16. Juni 2025
Die ÜGK und die Sprachenfrage

Von bildungspolitischen Schlafwandlern

Seit Jahren kennt die Schweizer Volksschule von den Lernerfolgen her nur eine Tendenz: abwärts. Doch die Schweizer Bildungsdirektoren wollen weiterfahren wie bisher. Auch bei den frühen Fremdsprachen. Den deprimierenden Testresultaten zum Trotz. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

 

«En Suisse on s’entend bien parce qu’on ne se comprend pas», sagen die Waadtländer: «In der Schweiz kommen wir gut miteinander aus, weil wir uns nicht verstehen.» Das welsche Scherzwort wird bittere Realität. Das zeigt die jüngste Sprachstudie der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Die sogenannte Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK 2023) untersuchte die Sprachkompetenz von 18‘500 Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit – in der Deutschschweiz Französisch als Fremdsprache und Deutsch als Schulsprache.[1]

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte: Eine solche Bilanz ist verheerend.

Nach 500 Lektionen Französisch kaum ein Satz

Die Resultate dieses nationalen Sprachtests ernüchtern. Lediglich 51 Prozent der Schüler erreichen im Fach Französisch die Lese-Grundkompetenzen, also die niedrigste Könnensstufe beim Leseverstehen. Konkret: Sie begreifen einfachste Sätze wie «Où est la gare?». Die andere Hälfte ist damit bereits überfordert. In lernschwachen Klassen erreichen oft nicht einmal 10 Prozent dieses Grundniveau. Drastisch formuliert bedeutet das: Nach 500 Lektionen Französisch verstehen sie kaum einen Satz! Eine solche Bilanz ist verheerend – dies in einem Land, das den Mythos der Viersprachigkeit pflegt. Getröstet haben sich die Verantwortlichen, dass die Testergebnisse beim französischen Hörverstehen minim besser ausgefallen sind.

 

Eigentlich wissen wir es längst: Es steht nicht gut um die Sprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler in der Schweiz. Das Können sinkt, auch beim Leseverständnis deutscher Texte. Die jüngsten Ergebnisse bestätigen, was uns die PISA-Resultate seit 2012 zeigen: einen deutlichen Negativtrend. In den Grundlagenfächern gilt jeder vierte Schüler als «lernleistungsschwach», wie es in der Bildungssprache heisst. Konkret: Er kann nur ungenügend lesen, schreiben, rechnen. Seit Längerem warnt der Bildungsforscher Stefan C. Wolter, Universität Bern, vor dieser Abwärtsspirale.[2]

Die Befunde wären klar, die Resultate eindeutig. Doch die bildungspolitische Karawane zieht weiter! Ungerührt und ungestört.

 

Der Einbruch der Schweizer Neuntklässler beim Leseverstehen (Grafik: © Statista 2024)

 

Wir wissen es seit Langem! Doch handeln?

Die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger «Beyond Age Effects» stellte den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen früh infrage.[3] Auch Im Raum Zentralschweiz ist seit fast zehn Jahren klar, dass Französisch auf Primarschulstufe ungenügende Resultate erbringt. Die Fremdsprachenevaluation der Bildungsdirektoren-Konferenz Zentralschweiz BKZ brachte es 2016 an den Tag. Dann wurden Förderprogramme entwickelt, und nun müssen die Verantwortlichen – oh Wunder! – feststellen, dass diese Massnahmen nichts gebracht haben.

Die Befunde wären klar, die Resultate eindeutig. Doch die bildungspolitische Karawane zieht weiter! Ungerührt und ungestört. Im bekannten EDK-Speech wird beschönigt: Alles halb so schlimm. Wir müssen nur da und dort etwas nachbessern – und eine weitere Studie in Auftrag geben. Auf gut Deutsch: Wir machen weiter wie bisher! Dies der Tenor von Christoph Darbelley (Die Mitte, VS), Präsident der EDK, und seinem Vize Armin Hartmann (SVP, LU) an der Pressekonferenz vom 22. Mai 2025. Sie glauben, sie stört kein Zweifel. Eine Umkehr kommt für die EDK-Verantwortlichen darum nicht infrage, eine Abkehr von den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarschulstufe scheint ausgeschlossen. Die Bildungspolitik verschliesst die Augen.

Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das Gesetz der Gegenbuchung!

«Notfall» Klassenzimmer

Längst aufgegangen sind die Augen den Lehrerinnen und Lehrern im pädagogischen Parterre. Sie erfahren täglich, dass der Lehrplan 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe und der Fülle von Kompetenzen überladen ist. Und sie wissen: Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das Gesetz der Gegenbuchung! Darunter leiden vor allem der Kernbereich Rechnen und das Grundlagenfach Deutsch mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das macht guten Lehrerinnen und engagierten Pädagogen zu schaffen. Sie hetzten von Thema zu Thema, beklagen manche – ohne die nötige Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne genügend Freiraum fürs Erlebnis und das Musische. Das hat seinen Grund: Die Primarschule hat sich inhaltlich entgrenzt.

Dazu kommt, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum und erschwert den Unterricht. Ein geregeltes «Schule-Halten» ist manchmal kaum (mehr) möglich. Nicht umsonst spricht die NZZ vom «Notfall» Klassenzimmer.

Die Praxiserfahrung wird negiert

Der Mikrokosmos des pädagogischen Alltags und die Sphäre der Bildungsstäbe und der Verwaltung: zwei verschiedene Welten! Hier die Welt der Pädagoginnen – dort die Welt der Pädokraten. Gute pädagogische Praxis und eine praxisfremde Bürokratie generieren wechselseitig Störfaktoren.

Hier die Welt der Pädagoginnen – dort die Welt der Pädokraten.

Manche Praktiker haben sich immer gegen zwei frühe Fremdsprachen gewehrt. Ein Diskurs war schon damals fast unmöglich; heute ist er noch schwieriger geworden. Berufserfahrene Lehrer spüren: Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie und den Verbänden – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Diese Kreise bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker des pädagogischen Alltags. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie.

Aufwachen, bitte!

Vielleicht gilt das waadtländische Bonmot auch für diese beiden Welten: «On s’entend bien parce qu’on ne se comprend pas.». Man kommt zwar irgendwie miteinander aus, aber man versteht sich nicht mehr. Das ist fatal. Nicht nur für die Lehrerinnen und Lehrer. Fatal ist es vor allem für schwächere und fremdsprachige Kinder. Sie werden mit der ersten Fremdsprache konfrontiert, bevor sie in der Schulsprache richtig lesen und schreiben können – geschweige denn Texte verstehen. Dass damit vor allem die Freude an der französischen Sprache verloren geht, verschlimmert die Sache noch.

Die Testresultate sind ernüchternd und machen hellhörig. Es wäre darum Zeit aufzuwachen. Schlafwandeln hat Folgen.

 

[1] https://www.edk.ch/de/die-edk/news/mm22052025 [abgerufen: 25.05.2025]

[2] Sebastian Briellmann, «Wir sind im Blindflug». Interview mit Stefan Wolter, in: NZZ, 04.03.2025, S. 9

[3] Simone E. Pfenninger, David Singleton (2017), Beyond Age Effects in Instructional L2 Learning. Revisiting the Age Factor. Bristol: Multilingual Matters

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4 Kommentare

  1. Bestens analysiert! Leider ist jedes Wort für den Wind. Die Oberen können seit jeher nicht hinstehen und ihre Fehler bekennen. Stolz ist die Ursünde schlechthin.
    Die Basis, oder wie Sie es nennen, Herr Bossard, das Parterre, müsste aufbegehren, notwendigerweise sogar mit Heugabeln. Nichts geschieht. In ein paar Jahren werden es in der Deutschschweiz vielleicht 75% der Schülerinnen und Schüler sein, die einfache Texte nicht mehr verstehen – weder in einer Fremdsprache noch in Deutsch als Unterrichtssprache. Dafür kennen alle Schüler:innen (wow – ich habe gegendert) alle 70 Geschlechter und jedwelche Sexualpraktiken.

