sehr viele PH-Studierende darunter sind, die nach einem grösseren Teil ihrer Ausbildung nun parallel zum Rest des Studiums in einer Primarschule unterrichten. Hinzu kommen Quereinsteiger mit einem abgeschlossenen Unistudium, zum Beispiel in Biologie, die dann Naturwissenschaften in einer Sekundarschule unterrichten. Interessant ist hier der Vergleich mit der Berufsbildung, wo Lehrpersonen der Berufskunde immer parallel zur Ausbildung schon unterrichten, ohne dass deswegen die Ausbildungsqualität leidet.

Diese Story, dass die Lehrerinnen und Lehrer davonlaufen, ist statistisch widerlegt

Die Behauptung, die Bildungsqualität der Schulen leide wegen Lehrkräften, die das ordnungsgemässe Lehrerdiplom nicht hätten, stimmt so pauschal sicher nicht. Es wird dann zum Problem, wenn Leute vor eine Schulklasse gestellt werden, die die Schulsprache kaum beherrschen oder im Umgang mit Kindern Mühe haben.

Der Mangel an Personal in den Schulzimmern wird auch immer damit begründet, dass viele ausgebildete Lehrkräfte den Beruf rasch wieder verlassen. Fakt ist, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass in keinem anderen Beruf eine so hohe Jobtreue besteht wie bei den Lehrerinnen und Lehrern. Diese Story, dass die Lehrerinnen und Lehrer davonlaufen, ist statistisch widerlegt.

“Wir müssen heute zwei Lehrpersonen ausbilden, um ein 100-Prozent-Pensum im Klassenzimmer abzudecken.”

Stefan Wolter

Woran liegt der Lehrermangel dann? Halt doch an der Teilzeit. Man muss heute in der Schweiz zwei Lehrpersonen ausbilden, um ein 100-Prozent-Pensum im Klassenzimmer abzudecken. Im Kanton Neuenburg arbeitet beispielsweise jede fünfte Lehrkraft maximal 20 Prozent. Da fragt sich nicht nur, woher die Lehrpersonen kommen sollen, sondern auch, wie man so noch eine Schule organisieren soll. Die Kantone Zürich und Genf haben gezeigt, dass Mindestpensen ein taugliches Mittel sind. Lehrpersonen sind deswegen nicht abgesprungen.

Verständlicherweise kommt bei Personalmangel die Forderung nach höheren Löhnen. Nur, wie in anderen Berufen mit hohen Durchschnittslöhnen, ist zu befürchten, dass wenn die Saläre raufgehen, noch mehr Lehrpersonen Teilzeit arbeiten werden. Bei diesen Löhnen tauschen viele Lehrerinnen und Lehrer mehr Geld gegen mehr Freizeit ein. Oder anders gesagt: Sie wählen bei einer Lohnerhöhung lieber mehr Freizeit statt mehr Arbeit.»

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Schulen vergeuden zu viel Potenzial https://condorcet.ch/2023/08/schulen-vergeuden-zu-viel-potenzial/ https://condorcet.ch/2023/08/schulen-vergeuden-zu-viel-potenzial/#comments Thu, 17 Aug 2023 04:54:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=14823

Schüler und Schülerinnen sollten in den Selektionsfächern Deutsch und Mathematik im selbstgewählten Tempo arbeiten dürfen. Damit würden Unter- und Überforderungen wegfallen. Wir bringen einen Meinungsartikel der Pädagogin und Leiterin eines Montessori-Kindergartens in Feldmeilen am Zürichsee, Clarita Kunz Matossi. Er ist am 7.8.2023 in der NZZ erschienen.

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Der Kanton Zürich hat 2005 das Inklusionsgesetz angenommen. Aber nicht nur in diesem Kanton versuchen die Schulen, alle Schülerinnen und Schüler zu inkludieren und nicht zu separieren. Doch sie müssen ernüchtert feststellen, dass dies bisher nicht gelungen ist.

Clarita Kunz Matossi, Leiterin eines Montessori Kindergartens: Unterrichtsformen sind wichtiger als die Lehrkraft.

Aus lauter Not wird erwogen, lernschwache Kinder und Jugendliche wieder in Kleinklassen und Sonderschulen zu separieren. Das ist unannehmbar, denn separierte Lernende werden diskriminiert. Die Inklusion scheitert daran, dass nichts an den systemischen Bedingungen geändert wird. Diversen Forschungsergebnissen zum Trotz wird an der sogenannten «5-G-Systematik» festgehalten: Die Lehrperson steht vor der Klasse, vermittelt Gleichaltrigen zum gleichen Zeitpunkt zum gleichen Thema den gleichen Stoff und lässt sie – ebenfalls gleichzeitig – die gleiche Prüfung schreiben.

Nachdem der Publizist und Kinderarzt Remo Largo gezeigt hat, dass die Divergenz etwa in Bezug auf den Wortschatz bereits bei Vierjährigen enorm ist, müsste man jetzt eingestehen, dass diese Methode ausgedient hat. Die Folgen in Deutsch und Mathematik sind fatal.

Gegen die Aufhebung dieses veralteten Systems werden die immergleichen zwei Argumente aufgeführt: Erstens, das Engagement der Lehrpersonen sei für den Lernerfolg wichtiger als die Unterrichtsform. Das ist schlicht falsch, und es wird nicht richtiger, wenn es andauernd wiederholt wird. Die erwähnte «5-G-Methode» evoziert Lern- und Verhaltensprobleme, denen weder das Charisma, die erzieherische Haltung noch der Einsatz der Lehrperson entgegenwirken können, denn die Unterrichtsart hat mehr Einfluss auf den Lernerfolg als der Charakter der Lehrperson.

Zweitens: Damit die Lernenden dort abgeholt und gefördert würden, wo sie tatsächlich stehen, brauche es viel mehr personelle und finanzielle Ressourcen. Auch das ist falsch, wie Privatschulen zeigen, die mit konsequent individualisierenden Unterrichtsformen wie etwa der Montessori-Methode arbeiten.

Man ist bestrebt, den Unterricht zu individualisieren. Individualisierung ist die Voraussetzung für eine gelingende Inklusion. Bisher wurde einiges versucht: Arbeiten anhand von Wochenplänen, Werkstattunterricht, Projektunterricht, Lerninseln und -landschaften. In Geschichte, Geografie, Zeichnen und Musik sind diese Unterrichtselemente wie auch der Frontalunterricht sinnvoll.

Doch für die Selektionsfächer Deutsch und Mathematik stehen solche punktuellen Individualisierungen dem Lernerfolg im Weg, denn die Schüler werden immer wieder an den gleichen Lernort zusammengeführt, was zu Unter- und Überforderungen führt. Auch der dadurch evozierte Wettbewerb bremst den Lernerfolg und vergiftet das Klima im Klassenzimmer.

Die Stimmung in vielen Schulzimmern ist nach wenigen Schuljahren erdrückend. Kinder, Eltern und Lehrpersonen sind belastet. Der von den staatlichen Schulen generierte Druck ist pädagogisch abträglich und vermag nicht zu verhindern, dass 20 Prozent der Lernenden die minimalen Lernziele in Deutsch und Mathematik nicht erreichen – und dass mehr als zwei Drittel der Klasse in Tausenden Schulstunden entweder über- oder unterfordert sind.

Deshalb sollten Lernende in den Selektionsfächern Deutsch und Mathematik vom Beginn der Schulzeit an – zeitlich unbegrenzt, also auch das Schuljahr übergreifend – im selbstgewählten Tempo arbeiten dürfen.

Um dies zu ändern und nicht zuletzt auch dem Lehrer- und Fachkräftemangel vorzubeugen, brauchte es einen anderen Druck: jenen Druck, den Kinder und Jugendliche sich selber auferlegen. Wenn man ihnen mehr Freiheit und Verantwortung beim Lernen zugesteht, fordern sie von sich am meisten, lernen intrinsisch motiviert mehr und nachhaltiger.

Deshalb sollten Lernende in den Selektionsfächern Deutsch und Mathematik vom Beginn der Schulzeit an – zeitlich unbegrenzt, also auch das Schuljahr übergreifend – im selbstgewählten Tempo arbeiten dürfen. Damit würden Unter- und Überforderungen wegfallen, und die Therapien der schulischen Heilpädagogen und Heilpädagoginnen hätten den gewünschten Erfolg.

 

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Viele Schweizer Lehrmittel zum Klimawandel sind tendenziös und wirtschaftsfeindlich https://condorcet.ch/2023/08/viele-schweizer-lehrmittel-zum-klimawandel-sind-tendenzioes-und-wirtschaftsfeindlich/ https://condorcet.ch/2023/08/viele-schweizer-lehrmittel-zum-klimawandel-sind-tendenzioes-und-wirtschaftsfeindlich/#comments Sun, 13 Aug 2023 09:24:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=14796

Die Stiftung "Éducation 21" soll Lehrer beim Unterricht über Nachhaltigkeit unterstützen. Viele der angebotenen Materialien haben eine politische Schlagseite. Gefördert werden die Projekte häufig von deutschen Organisationen oder Ministerien. Wir schalten hier einen Artikel von Pauline Voss auf, der in der NZZ erschienen ist.

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Der Klimawandel hat viele Familien politisiert. So auch die Fischers: Kurz vor den Sommerferien ist der SUV kaputtgegangen. Wie soll die Familie jetzt ihren Alltag organisieren? Herr Fischer plädiert für ein E-Lastenrad: “Fahrradfahren würde euch allen guttun – dem Klima übrigens auch.” Die zwölfjährige Hanna will lieber ein E-Auto kaufen: “Wir müssen den Klimaschutz echt endlich ernst nehmen, Leute!” Ihr Bruder Jonathan weist darauf hin, dass für die Produktion der Batterien in den Minen Menschenrechte verletzt würden.

Gastautorin Pauline Voss, Journalistin NZZ

So oder so ähnlich wird heute Familienrat gehalten – zumindest in der etwas hölzernen Phantasie der Umweltorganisation Greenpeace. Ihr Heft “Verkehr(t)! Mobilität, Klimawandel und Perspektiven für die Zukunft” bietet Unterrichtsmaterial für die 3. bis 9. Klasse. Das Editorial beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg, später wird den Schülern als Vorbild eine belgische Aktivistin angepriesen, die im Kampf für saubere Luft die Strassen vor Brüsseler Schulen sperrt: “Was könntet ihr euch für eure Aktion von Annekatrien abschauen?”

Das Heft von Greenpeace zählt zu den Unterrichtsmaterialien, die im Onlinekatalog der Schweizer Stiftung “Éducation 21” zum Thema Nachhaltigkeit empfohlen werden. Die Stiftung unterstützt Schulen im Auftrag von Bund und Kantonen dabei, die “Bildung für Nachhaltige Entwicklung”, kurz BNE, umzusetzen. Finanziert wird die Stiftung unter anderem durch Beiträge der Kantone und mehrere Bundesämter.

Das Editorial beginnt mit einem Zitat von Greta Thunberg, später wird den Schülern als Vorbild eine belgische Aktivistin angepriesen, die im Kampf für saubere Luft die Strassen vor Brüsseler Schulen sperrt.

BNE ist Teil der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die 2015 von der Uno beschlossen wurden und von den Mitgliedstaaten bis 2030 erfüllt werden sollen. Ergänzend zu den obligatorischen oder von den Kantonen empfohlenen Lehrmitteln stellt “Éducation 21” an den Lehrplänen ausgerichtete Materialien zur Verfügung.

Angst vor dem Untergang

Die Schulen befinden sich bei der Umsetzung von BNE in einem Spannungsfeld: Einerseits besteht die Gefahr, Schüler zu überfordern und Ängste zu schüren. Immerhin gaben 2021 in einer grossangelegten internationalen Umfrage 56 Prozent der befragten Jugendlichen an, die Menschheit sei “dem Untergang geweiht”. Andererseits werden sich die Kinder von heute in einer vom Klimawandel veränderten Lebens- und Arbeitswelt zurechtfinden müssen. Wird der Klimawandel im Unterricht verharmlost, dann wird man dem Bildungsauftrag nicht gerecht. Wie aber sieht guter Unterricht über den Klimawandel aus?

Aus einem Unesco-Bericht vom Dezember 2021 geht hervor, dass in fast der Hälfte von 100 untersuchten Ländern der Klimawandel in den Lehrplänen keine Erwähnung fand. Für die Untersuchung wurden Lehrpläne aus unterschiedlichen Weltregionen nach Begriffen wie “Treibhausgase” oder “globale Erwärmung” durchforstet. Zudem hebt der Bericht hervor, dass in einer weltweiten Umfrage unter Lehrern 95 Prozent den Klimawandel für ein notwendiges Thema im Unterricht hielten, aber weniger als 40 Prozent sich ausreichend befähigt fühlten, darüber zu unterrichten.

Für Schweizer Lehrpersonen bietet “Éducation 21” eine schier unüberschaubare Fülle an Material an, eingeteilt in einzelne Themendossiers. Darunter ist durchaus solide recherchiertes Material, etwa Faktenblätter zum Klimawandel für Lehrer. Doch sobald es etwas komplexer wird, sind die Informationen veraltet: Für die Sekundarstufe 2 werden als Fachliteratur eine Übersichtsseite von 2007 (der Link führt ins Leere) sowie der Bericht des Weltklimarats von 2014 angegeben, obwohl dessen neuester Bericht Anfang 2023 veröffentlicht wurde.

Auffällig ist der tendenziöse Einschlag vieler Materialien. So wendet sich das Buch “In Zukunft hitzefrei?”, das ebenfalls bereits für Drittklässler empfohlen wird, an die “letzte Generation, die den Klimawandel noch aufhalten kann”, und warnt, bald gebe es “keinen Weg zurück” mehr – eine Tonalität, die an die Klimakleber der sogenannten Letzten Generation und ihr Schweizer Pendant Renovate Switzerland erinnert.

Der Klimawandel als Fortsetzung des Kolonialismus

Das Heft “Changemaker – Zeit, dass sich was dreht” der privaten Hilfsorganisation Care Deutschland behandelt laut “Éducation 21” die Klimakrise “positiv, kreativ und differenziert” und richtet sich an die Sekundarstufe 1. So regt etwa eine “66-Tage-Challenge” zu veganer Ernährung und dem Verzicht auf Online-Bestellungen und Plastik an. Zudem solle man die Heizung ein Grad kälter stellen. Im Kapitel zu Klimagerechtigkeit wird der Klimawandel als rassistisch geprägte, moderne Fortsetzung des Kolonialismus dargestellt. Ein Link führt zu einem Youtube-Video der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim aus dem Jahr 2019, in dem sie zur Teilnahme am globalen Klimastreik aufruft und auf eine Liste mit “Klimademos in eurer Nähe” verweist.

Einige der wissenschaftlichen Erklärungen im Heft sind grob falsch. Es wird etwa behauptet, mit “Kipppunkt” werde ein einzelner Punkt bezeichnet, ab dem die Erderwärmung unumkehrbar sei. Auch die Entstehung der Wärmestrahlung der Erde wird falsch erklärt.

Im Kapitel zu Klimagerechtigkeit wird der Klimawandel als rassistisch geprägte, moderne Fortsetzung des Kolonialismus dargestellt.

Zudem wird in dem Heft darüber sinniert, warum sich in der Klimabewegung vor allem “weisse und privilegierte Menschen” engagierten: Einen klimaneutralen Lebensstil zu leben, sei eine “Geld- und Privilegienfrage”, wird behauptet. Nicht jeder könne sich Bio-Produkte leisten. Dabei zeigen die Zahlen schon seit Jahren, dass die CO2-Bilanz von reicheren Menschen deutlich schlechter ausfällt als jene von ärmeren, selbst wenn sie klimabewusst konsumieren.

Kai Niebert, Professor für Didaktik der Naturwissenschaften an der Universität Zürich, kritisiert den Ansatz, auf das Konsumverhalten der Schüler abzuzielen: “Im Hinblick auf den Bildungsauftrag ist das eine Gratwanderung.” Denn der sogenannte Beutelsbacher Konsens, der als Reaktion auf den Nationalsozialismus in Deutschland beschlossen und später von der Schweiz übernommen wurde, legt fest, dass junge Menschen in Bildungseinrichtungen nicht zu Weltanschauungen gedrängt werden dürften.

Zudem zeigen empirische Untersuchungen laut Niebert, dass sich Verhaltensänderungen nicht in wenigen Stunden Unterricht erreichen lassen. Wichtiger sei es darum, die politische Partizipationsfähigkeit der Schüler zu stärken, indem sie Zusammenhänge verstehen lernten – “beispielsweise die Wirkungsweise klimaschädlicher Subventionen”.

Für eine Studie hat Niebert weltweit Programme zur Klimabildung evaluiert. Das Ergebnis: Die Schüler wurden meist gedrängt, Energie zu sparen, Fahrrad zu fahren oder nicht mehr zu fliegen. “Die nachweislich wirksamen – politischen – Lösungen wie Verbote, Emissionsgrenzen oder auch CO2-Preise wurden in nahezu keinem Programm vermittelt”, sagt Niebert.

Meditieren gegen den Konsum

In den Materialien von “Éducation 21” spielt das Thema Konsum ebenfalls eine zentrale Rolle. Besonders grenzüberschreitend klingen die Vorschläge in einem Anleitungsheft für Lehrer, das vom Forschungsprojekt “Binka – Bildung für nachhaltigen Konsum durch Achtsamkeitstraining” stammt und vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.

Deutsche Klimaaktivisten protestieren 2023 nahe dem Reichstag gegen den Finanzminister Christian Lindner. Doch wie stark darf der Aktivismus Schulmaterialien beeinflussen?

Im Rahmen von gemeinsamen sogenannten Bedürfnismeditationen sollen die Schüler, angeleitet vom Lehrer, ihrem Körper und ihren Gefühlen nachspüren, etwa durch achtsames Essen einer Mandarine: “Schliesse langsam die Augen (. . .) Führe nun ein Stück der Frucht zum Mund und halte es einfach zwischen den Lippen . . . Spüre den Kontakt des Fruchtstücks auf deinen Lippen.” Dadurch sollen die Schüler die Mahlzeit noch mehr geniessen und schneller erkennen, wann sie genug zu essen hatten.