  2. Noch im März dieses Jahres sandte ein Autorenteam von PH-Dozentinnen und Dozenten für Fremdsprachen einen Appell an die Politik, nicht von zwei Fremdsprachen in der Primarschule und von der favorisierten Lehrmethode abzuweichen. Darin wiederholen sie alle altbekannten falschen Argumente und tendenziösen Studien, die den Erfolg des frühen Fremdsprachenlernens und das Ausbleiben nachteiliger Folgen stützen, gehen jedoch mit keinem Satz auf die Leistungsüberprüfungen ein, die das Scheitern seit Jahren belegen. Auch die gewaltige Abstimmungsniederlage (85%), die das entsprechende Lehrmittel bei einer Volksabstimmung in BL erlitt, wird mit keinem Wort erwähnt. Das Papier wurde von über hundert PH-Personen, teilweise emeritierten, mitunterzeichnet. Ein Affront und ein Armutszeugnis von Leuten, die sich als wissenschaftlich Engagierte sehen wollen, sich damit jedoch jeden Kredit in der wissenschaftlichen Welt verscherzen.

  3. Ich unterrichte Englisch an einer 5. Klasse. Die Heterogenität ist riesig. Während einige in ihrer Freizeit Filme auf Englisch schauen, haben andere infolge strikter Medienzeit noch kaum Kontakt zur Sprache gehabt. Wiederum andere verstehen aus verschiedenen Gründen nicht mal in Deutsch was ein Adjektiv ist, geschweige denn auf Englisch. Englisch hat den Vorteil, dass die Mehrheit der Schüler sich immerhin darauf freut.
    Ich bin dafür Deutsch und Mathe in der Primarschule zu stärken. Maximal eine Fremdsprache in der Primarstufe. Wer tatsächlich auf zwei Fremdsprachen beharrt, soll bitte eine Woche hinten ins Schulzimmer sitzen und beobachten.

  4. Dieser Klartext von Carl Bossard zum Sprachendebakel unserer Schulabgänger rüttelt gewaltig auf. Der Autor spricht aus, was viele Sprachdidaktiker in arge Erklärungsnot bringt: Die frühe Mehrsprachendidaktik ist grandios gescheitert und hat tiefe Spuren im schwächelnden Deutschunterricht hinterlassen.

    Richtig Deutsch lernen ist ein umfassender Bildungsauftrag, der nicht nur so nebenbei stattfinden kann. Es braucht eine durchdachte Lernstrategie, um den aktuellen Tiefstand zu überwinden. Mit ein paar zusätzlichen Deutschlektionen allein ist es nicht getan.
    Mehr systematisches Deutschtraining, mehr narrativer Geschichtsunterricht, mehr eigenes Schreiben von Texten, mehr Zeit für Poesie und Jugendliteratur, all das muss wieder im Zentrum der Volksschule stehen. Zudem kommt den Realienfächern (Geschichte, Geografie sowie Natur und Technik) grosse Bedeutung zu. Wer über ein gutes Allgemeinwissen mit präzisem Wortschatz verfügt, hat grosse Vorteile beim Verstehen vieler Texte. Schüler können an Bekanntes andocken, da sie mithilfe des Vorwissens Neues einordnen und sich so rascher zurechtfinden können.

    Die frühe Mehrsprachendidaktik hingegen hat nicht zum erhofften Effekt des leichten Andockens geführt. Wer in keiner Sprache zuhause ist, dem fehlen die starken inneren Bilder, von denen aus der Wissenskern erfolgreich erweitert werden kann. Statt mehr Freude am sprachlichen Ausdruck zu gewinnen, fühlen sich die meisten Schüler beim Switchen in drei bis zu fünf Sprachen im Extremfall zutiefst verunsichert.

    Nur ein Ende des gescheiterten Mehrsprachenkonzepts kann aus der Misere herausführen. Eine Fremdsprache in der Primarschule reicht, zwei sind eine zu viel. Für Politiker, die das nicht glauben, hilft nur eins: Folgen Sie dem Rat meiner Kollegin Diana im vorangegangenen Kommentar. Besuchen Sie eine fünfte Klasse und informieren Sie sich über den aktuellen Fremdsprachen- und Deutschunterricht. Erlauben Sie sich zudem einen Blick in die Deutschhefte, wo Sie allenfalls auf aufschlussreiche Aufsätze stossen können. Sie werden die Forderung erfahrener Lehrpersonen nach einer Konzentration aufs Wesentliche danach bestens verstehen.

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