Für eine andere Übung sollen sie den Stoff ihrer Kleidung bewusst spüren und schliesslich ihre Emotionen untersuchen angesichts der “Anstrengungen und Mühen”, die andere für die Produktion der Kleidung aufgebracht haben: “Vielleicht ein Gefühl der Dankbarkeit, des Mitgefühls oder auch andere weniger positive Gefühle wie Zorn oder Scham über die Bedingungen, unter denen einige Bauern und Fabrikarbeiterinnen seit Jahrhunderten und sicherlich auch gerade jetzt arbeiten müssen?”

Endlich Wachstum?

Selbst dort, wo man mit einem wirtschaftsfreundlicheren Ansatz rechnen würde, werden die Erwartungen enttäuscht. Unter den neuesten Einträgen des Katalogs findet sich die Website “Endlich Wachstum”, die laut Beschreibung von “Éducation 21” Schüler dazu anregen soll, “Wirtschaft neu und nachhaltig zu denken”.

Die Website selbst vermittelt einen anderen Eindruck: Dort wird etwa ein Spiel vorgeschlagen, bei dem Schüler mit Streichhölzern einen Wald nachstellen und dabei lernen sollen, dass eine “nachhaltige Bewirtschaftung unter Konkurrenzbedingungen schwierig” sei. Nach dem Spiel könne an die “Thematik der Solidarischen Ökonomie angeknüpft werden”. Ein beigefügter Wikipedia-Link klärt darüber auf, dass es sich um ein Wirtschaftsmodell handelt, bei dem auf Geld als Zahlungsmittel verzichtet wird.

“Auf den ersten Blick mag das indoktrinierend erscheinen.”

Klára Sokol, Direktorin der Stiftung “Éducation 21”

 

Ein anderes Spiel von “Endlich Wachstum” soll die Schüler darüber aufklären, dass “durch Wirtschaftswachstum sowohl Ressourcenverbrauch als auch negative Folgen steigen müssen und damit die Probleme verschärft werden”. Angeboten wird auch ein Comic, der verdeutlichen soll, dass der Klimawandel nicht durch eine effizientere Nutzung von Ressourcen, sondern nur durch “veränderte Lebensstile” erreicht werden könne.

“Endlich Wachstum” wird nach eigenen Angaben vom deutschen Entwicklungshilfeministerium gefördert. Selbst dem Team von “Éducation 21” scheinen leise Zweifel gekommen zu sein: “Auf den ersten Blick mag das indoktrinierend erscheinen”, schreiben sie in ihrem Online-Katalog über “Endlich Wachstum”, doch werde auch das jetzige Wirtschaftssystem differenziert betrachtet “und die Lernenden erhalten so die Möglichkeit, selbst zu diesem Schluss zu kommen”.

Qualitätskriterien für externe Akteure an Schulen

Die Direktorin von “Éducation 21”, Klára Sokol, lässt gegenüber der NZZ keine Zweifel an der politischen Unabhängigkeit ihrer Materialien erkennen. Stattdessen weist sie auf die zentrale Rolle der Lehrer hin, die dafür sorgen müssten, Themen kontrovers zu behandeln. Angesprochen auf die Hefte von Greenpeace und Care, erklärt sie, diese würden den Schülern ermöglichen, sich mit den “Hintergründen und Motivationen” von Aktivisten auseinanderzusetzen. Lehrpersonen und Klassen würden angeregt, “aktiv zu werden”, entsprechend den Uno-Nachhaltigkeitszielen. Informationen zu den Download-Zahlen der Materialien stellt die Stiftung nicht zur Verfügung, diese werden nur zur internen Verwendung erhoben.

Klára Sokol, Direktorin der Stiftung “Éducation 21”

Dass man im Unterricht mit ausserschulischen Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zusammenarbeite, auch mit Unternehmen und Museen, sei eine pädagogische Bereicherung, sagt Sokol. Etwaige politische Haltungen müssten dabei als solche deklariert werden.

Ausserschulische Akteure müssen darum eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, in der sie sich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zur Ablehnung von Indoktrinierung bekennen. Zudem werden alle Lehrmittel nach festgelegten Qualitätskriterien evaluiert, bevor sie in den Katalog von “Éducation 21” aufgenommen werden. Politische Indoktrinierung und Werbung müssen dabei ausgeschlossen werden.

Die Unesco gibt den agitativen Ton vor

Die Wurzel der politischen Färbung könnte allerdings bereits in den BNE-Zielen an sich liegen. In einer Roadmap beschrieb die Unesco 2021, wie sie sich deren Umsetzung in den Schulen vorstellt.

Ausserschulische Akteure müssen darum eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, in der sie sich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses zur Ablehnung von Indoktrinierung bekennen.

Demnach sollen Jugendliche “Agenten des Wandels” werden, um sich für eine “grosse Transformation” einzusetzen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, mehrere Punkte umzusetzen – neben einer “ganzheitlichen Transformation von Lern- und Lehrumgebungen” und der “Kompetenzentwicklung von Lehrenden” auch die “Mobilisierung der Jugend”.

Die Idee, Technologien könnten die meisten Nachhaltigkeitsprobleme lösen, wird als “Illusion” abgetan. Es sei ein “Balanceakt zwischen Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung erforderlich, wobei BNE Lernende ermutigen sollte, alternative Werte zur existierenden Konsumgesellschaft zu erforschen”.

Ob eine solch einseitige Sichtweise dem Beutelsbacher Konsens gerecht wird, kann zumindest hinterfragt werden.

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„Ich sehe Erzieher, die aussteigen und lieber als Reinigungskräfte arbeiten“ https://condorcet.ch/2023/08/ich-sehe-erzieher-die-aussteigen-und-lieber-als-reinigungskraefte-arbeiten/ https://condorcet.ch/2023/08/ich-sehe-erzieher-die-aussteigen-und-lieber-als-reinigungskraefte-arbeiten/#respond Fri, 11 Aug 2023 05:48:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=14765

Frühpädagogik-Expertin Ilse Wehrmann untersucht die prekäre Lage in Deutschlands Kindertagesstätten. Was in den ersten sechs Jahren nicht an Grundlagen gelegt werde, könnten die Kinder nie mehr aufholen, sagt sie – mit hohen Folgekosten für die ganze Gesellschaft. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sabine Menkens.

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WELT: Frau Wehrmann, wir haben in Deutschland seit 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Drei- bis Sechsjährige, seit zehn Jahren auch für Kinder unter drei Jahren. Doch die Plätze reichen bei Weitem nicht aus. Was ist ein Rechtsanspruch wert, wenn er nicht eingelöst werden kann?

Ilse Wehrmann: Wenig. Im Grunde begeht unsere Regierung jeden Tag Verfassungsbruch. Auch unabhängig von der starken Zuwanderung haben wir seit langer Zeit zu wenig Kita-Plätze geplant und realisiert. Die Bewilligungsverfahren im öffentlichen Bereich dauern bis zu fünf Jahren. Ich habe viele Unternehmen beim Aufbau von Betriebs-Kitas unterstützt und weiß: Das geht viel schneller. Die Unternehmen wissen, dass ein gutes Betreuungsangebot ein Wettbewerbsvorteil im Kampf um Mitarbeiter ist. Diesen Druck gibt es im öffentlichen Bereich leider nicht. Wenn ich sehe, wie viele Büroräume, Geschäfte und Autohäuser leer stehen, kann ich nur sagen: Da geht noch was.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

WELT: Setzt die Politik die Prioritäten falsch?

Wehrmann: Genehmigungsverfahren für Kitas dauern länger als für ein LNG-Terminal an der Ostsee. Wir setzen die Prioritäten falsch, und wir machen keine kinderfreundliche Politik. Das sieht man schon daran, wie schwer es uns fällt, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Die Kita-Krise muss Chefsache werden. Ich glaube, in den Unternehmen geht es nur deshalb so schnell, weil der Kita-Bau immer ein Vorstandsthema ist.

Ich habe jetzt einen Hilfebrief an den Bundeskanzler, die Ministerpräsidenten und zuständigen Minister und den Landkreistag geschrieben. Es muss gehandelt werden – um der Kinder willen. Wir hinterlassen ihnen bereits ein kaputtes Klima und einen Berg von Schulden. Wir machen uns umso schuldiger, wenn wir ihnen auch noch die Bildungschancen vorenthalten.

WELT: Welche Folgen hat die Kita-Krise für die Gesellschaft, für die Familien – und vor allem für die Kinder?

Wehrmann: Wir berauben sie ihrer frühen Fördermöglichkeiten. Das ist bei den vielen Kindern mit Migrationshintergrund gerade mit Blick auf den Spracherwerb fatal. Die ganze Bildungsbiografie wird dadurch beeinträchtigt. Was wir in den ersten sechs Jahren nicht an Grundlagen legen, holen wir nie wieder auf. Die Reparaturkosten unterlassener Bildung sind ein Vielfaches teurer als das, was wir in den Kita-Bereich stecken müssen. Es gibt dazu handfeste volkswirtschaftliche Berechnungen. Für jeden Euro, den wir in die Kitas investieren, sparen wie vier Euro an Folgekosten. Wir schieben den Kita-Kollaps schon viel zu lange vor uns her.

Die Kita-Krise muss Chefsache werden. Ich glaube, in den Unternehmen geht es nur deshalb so schnell, weil der Kita-Bau immer ein Vorstandsthema ist.

 

WELT: Nach einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind bereits 57 Prozent der Eltern von zeitweisen Schließungen oder verkürzten Öffnungszeiten der Einrichtungen betroffen. Manche Kitas warnen sogar, sie könnten ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nachkommen. Welche Auswirkungen hat das auf die Familien?

Wehrmann: Die Auswirkungen sind ganz katastrophal. Ich sehe das System tatsächlich vor dem Kollaps. Ich sehe Erzieher, die aus dem Beruf aussteigen und lieber als Reinigungskräfte arbeiten – nur, weil sie sich nicht schuldig machen wollen, wenn etwas passiert. Menschen, die sich eigentlich berufen fühlten für die Arbeit mit Kindern. Wir haben so viele Notsituationen, dass Einrichtungen schon mittags schließen oder nur noch an vier Tagen die Woche öffnen. Es ist eine Katastrophe.

Die Eltern sind verzweifelt und wissen nicht mehr, wie sie den Alltag organisieren sollen. Und in solchen Überforderungssituationen nehmen auch die Kindesmisshandlungen zu. Wir müssen das Ruder jetzt herumreißen, sonst ist es zu spät.

WELT: Nach Erkenntnissen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sind es vor allem die Kinder aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, die im Rennen um einen Kita-Platz leer ausgehen. Geben die Kitas die Plätze lieber an Kinder aus Mittelschichtsfamilien, weil die womöglich pflegeleichter sind?

Wehrmann: Das kann ein Grund sein. Es kann aber auch daran liegen, dass gerade die sozial schwachen Eltern sich zu wenig wehren können und im Zweifel davor zurückschrecken, auch mal einen Anwalt einzuschalten. Dabei brauchen wir gerade in unterprivilegierten Stadtteilen mehr Plätze und eine bessere Personalausstattung. Stattdessen verschließen wir die Augen vor den Problemen.

Ilse Wehrmann, Diplom-Sozialpädagogin und Erzieherin (Bild: Frank Thomas Koch)

WELT: Es gibt nicht nur zu wenig Plätze, sondern auch zu wenig Erzieherinnen und Erzieher. Dabei war der Bedarf ja absehbar. Wie konnte es dennoch zu diesem Fachkräftemangel kommen?

Wehrmann: Wir haben die Ausbildungskapazitäten einfach nicht in ausreichendem Ausmaß ausgebaut. Vorübergehend müssen wir jetzt mit multiprofessionellen Teams arbeiten, zudem braucht es eine schnellere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Wichtig ist mir aber, dass das nicht dauerhaft zulasten der Qualität geht. Ich möchte nicht Tür und Tor öffnen für nicht ausgebildetes Personal. Auf die Idee würde man in der Medizin nicht kommen.

WELT: Es gibt zwar inzwischen die praxisintegrierte Ausbildung mit Azubi-Gehalt, die schulische Erzieherausbildung ist aber noch immer nicht vergütet. Wie will man so junge Menschen für den Beruf begeistern?

Wehrmann: Richtig. Wir brauchen eine vergütete Ausbildung, um attraktiver zu werden. Wir brauchen aber auch eine andere gesellschaftliche Bewertung des Berufes. Erzieherinnen und Erzieher sind Zukunftsgestalter des Landes. In dem Augenblick, wo der Kita-Bereich zur Chefsache wird, fühlen Mitarbeiter sich auch anders gesehen und wertgeschätzt. Hier kann der öffentliche Bereich einiges von den Privaten lernen.

WELT: Kitas sind personell noch immer eine eher akademikerferne Zone. Muss der Beruf stärker professionalisiert werden?

Wehrmann: Wir sind weltweit fast die einzigen, die nach wie vor nur auf Fachschulniveau ausbilden. Alle anderen Länder haben die Ausbildung längst akademisiert. Auch in Deutschland gibt es inzwischen über 90 Studiengänge für Frühpädagogik. Aber die einzelnen Länder erkennen die Abschlüsse zum Teil gegenseitig nicht an, sodass sich die Absolventen als Erzieher nachqualifizieren müssen. Das macht natürlich kein Mensch.

Wir brauchen für den Bildungsbereich ein Sondervermögen wie bei der Rüstung.

WELT: Das heißt, der Bildungsföderalismus ist hier eher hinderlich?

Wehrmann: Er ist ein ganz großes Problem. In jedem Bundesland sind die Ausbildungswege und die Anerkennungsverfahren anders. Es gelten sogar unterschiedliche Raumvorgaben für Kitas. Was wir brauchen, ist eine nationale Strategie für Bildung, ein Staatsvertrag, der für alle 16 Bundesländer gilt und der zumindest für den Kindergartenbereich einheitliche Standards vorgibt. Und Bundeskanzler Scholz muss sich an die Spitze der Bewegung setzen.

WELT: Sie fordern auch ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes. Dieser Tage ist der Startschuss für das Kita-Qualitätsgesetz gefallen, über das in den nächsten zwei Jahren fast vier Milliarden Euro an die Länder fließen, unter anderem für Personalgewinnung. Ist das nicht ein wichtiger Schritt?

Wehrmann: Nein. Ich bin damit überhaupt nicht zufrieden, auch nicht mit der Summe des Geldes. Wir brauchen für den Bildungsbereich ein Sondervermögen wie bei der Rüstung. Der Sanierungsstau bei den Schulen ist riesig, und es fehlen fast 400’000 Kindergartenplätze. Da sind wir leicht bei 100 Milliarden Euro. Wir sehen ja, dass es an Geld in Deutschland nicht scheitert. Es scheitert nur dann, wenn es um Kinder geht. Dabei werden die Grundlagen des Landes in den ersten sechs Jahren gelegt. Deshalb gehören die Ausgaben dafür an die erste Stelle.

WELT: Welche Folge hat es, wenn es nur noch um Verwahrung geht, statt um Betreuung und Bildung?

Wehrmann: Die Folge ist, dass individuelle Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder nicht stattfinden. Weil niemand Zeit hat, ihnen wirklich zuzuhören, ihnen Anregungen zu geben. Wir verwalten die Kinder nur. Ich wünsche mir, dass mein Buch ein Weckruf wird. Deshalb habe ich mich für Aufstand statt Ruhestand entscheiden. Ich ertrage es nicht, dass so viele Kinder ohne Erziehungs- und Bildungschancen leben. Bildung ist der einzige Rohstoff, den unser Land hat.

 

Von Ilse Wehrmann erscheint am 14. August das Buch „Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss!“ im Verlag Herder.

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“Eltern sehen sich nicht in der Verantwortung”: Warum die Schule in Deutschland immer schlechter funktioniert https://condorcet.ch/2023/08/eltern-sehen-sich-nicht-in-der-verantwortung-warum-die-schule-in-deutschland-immer-schlechter-funktioniert/ https://condorcet.ch/2023/08/eltern-sehen-sich-nicht-in-der-verantwortung-warum-die-schule-in-deutschland-immer-schlechter-funktioniert/#respond Thu, 10 Aug 2023 06:03:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=14772

Schüler haben grosse Defizite in den Fächern Deutsch und Mathematik. Sie können sich schwer konzentrieren und sind oft undiszipliniert. Was würde helfen? Susanne Gaschke analysiert in der NZZ die Bildungsprobleme Deutschlands.

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“Ich bin robust”, sagt die Grundschullehrerin aus Berlin, “aber inzwischen gibt es Klassen, bei denen ich nicht mehr weiterweiss. Die Kinder schreien nur noch. Wenn irgendetwas nicht so ist, wie sie wollen, dann schreien sie. Keine Worte oder Sätze. Sie schreien einfach.”

Gastautorin Susanne Gaschke

Wenn sie einzelne – besonders arabisch- oder türkischstämmige – Schüler ermahne, werde ihr von diesen häufig entgegengeschleudert, sie sei eine «Rassistin», sagt die 55-Jährige, die namentlich nicht genannt werden möchte – “von Drittklässlern!”.

Ein Schulleiter aus Nordrhein-Westfalen erzählt, dass zur Abschlussfeier vor den Sommerferien mehrere Väter im Muskelshirt erschienen seien: “Ein Mann telefonierte, während der Chor sang. Eine Mutter ist drei Mal zum Rauchen hinausgelaufen. Mehrere Eltern kamen zu spät. Ich musste meine sechsminütige Rede vier Mal unterbrechen und um Ruhe bitten.”

Künftig werde man auf die Einladungen zur feierlichen Verabschiedung der Absolventen den Satz “Wir bitten um festliche Kleidung” drucken – und einen genauen Ablaufplan, der die Eltern darüber in Kenntnis setze, wie lange jeder einzelne Programmpunkt dauere und sie mithin ohne Zigarette oder Handy auskommen müssten. “Es hilft ja nichts”, sagt der Schulleiter: “Wir können nur mit dem arbeiten, was wir haben.”

Die Disziplinprobleme in ihren Klassen seien oft so massiv, dass sie einigermassen zufrieden sei, wenn sie in einer 45-minütigen Schulstunde auf 20 Minuten effektive Unterrichtszeit komme, sagt die Lehrerin einer Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein: “Dann bin ich gut.”

Seit dem «Pisa-Schock» ist wenig besser geworden

Drei Schularten, drei Bundesländer, sicher kein vollständiges Bild. Lehrer an Gymnasien, gerade im ländlichen Raum, berichten immer noch von motivierten Schülern, engagierten Eltern, heiler Welt. Doch auch sie beschreiben ähnliche Tendenzen wie ihre Kollegen von den stärker herausgeforderten Schularten: die kürzere Aufmerksamkeitsspanne der Jugendlichen; das Fehlen literarischer oder musischer Vorbildung; die unguten Einflüsse von Tiktok oder Instagram auf das Sozialverhalten der Schüler; die hohe Klagebereitschaft mancher Eltern, wenn sie mit der Benotung ihrer Kinder nicht einverstanden seien. Dabei korrigiere man die Noten sowieso schon nach oben, sagen Lehrer: Man könne ja nicht nur Fünfen und Sechsen verteilen.

Die Befunde der empirischen Bildungsforschung passen zu diesen Impressionen. Seit der «Pisa-Schock» des Jahres 2000 den Deutschen die Augen dafür öffnete, dass ihre Schulen im internationalen Vergleich bei weitem nicht so leistungsstark waren, wie es zum Selbstbild des Landes gehörte, ist sehr viel ausprobiert worden: diverse neue Schreiblernmethoden, Leseförderprogramme, längere Unterrichtstage, schnellere Wege zum Abitur, “Schulen ans Netz”.

 

 

Trotzdem verschärfen sich einige zentrale Probleme weiter. Die Lesekompetenz der deutschen Grundschüler, also die unerlässliche Voraussetzung für jeden weiteren schulischen Erfolg, geht seit Jahren zurück, besonders stark seit 2016. Das ist das Ergebnis der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) 2023. Die Studie misst seit 20 Jahren die Lesekompetenzen von Grundschülern in 65 teilnehmenden Staaten. Deutschland liegt derzeit im Mittelfeld, weit hinter den Champions Singapur und Hongkong, aber auch hinter Bulgarien, Polen und England.

 

Die Spitzengruppe der sehr guten Leser hat sich in Deutschland verkleinert. 25 Prozent der deutschen Viertklässler lesen nicht so, dass sie einen kurzen Text verstehen und adäquat wiedergeben könnten. Ebenso wenig beherrschen die Zehnjährigen die korrekte Rechtschreibung – was auch inzwischen überwundenen didaktischen Irrwegen wie der Mode-Methode “Lesen durch Schreiben” geschuldet ist, die gerade schwache Schüler benachteiligte.

Im Fach Mathematik sind 22 Prozent der Schüler laut Mint-Nachwuchsbarometer 2023 «gefährdet» und verfügen kaum über das nötigste Verständnis für Zahlen und Rechenarten. Gegenüber 2011 ist das fast eine Verdoppelung der Risikogruppe. Obwohl Mädchen generell bei Noten und Schulabschlüssen vor den Jungen landen, sind sie in Mathematik deutlich im Hintertreffen.

Für zukunftsträchtige Branchen verschärft das Desinteresse der jungen Leute den Fachkräftemangel.

Rund 15 Lernwochen liegen sie am Ende der vierten Klasse zurück – das überschattet ihre gesamte schulische Entwicklung. Auch deshalb dürfte das Interesse an Mint-Studienfächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) gesunken sein, es gibt viele Studienabbrecher. Für zukunftsträchtige Branchen verschärft das Desinteresse der jungen Leute den Fachkräftemangel.

Der Lehrerberuf selbst wird trotz guter Bezahlung immer unbeliebter. Die Zahl der Berufsanfänger hat sich sogar beim halbwegs stabilen Gymnasium in den vergangenen zehn Jahren halbiert. Insgesamt fehlten 40’000 Lehrer, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Die Bundesländer als Dienstherren behelfen sich mit Quereinsteigern, die zum Teil nützliche Praxis aus anderen Berufen mitbringen, zum Teil aber auch alles andere sind als pädagogische Naturtalente.

Bundesweit sind 10 Prozent des Lehrpersonals Quereinsteiger, in einzelnen Bundesländern auch mehr. Fachleute kritisieren, dass gerade an den weichenstellenden Grundschulen und an den Gemeinschafts- und Förderschulen besonders viele Quereinsteiger mit pädagogischer Kurzausbildung tätig seien.

Sechs Stunden Deutsch, fünf Stunden Mathematik

An fast jeder zehnten Grundschule fehlt überdies ein Schulleiter. Jeder vierte Grundschulrektor würde laut “Schulleitungsmonitor Deutschland” (2023) der Wübben-Stiftung Bildung gern seinen Posten verlassen. Überbordende bürokratische Anforderungen, schwierige Beziehungen zur Elternschaft und geringe finanzielle Anreize machen die Funktion unattraktiv.

Das bleibt nicht folgenlos, denn die Qualität des Unterrichts hängt ganz wesentlich auch von guten Schulleitungen ab ­– und Unterrichtsqualität ist nach den Erkenntnissen von Bildungsforschern noch entscheidender für den Lernerfolg von Schülern als die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden.

Die Lesekompetenz der deutschen Grundschüler, also die unerlässliche Voraussetzung für jeden weiteren schulischen Erfolg, geht seit Jahren zurück.

Der Faktor Zeit spielt allerdings auch eine wichtige Rolle. In Deutschland wird an Grundschulen laut Iglu-Studie 141 Minuten lesebezogener Unterricht pro Woche erteilt, im EU-Durchschnitt sind es 194 Minuten. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) empfiehlt denn auch für die Zukunft sechs Wochenstunden Deutsch- und fünf Wochenstunden Mathematikunterricht. Das ist sicherlich eine vernünftige Idee – wenn sich denn die Lehrer für dieses Ziel finden.

In anderen Feldern, in denen die Kommission Vorschläge macht, wird deutlich, wie einseitig dieses Gremium mit Theoretikern besetzt ist und wie sehr darin Schulpraktiker fehlen. Einerseits fordert dessen Co-Vorsitzender Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel, die Länder müssten angesichts der Integrationsdefizite vieler Kinder einen verbindlichen Sprachstandstest im Alter von viereinhalb Jahren mit einer verbindlichen vorschulischen Förderung kombinieren.

Kinder können sich nicht selbst an- und ausziehen

Wie man die Teilnahme am Test und vor allem einen verpflichtenden Kita-Besuch politisch durchsetzt, ist andererseits eine völlig offene Frage.

Die bereits zitierte Berliner Grundschullehrerin beschreibt die fehlende Kooperationswilligkeit mancher arabischstämmiger Mütter: “Vor allem verwöhnen sie ihre Söhne viel zu sehr, geben sie natürlich nicht in die Kita, fahren sie bis zum fünften Lebensjahr im Buggy herum, füttern sie mit Süssigkeiten und nehmen ihnen jeden Handgriff ab.”

Die Folge: Manche Erst- und Zweitklässler müsse sie für den Sportunterricht an- und ausziehen, allein seien die Kinder dazu nicht in der Lage. “Und zu hoffen, dass in diesen Familien mal ein Bilderbuch angeschaut oder eine Geschichte vorgelesen wird, ist völlig utopisch.” Häufig seien die Eltern auch für Gespräche über ihre Kinder kaum zu erreichen.

Wenn die Schule die Erziehung für diese migrantischen Milieus vollständig allein übernehmen muss, braucht sie eine ganz andere personelle Ausstattung.

Der Psychologe Ahmad Mansour, ein Fachmann für Integrationsprobleme und kulturelle Differenzen, sagt dazu, in den fraglichen Kulturen werde die Schule komplett als staatliche Aufgabe begriffen: “Die Eltern sehen sich da gar nicht in der Verantwortung.”

Man erreiche diese Klientel am besten, wenn man allgemeinere Veranstaltungen anbiete, zum Beispiel zur gesunden Ernährung oder zur Wahl der richtigen weiterführenden Schule. “Gespräche müssen am Kindeswohl anknüpfen, nicht immer nur an Konflikten.” Das verpflichtende Kita-Jahr sei der einzige Weg, die Kinder schulfähig zu machen.

Wenn aber die Schule die Erziehung für diese migrantischen Milieus vollständig allein übernehmen muss, braucht sie eine ganz andere personelle Ausstattung – und andere Sanktionsmöglichkeiten als etwa den Ausschluss vom Unterricht.

Digitalisierung kann negative Wirkung haben

Das alles könnten der KMK-Berater Köller und seine Mitautoren wissen. Trotzdem lesen sich ihre Empfehlungen zur “Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen” weltfremd: Von “Verabredung und gemeinsamer Implementation von schulischen Regeln, mit dem Ziel der Sicherstellung von Normkohärenz und der Etablierung einer positiven Peerkultur” ist da die Rede. Oder von “Massnahmen zur Förderung der Selbstregulation, des Wohlbefindens und der sozialen Integration” sowie “gezielter Unterstützung positiver Peernetzwerke in Unterricht und Ganztag”. Für Lehrer, die mühsam versuchen, wenigstens 20 Minuten pro Schulstunde wirklich zu unterrichten, muss das wie Hohn klingen.

Beim Thema Digitalisierung schleicht sich ein ähnlich ideologischer Unterton ein. Dabei hat beispielsweise das schwedische Karolinska-Institut jüngst in einer umfangreichen internationalen Meta-Studie dargelegt, dass “digitale Werkzeuge” ausgesprochen negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben, wenn sie im Unterricht zu früh eingesetzt werden. Ausserdem benachteiligen sie gerade Kinder aus bildungsfernen Familien. Trotz solchen Erkenntnissen empfiehlt die KMK-Kommission die Arbeit mit Bildschirmmedien schon in der Kita – und «Informatikinhalte» bereits im Grundschulunterricht. Für das Leben in der “digitalen Welt” sei das erforderlich.

“Es geht dabei eher um ökonomische Interessen und eine gewisse Zeitgeisthörigkeit der Politik”, sagt Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er hat im Auftrag des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen ein Gutachten erstellt, das sich für die Digitalisierungsstrategien deutscher Kultusminister geradezu vernichtend ausnimmt.

Lesen lernt man mit Büchern

Demnach ist die beste Vorbereitung auf ein Leben in der “digitalen Welt”», gut lesen und schreiben zu können – egal, ob es um Informationsbeschaffung oder um das Programmieren von Apps geht. Das Lesen selbst lernen Kinder offenbar besser analog als digital. Aus zahlreichen Studien der Stiftung Lesen könnte auch in Deutschland bekannt sein, welche zentrale Rolle dabei das Elternhaus spielt.

Kinder, die mit Büchern aufwachsen, denen regelmässig vorgelesen wird und die ihre Eltern selbst zum Vergnügen lesen sehen, haben es viel leichter als Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Wenn aber die Familien mit einem guten Leseklima rar sind, müssen Kita und Schule in dieser Hinsicht deutlich mehr tun.

“Was auch immer man unter der ‘digitalen Welt’ verstehen mag: Die Kompetenzen, um in ihr zu bestehen, erwirbt man zunächst analog.”

Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg

 

Die Leseforschung hat klare Erkenntnisse dazu, was hilft: Schon in der Kita müssen gemeinsam Bilderbücher betrachtet und es muss vorgelesen werden. Bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache und bei Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen ist intensive Wortschatzarbeit nötig: Jede Handlung – “Wir decken den Tisch, das ist der Teller, das ist der Becher” – muss sprachlich begleitet werden.

Diktate sind notwendig

In der Grundschule muss laut und bisweilen auch im Chor gelesen werden. Verbundene Handschrift und das Abschreiben von Texten fördern die Sprachsouveränität. Diktate sind zur Übung nötig.

Der Stadtstaat Hamburg, der in der günstigen Lage ist, zugleich Schulträger, Schulaufsicht und Kultusbehörde in einem zu sein, hat mit einer intensiven Leseförderung gute Ergebnisse erzielt und ist im bundesweiten Ranking weit nach oben geklettert. Zum dort verwendeten Instrumentenkasten gehören unter anderem sogenannte “Lesebänder” – 20 Minuten an jedem Schultag, in denen, unabhängig vom Fach, laut gelesen wird.

Schulen, die ihre Lage verbessern wollen, greifen jetzt auch in anderen Bundesländern auf das Hamburger Modell zurück. “Das ist der richtige Weg”, sagt Karl-Heinz Dammer: “Was auch immer man unter der ‘digitalen Welt’ verstehen mag: Die Kompetenzen, um in ihr zu bestehen, erwirbt man zunächst analog.”

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Würden Sie die chinesische Gymiprüfung bestehen? https://condorcet.ch/2023/07/wuerden-sie-die-chinesische-gymipruefung-bestehen/ https://condorcet.ch/2023/07/wuerden-sie-die-chinesische-gymipruefung-bestehen/#comments Mon, 31 Jul 2023 06:25:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=14699

In unserem Blog berichten wir immer wieder über die asiatischen Schulsysteme. Hier veröffentlichen wir einen Artikel von Katrin Büchenbacher, der in der NZZ erschienen ist. Katrin Büchenbacher ist Auslandskorrespondentin der NZZ. Ihre Erkenntnisse sind zwar nicht ganz neu, was den Druck und den Stress betrifft, dem die chinesischen Schüler ausgesetzt sind: Knallharte Quoten, grosse Konkurrenz und die Hälfte fällt durch. Spannend sind allerdings die Aussagen über die unterschiedliche Qualität der Berufsschulen und der Gymnasien.

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Die Zukunft von Qi Lians Sohn entscheidet sich an drei Tagen im Juni, in einem Prüfungssaal mitten in Peking. Die letzten zwei Monate ist Qi Lian, die in der Bauplanung arbeitet, vor 6 Uhr aufgestanden. Sie hat für ihren Sohn gekocht, hat ihn zur Schule gefahren und ist abends mit ihm zwei Stunden den Lernstoff durchgegangen. “Manchmal wollte er nicht, dass ich ihn fahre, manchmal brachte er nichts runter, wenn ich für ihn gekocht hatte”, erzählt Qi Lian per Videotelefon. “Ich habe mir solche Sorgen gemacht.”

Gastautorin Katrin Büchenbacher

In China haben im Juni und Juli 15 Millionen 15-Jährige die Gymiprüfung geschrieben. Sie wurden während zweieinhalb Tagen in zehn Fächern wie Chinesisch, Mathematik oder Englisch geprüft. Das Examen ist für Mittelschüler die einzige Chance, es ins Gymnasium und danach an eine Universität zu schaffen. Die Prüfung darf nicht wiederholt werden, und die Kinder müssen dafür nicht nur gut, sondern besser als ihre Mitschüler sein. Denn das Bildungsministerium hat eine fixe Quote festgelegt: Ungefähr die Hälfte erhält einen Platz am Gymnasium, die übrigen besuchen eine Berufsschule oder gehen nicht mehr zur Schule.

Frau Yan ist eine junge Kunstlehrerin an einer renommierten Mittelschule im Westen von Peking. Sie spricht nur mit der NZZ, wenn sie anonym bleiben darf, denn sie fürchtet um ihre Stelle. Frau Yan erzählt, in der Zeit vor der Gymiprüfung habe sie einer ihrer Schüler vor versammelter Klasse beleidigt, als sie ihn zum wiederholten Male aufgefordert habe, still zu sein – das sei vorher noch nie vorgekommen. Frau Yan erklärt sich das Verhalten ihres Schülers mit dem hohen Stress, den die bevorstehende Prüfung für die Schüler bedeute. Dabei seien es vor allem die Eltern, die ihre Kinder stark unter Druck setzten. Sie fürchteten sich davor, dass ihr Kind scheitere.

Die Berufsschulen fallen hinsichtlich Qualität massiv ab.

Scheitern würde bedeuten, dass das Kind auf eine Berufsschule müsste. Das Problem: Diese Berufsschulen fallen hinsichtlich der Qualität massiv ab. “In vielen der Berufsschulen lernen die Schüler quasi gar nichts. Viele brechen die Schule ab. Im besten Fall erwerben sie eng definierte berufliche Fertigkeiten, die sie jedoch nicht auf die Zukunft vorbereiten”, schreibt der Entwicklungsökonom Scott Rozelle in seinem Buch “Invisible China”. Eine Zukunft, in der vor allem die Fähigkeit, zu lernen und sich Veränderungen anzupassen, gefragt sei. Rozelle hat jahrzehntelang in China geforscht und etliche Berufsschulen besucht.

Die Zustände, die er dort antraf, waren teilweise schockierend: Schüler, die im Unterricht rauchten, auf dem Handy spielten oder gar nicht erst erschienen. In China haben die Berufsschulen deshalb auch oft den Ruf des “schlechten Umgangs”.

Die chinesische Gymiprüfung: hart, aber fair?

Neun Schuljahre sind in China obligatorisch. Dennoch geht ein Grossteil der Jugendlichen nach der Mittelschule weiter zur Schule, denn die Regierung hat in den letzten zwei Jahrzehnten den Zugang zur Bildung für 16- bis 18-Jährige stark erleichtert – nach dem Vorbild des dualen Bildungssystems, wie es in Deutschland oder der Schweiz üblich ist. Die Berufsbildung in China dauert in der Regel drei Jahre, mit einem halben Jahr Praktikum. Arbeiten kann man danach bestenfalls in der Pflege, im Gastgewerbe oder in technischen Berufen.

In China werden die Weichen in der Schule für das Leben eines jungen Menschen schon sehr früh gestellt.

Doch anders als in Deutschland oder der Schweiz hat China wenig in den beruflichen Bildungsweg investiert. Zudem findet an den Berufsschulen keine ausreichende Qualitätskontrolle statt. Zwar ist die Jobsicherheit mit einer beruflichen Ausbildung höher, doch die Löhne sind gering, Karriere- und Aufstiegschancen gibt es kaum. Durchlässigkeit ist nicht gegeben. An einer Universität studieren darf nur, wer ein Gymnasium besucht und die Universitätseintrittsprüfung bestanden hat – erst seit letztem Jahr gibt es erste Experimente, die auch Berufsschülern erlauben, die Universitätseintrittsprüfung zu absolvieren.

Die Schüler jagen jedem einzelnen Punkt nach.

An der Gymiprüfung entscheidet sich also, ob jemand sozial aufsteigen kann oder nicht. So werden die Weichen für das Leben eines jungen Menschen schon sehr früh gestellt. Damit nicht genug: je höher die Punktzahl, desto höher die Chance auf einen Platz in einem Top-Gymnasium, das wiederum die Chance auf einen Platz an einer von Chinas Eliteuniversitäten erhöht. Die Schüler jagen jedem einzelnen Punkt nach. Das zeigt das Beispiel des Fachs Sport, das nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtpunktzahl ausmacht. Trotzdem kann man in Chinas Sportstadien vor der Gymiprüfung immer wieder junge Schüler beobachten, die einen privaten Trainer angeheuert haben, damit sie im 100o-Meter-Lauf noch ein wenig schneller sind.

Lange Tage für einen 15-Jährigen

In China gibt es immer wieder Stimmen, die fordern, die gymnasiale Bildung allen zugänglich zu machen. So wurden die Quoten für die Gymiprüfung im vergangenen Jahr auch etwas gelockert, und seit 2019 bemüht sich das Bildungsministerium, die Qualität der Berufsschulen zu verbessern. Für den Entwicklungsökonomen Rozelle geht das noch zu wenig weit. Der Fokus müsse nicht auf spezifischen technischen oder handwerklichen Fähigkeiten liegen, die Jahre später schon wieder überholt sein könnten, sondern auf der Allgemeinbildung.

“Es besteht wenig Hoffnung, dass er an das Gymnasium kommt, das wir angepeilt hatten.”

Qi Lians Sohn ist vor der Prüfung jeweils um 6 Uhr aufgestanden, um 7 Uhr startete der Unterricht, Schulschluss war um 18 Uhr. Am Abend setzte er sich nochmals zwei Stunden hin, um zu lernen. Am Wochenende belegte er Zusatzkurse. Qi Lian hat das alles organisiert für ihn. Hat sich der ganze Stress gelohnt? 14 Tage nach der Prüfung erfährt sie das Resultat.

Ihr Sohn hat es ans Gymnasium geschafft. “Nicht ideal” findet Qi Lian seine Punktzahl. “Es besteht wenig Hoffnung, dass er an das Gymnasium kommt, das wir angepeilt hatten.”

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“No Labels” im Bildungsbereich ist alter Wein in neuen Schläuchen https://condorcet.ch/2023/07/no-labels-im-bildungsbereich-ist-alter-wein-in-neuen-schlaeuchen/ https://condorcet.ch/2023/07/no-labels-im-bildungsbereich-ist-alter-wein-in-neuen-schlaeuchen/#respond Wed, 19 Jul 2023 11:57:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=14596

Demokraten und Republikaner teilen sich das US-amerikanische Wahlvolk. Bisher. Seit 2010 existiert eine Bewegung, die sich NO LABELS nennt und auf Vernunft und Effizient setzt. Ihr Anliegen: Problemlösung statt ideologische Grabenkämpfe. „No Labels Group“ nennen sich die Rebellen, die 63 Kongresspolitiker unter sich zählen und Hunderttausende Aktivisten, Gewerkschaftler, Geschäftsleute. Sie eint, dass sie genug haben vom Status quo. Jenseits der Parteigrenzen und der Denkverbote will die Bewegung, die sich nun anschickt, Partei zu werden, strenge Waffengesetze durchsetzen und die Arbeit gewerkschaftlich organisierter Lehrer reformieren. Eine Kombination, die mit Sicherheit die Rechte wie die Linke aufbringt. Vor kurzem haben sie ihr Parteiprogramm veröffentlicht, in dem uns vor allem die Bildungsthesen interessieren. Die explizit links argumentierende Diane Ravitch und ihr prominenter Mitstreiter Peter Greene, ebenfalls oft in unserem Blog publizierend, können dieser Bewegung gar nichts abgewinnen, wie der folgende Beitrag zeigt.

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Gastautorin Diane Ravitch: Die Demokraten haben die öffentliche Schule aufgegeben.

Die Verabschiedung des Gesetzes “No Child Left Behind” (NCLB) im Jahr 2001 (das am 8. Januar 2002 unterzeichnet wurde) und die Einführung des Programms “Race to the Top” (eine radikalere Version des NCLB) schufen eine Ära der Zweiparteienherrschaft, die auf Tests, Bestrafung und Privatisierung basierte. Die Demokratische Partei in DC hat ihr historisches Engagement für öffentliche Schulen aufgegeben.

Diejenigen, die dem Klassenzimmer am nächsten stehen, wissen, dass das Bush-Obama-Programm von 2002 eine Katastrophe war. Nach einem anfänglichen Anstieg der Ergebnisse stagnierten die Zahlen um 2010; die Testvorbereitungen aller Art konnten die Ergebnisse nur begrenzt verbessern. Viele Schulen wurden geschlossen, viele Charter-Schulen eröffnet (und viele schnell wieder geschlossen), Charter-Ketten florierten, Lehrer verließen in großer Zahl die Schule, die Einschreibung in Lehrerausbildungsprogramme sank drastisch, und jetzt werden mit Gutscheinen religiöse Schulen mit geringer Bonität subventioniert.

Die letzten zwei Jahrzehnte waren eine Katastrophe für das amerikanische Bildungswesen.

Doch wie Peter Greene erklärt, bietet eine neue dritte Partei, die sich “No Labels” nennt, eine Bildungsplattform an, die ein Aufguss der Bush-Obama-Agenda ist. Im Bildungsbereich verpackt “No Labels” die gescheiterten Ideen der letzten 20 Jahre neu.

Das sollten Sie über “No Labels” wissen: Sie zielt auf unabhängige Wähler ab und wird die Wahl zu Gunsten von Trump entscheiden, wenn die Wahl knapp ausfällt, was wahrscheinlich ist. Sie wird von rechtsgerichteten Milliardären finanziert. Caveat emptor.

Peter Greene schreibt dazu:

Peter Greene, Lehrer, Autor des Diane Ravitch-Blog: Als würde ein Veganer Hamburger essen.

No Labels soll eine Art zentristische Abkehr von der rasenden Politik der Linken und der Rechten sein, als Verfechter des “gesunden Menschenverstandes”, und ich werde nicht in dieses politische Kaninchenloch hinabsteigen (außer zu bemerken, dass die Behauptung, es ginge um gesunden Menschenverstand, während man Joe Manchin ernsthaft als Präsidentschaftskandidaten in Betracht zieht, ungefähr so wirkt, als würde ein Veganer einen Hamburger essen). Aber sie haben ein Programm, das in vier Punkten “Amerikas Jugend” und damit die Bildung anspricht. Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, ja?

 

Programmpunkt 11: Aus Gründen des Anstands, der Würde und der Moral sollte kein Kind in Amerika hungrig zu Bett gehen oder zur Schule gehen.

Der Grundgedanke ist solide genug – es ist schlimm, wenn Kinder hungern müssen. Einige der Begründungen sind … merkwürdig? …abwegig?

Unterernährte Kinder “machen geringere Fortschritte in Mathematik und Lesen, wiederholen häufiger Klassenstufen und haben eine geringere Wahrscheinlichkeit, die High School abzuschließen, was bedeutet, dass sie eher im Gefängnis landen.” Das ist eine interessante Kette von Ursachen und Wirkungen. Außerdem stören sie den Unterricht in den Klassenzimmern und beeinträchtigen die Bildung anderer Kinder.

Trotz der Überschrift ist kein einziges moralisches Argument in Sicht. Und wir müssen noch einfügen: “Auch wenn Washington die Ausgaben kürzen muss”, winken wir mit einer erheblichen Ausweitung der Mittel oder Steuergutschriften, damit die Kinder zu essen bekommen. Also nichts Systematisches gegen Kinderhunger oder -armut, denke ich.

Programmpunkt 12: Jedes Kind in Amerika sollte das Recht auf eine qualitativ hochwertige Bildung haben. Kein Kind sollte gezwungen sein, eine Schule zu besuchen, die nicht funktioniert.

Zwischen diesen “Zentristen” und der üblichen Schar von Schulprivatisierern gibt es keinen Millimeter Luft. Reiche Kinder bekommen gute Schulen und arme Kinder schlechte, also besteht die Lösung NICHT darin, die Finanzierung zu verbessern oder zu ergänzen, sondern das Pedal für Charterschulen und Gutscheine durchzudrücken. Denn Amerika gibt “mehr Geld für Bildung pro Kind im schulpflichtigen Alter aus als jedes andere Land der Welt, und das bei schlechteren Ergebnissen”. Dazu kommen noch ein paar gefälschte Testergebnisse und die üblichen Behauptungen über Wartelisten von Charterschulen.

Weil “wir den Wettbewerb auch mögen”, besteht ihre vernünftige Lösung darin, in den nächsten zehn Jahren 10.000 Charterschulen einzurichten, um einigen Schülern, die “in den scheiternden traditionellen öffentlichen Schulen gefangen sind”, eine “Rettungsleine” zu bieten.

Weil “wir den Wettbewerb auch mögen”, besteht ihre vernünftige Lösung darin, in den nächsten zehn Jahren 10.000 Charterschulen einzurichten, um einigen Schülern, die “in den scheiternden traditionellen öffentlichen Schulen gefangen sind”, eine “Rettungsleine” zu bieten. Ich werde mir nicht die Zeit nehmen, darüber zu streiten (schauen Sie sich einfach die Beiträge in diesem Blog an). Halten wir einfach fest, dass es hier nichts gibt, wogegen Betsy DeVos (ehemalige Bildungsministerin unter Trump) oder Jeb Bush Einspruch erheben würden, außer dass sie lieber mehr Gutscheine sehen würden. Das ist rechte Standardkost.

Programmpunkt  13: Amerika sollte sich national dazu verpflichten, dass unsere Schüler in den Bereichen Lesen und Mathematik innerhalb eines Jahrzehnts weltweit die Nummer eins sein werden.

Sie wissen schon – die Nummer eins in der internationalen Rangliste auf der Grundlage der Ergebnisse der großen standardisierten Tests, eine Position und ein Rang, den die Vereinigten Staaten noch nie innehatten. Und dennoch ist es führenden Nationen wie Estland irgendwie nicht gelungen, uns in den Hintern zu treten. Diese Leute berufen sich auf Chinas Testergebnisse, obwohl selbst eine rudimentäre Überprüfung zeigen würde, dass China nicht alle seine Schüler testet.

Aber wenn Exzellenz in der Bildung das Ziel ist, sollte man vielleicht noch einmal über die Subventionierung von Schulen auf Gutscheinbasis nachdenken, die zumeist religiös sind und Kreationismus lehren, nur “richtige” Bücher lesen und ganz allgemein denselben Kulturkampf führen.

Wenn Amerika seinen Vorsprung bei den Technologien von morgen aufrechterhalten will, sollten wir weniger Zeit darauf verwenden, in unseren Schulen Kulturkriege zu führen, und mehr Zeit darauf verwenden, Spitzenleistungen zu fördern, zu belohnen und anzustreben.

Denken Sie daran, dass wir diesen Vorsprung bisher gehalten haben, ohne unsere Testergebnisse zu verbessern.

Aber wenn Exzellenz in der Bildung das Ziel ist, sollte man vielleicht noch einmal über die Subventionierung von Schulen auf Gutscheinbasis nachdenken, die zumeist religiös sind und Kreationismus lehren, nur “richtige” Bücher lesen und ganz allgemein denselben Kulturkampf führen. Oder die Gründung von 10.000 Charterschulen, die nicht unbedingt besser sind als öffentliche Schulen (und die vielleicht bald auch die Möglichkeit haben, in einem engen, kurzsichtigen, diskriminierenden religiösen Rahmen zu arbeiten).

Programmpunkt 14: Finanzielle Bildung ist für alle Amerikaner, die vorankommen wollen, unerlässlich

Oh, Gott. Erinnern Sie sich an all die armen Kinder in Programmpunkt 11? Nun, No Labels hat eine Erklärung dafür. Fast sechs von zehn Amerikanern geben an, dass sie von der Hand in den Mund leben. Die Inflation ist wohl der größte Grund für diese Unsicherheit, aber viel zu vielen Amerikanern fehlen auch die Kenntnisse und Werkzeuge, um finanziell unabhängig zu werden und voranzukommen. Inflation und schlechte Buchführung. Wissen Sie, was den Menschen hilft, finanziell unabhängig zu werden? Geld. Also sollten wir Kurse für Finanzwissen anbieten, damit die Menschen bessere Kreditwürdigkeitswerte erhalten.

In Programmpunkt 22 geht es außerdem um staatsbürgerliche Bildung, damit die Menschen stolz auf Amerika sind.

Programmpunkt 24: “Kein Amerikaner sollte aufgrund seiner politischen Ansichten in der Schule oder am Arbeitsplatz diskriminiert werden”, und ich werde Sie direkt zurück zu ihrer Unterstützung für Gutscheine und gemeinnützige Organisationen schicken, die hart daran arbeiten, genau das zu tun.

 

Ein Veganer ist keinen Hamburger.

Ich kann die Frustration darüber nachvollziehen, dass das Bildungswesen ein politisches Waisenkind ist, ein wichtiger Bereich, für den sich keine der beiden Parteien einsetzt. Aber wenn Sie jemanden suchen, der sich im Bildungswesens wirklich auskennnt, es versteht und sich für die Institution der öffentlichen Bildung einsetzen will, sind No Labels auch nicht die richtige Partei.

Das Ganze klingt vor allem nach der rechtslastigen Reformagenda der Handelskammer von vor zehn Jahren. Selbst in einer Welt, in der beide Parteien nach rechts gerutscht sind, ist dies kein zentrales Konzept für die Bildung. Es handelt sich um denselben reformistischen Privatisierungsquatsch, den wir hören, seit die Reagan-Regierung das öffentliche Bildungswesen zur Zielscheibe gemacht hat. Wenn Sie auf der Suche nach einem veganen Kandidaten sind, ist dieser Burger nichts für Sie.

Bemerkung der Redaktion: Trotz dieser heftigen Kritik findet die Redaktion, dass die Zielsetzung dieser Bewegung – „Hört auf zu kämpfen, fangt an Probleme zu lösen!“  – in der völlig polarisierten Politlandschaft der USA anerkennenswert ist und ihr Wirken Geduld verdient.

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Oberstes US-Gericht untersagt Studentenauswahl nach Hautfarbe https://condorcet.ch/2023/07/oberstes-us-gericht-untersagt-studentenauswahl-nach-hautfarbe/ https://condorcet.ch/2023/07/oberstes-us-gericht-untersagt-studentenauswahl-nach-hautfarbe/#comments Wed, 05 Jul 2023 06:53:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=14493

In den USA hat es der Oberste Gerichtshof den Universitäten untersagt, bei der Auswahl von Studienplatzbewerbern deren Hautfarbe zu berücksichtigen. Wie berichtet wird, habe der Supreme Court in Washington entschieden, dass die unter dem Begriff Affirmative Action bekannte Praxis gegen die Verfassung verstoße. Studenten müssten auf Grundlage ihrer Leistung als Individuum behandelt werden und nicht auf Grundlage ihrer Hautfarbe, habe Gerichtspräsident John Roberts zu dem Urteil geschrieben. Natürlich haben wir unsere Gastautorin Diane Ravitch gefragt, wie sie diesen Entscheid beurteilt. Hier ist ihre Analyse.

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Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat in einer jüngst verkündeten Entscheidung die Anwendung rassistisch motivierter Fördermaßnahmen bei der Zulassung zu Hochschulen verboten. Die sechs konservativen Richter stimmten für die Entscheidung, die drei gemässigt-liberalen Richter stimmten dagegen.

Gastautorin Diane Ravitch

In der Medienberichterstattung wird die Wahrscheinlichkeit hervorgehoben, dass der Anteil der Asiaten und Weißen unter den Studienanfängern an Eliteuniversitäten zunehmen wird, da diese beiden Gruppen bei standardisierten Tests in der Regel bessere Ergebnisse erzielen. Wir wissen jedoch noch nicht, inwieweit es von Bedeutung ist, die offizielle Politik der positiven Diskriminierung abzuschaffen.

Die meisten Colleges in diesem Land nehmen jeden auf, der sich bewirbt, so dass die Abschaffung der Fördermassnahmen für sie nichts ändern wird. An den Eliteuniversitäten gibt es viel mehr Bewerber als freie Plätze. Hier wird sich die Abschaffung der Fördermassnahmen voraussichtlich auswirken. An den besten Colleges gibt es oft fünf- oder zehnmal mehr Bewerber als Plätze.

Vielzahl von Faktoren bei der Auswahl in Colleges

Selektive Colleges verlassen sich jedoch nicht nur auf standardisierte Testergebnisse, um ihre Studienanfängerklassen zu füllen. Sie berücksichtigen eine Vielzahl von Faktoren, darunter den Notendurchschnitt, die Teilnahme an nichtakademischen Aktivitäten, die Aufsätze der Studenten und andere Faktoren. Sie können Präferenzen vergeben, um ihre Sportteams zu besetzen, um alle Hauptfächer zuzulassen, um talentierte Musiker zu rekrutieren und um “Legacy”-Studenten, die Kinder von Ehemaligen, aufzunehmen.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sie diese Normen aufgeben werden? Meiner Meinung nach nicht.

Darüber hinaus gibt es immer mehr selektive Colleges, die keine Tests anbieten, so dass die Tests für sie keine Rolle spielen.

Nach fast 50 Jahren Affirmative Action haben die meisten Elite-Colleges die Normen der Gleichheit, der Ablenkung und der Inklusion verinnerlicht. Sie haben die Diversifizierung des Lehrkörpers, der Studierenden und des Personals begrüsst. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie diese Normen aufgeben werden? Meiner Meinung nach nicht.

Richard Nixon, 37. Präsident der USA, 1913 – 1994, Republikaner: Er führte die “affermative action” ein.

Mein eigenes College wird von einer sehr angesehenen afroamerikanischen Frau geleitet; die Leiterin der Zulassungsstelle ist ebenfalls eine Afroamerikanerin. Die Harvard University hat einen neuen Präsidenten, eine Afroamerikanerin. Ich bezweifle, dass sich die ethnischen Profile dieser Einrichtungen stark oder überhaupt nicht ändern werden.

Nixons Politik war ein grosser Erfolg

Die Konservativen haben vergessen, dass Präsident Richard Nixon die Fördermaßnahmen ins Leben gerufen hat. Diese Entscheidung wurde heftig diskutiert, aber bis heute nicht aufgegeben. Damals, in den späten 1970er Jahren, stellte ich ein System in Frage, das Punkte für die Hautfarbe vergab, aber im Rückblick denke ich, dass Nixons Politik ein großer Erfolg war. Sie hat eine beträchtliche Anzahl schwarzer Berufstätiger hervorgebracht. Das ist gut für die amerikanische Gesellschaft.

Ich bezweifle, dass die heutige Entscheidung den Zugang zu höherer Bildung für schwarze Studenten einschränken wird, nicht einmal an den Elite-Colleges, die Ziel der heutigen Entscheidung sind. Vielfalt, Gleichberechtigung und Integration sind zur Norm geworden.

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