29. April 2024
Prämierungen und Rankings im Bildungsbereich

Ende des Elitedenkens? Besser für Individuum und Gesellschaft

Erst haben niederländische Schulbehörden das Prädikat “exzellente Schule” aufgegeben. Jetzt schaffen immer mehr medizinische Fakultäten die Auszeichnung ab, weil sie Studierende ins Burn-out treibt. Wir bringen einen Beitrag von Stephan Schleim. Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

Seit 2012 verlieh die Inspektion für die Schulen hier in den Niederlanden das Prädikat “Exzellente Schule”. Damit sollte die Profilierung von Schulen, die in der Breite guten Unterricht anbieten, für die Spezialisierung auf bestimmten Gebieten belohnt werden.

Zum 1. August dieses Jahres wurde das Prädikat auf Betreiben des Unterrichtsministers aber abgeschafft. Mitte Juni wurde es zum letzten Mal an 42 Schulen verliehen.

Stephan Schleim, Professor für Kognitionswissenschaft an der Universität Groningen: Zurück zur Kultur des Durchschnitts.

Natürlich sind damit nicht alle einverstanden: Insbesondere die so ausgezeichneten Schulen bedauern die Abschaffung des Prädikats. Es sei eine Motivation gewesen, sein Angebot zu verbessern. Nun kehre man zur “Kultur des Durchschnitts” zurück.

Kritiker aus der Politik fanden aber, dass die Auszeichnung falsche Anreize setzte. Es seien zu viele Ressourcen in das Erwerben des Prädikats gesteckt worden, anstatt damit den Unterricht zu verbessern. Außerdem hätten Eltern die Aussage missverstanden: Eine “exzellente Schule” sei nicht eine der besten Schulen, sondern schlicht eine Schule mit gutem Unterricht und einem herausragenden Angebot auf einem speziellen Gebiet.

Paul Zevenbergen, der der Jury zur Verleihung des Prädikats vorsaß, bedauert jedoch die Abschaffung: Damit hätte man Schulen dazu motiviert, über ihre Entwicklung nachzudenken. Außerdem hätte man dank der Initiative Praxiswissen teilen können.

Im zuständigen Ministerium denkt man nun über ein anderes Instrument nach, um den Unterricht zu verbessern. (Nebenbei: An niederländischen Schulen herrscht ein großer Personalmangel. Auch Deutschlehrer sind gefragt. Fast alle arbeiten in Teilzeit, um den Stress auszuhalten.)

Auszeichnung an medizinischen Fakultäten

In zeitlicher Nähe zu dieser Entscheidung für die Schulen findet nun auch bei medizinischen Fakultäten ein Umdenken statt. Nachdem die Freie Universität Amsterdam den Studienabschluss “cum laude” (mit Auszeichnung) abgeschafft hat, werden an den Unis in Maastricht, Rotterdam und Utrecht jetzt auch solche Schritte unternommen.

Vize-Dekanin Christa Boer der Freien Universität Amsterdam: Notn werden überbewertet.

Die Regeln für das Prädikat unterscheiden sich von Ort zu Ort. Meist geht es eine Kombination der Durchschnittsnote mit anderen Faktoren, dass man beispielsweise nie eine Klausur wiederholt hat. Das Tückische: Je näher man dem Studienabschluss kommt, desto weniger Möglichkeiten bleiben, eine weniger gute Note auszugleichen. Wenn man keine Klausur wiederholen darf, erhöht das den Stress.

Kritiker meinen, in der Ausbildung solle der Schwerpunkt auf dem Lernen liegen, nicht der Leistung in der Klausur. Aus studentischen Kreisen heißt es beispielsweise, die Unis sollten keine “Notenfabrik” sein.

An der Freien Universität Amsterdam, die als erste Abschied von der Auszeichnung nahm, gibt man im Masterstudium gar keine Noten mehr. Auch die Vize-Dekanin Christa Boer meinte, dass das alte System die Bedeutung der Noten gegenüber dem tatsächlichen Lernen überbewertete. Man müsse weitere Evaluationen abwarten, doch die bisherigen Erfahrungen seien positiv. Die dortige Programmdirektorin Hester Daelmans gab zudem zu bedenken, dass der Fokus auf exzellente Noten der Teamarbeit im Weg stehen könne.

Erste Mitte Juli berichtete die studentische Interessenvertretung “De Geneeskundestudent” (deutsch: Der Medizinstudent), dass 27 Prozent der Bachelorstudierenden und 34 Prozent der Studierenden im Praktikum ein hohes bis sehr hohes Risiko für ein Burn-out haben.

Burn-out Gefahr

Vertreter der Studierendenvertretung ISO hoffen, dass an weiteren Unis ein Umdenken stattfinden wird. Das sei auch gut für die psychische Gesundheit der Studierenden und angehenden Ärztinnen und Ärzte.

Erste Mitte Juli berichtete die studentische Interessenvertretung “De Geneeskundestudent” (deutsch: Der Medizinstudent), dass 27 Prozent der Bachelorstudierenden und 34 Prozent der Studierenden im Praktikum ein hohes bis sehr hohes Risiko für ein Burn-out haben. Die Datenerhebung fand Ende 2022 statt und basiert auf den Antworten von rund 2.700 Studierenden.

Deutsche Exzellenz

Im großen Nachbarland Deutschland versucht man seit 2005, die Unis mit der “Exzellenzinitiative” zu Verbesserungen anzuspornen. Seit 2019 sind die Gelder durch die “Exzellenzstrategie” abgelöst. Trotzdem (oder deswegen?) bleiben die deutschen Hochschulen im internationalen Vergleich eher Mittelmaß.

Das Thema ist komplex – doch dass vor allem diejenigen Einrichtungen als “exzellent” eingestuft werden, die vorher schon die besten Voraussetzungen hatten, liegt auf der Hand. Kritiker monieren auch hier falsche Anreize, beispielsweise eine weitere Vernachlässigung der Lehre gegenüber der Forschung und ein weiteres Auseinanderdriften zwischen den besten Unis und dem Rest.

Das heißt, dass man mit einer breiten Förderung der Masse mehr Punkte gewinnen kann, als mit einer Konzentration auf die Spitze.

Jedenfalls für die PISA-Initiative zur Bewertung der Schulen zeigte ich einmal auf, dass Eliteförderung die Platzierung von Deutschland kaum verbessern wird. Die Ergebnisse spiegeln nämlich Durchschnittswerte wider. Das heißt, dass man mit einer breiten Förderung der Masse mehr Punkte gewinnen kann, als mit einer Konzentration auf die Spitze.

In China soll man eine besonders kreative “Lösung” gefunden haben: Leistungsschwachen Schülern würde nahelegt, sich an den Prüfungstagen krank zu melden. Das kommt dann dem Endergebnis zugute. In diesem Sinne: Es lebe die “Exzellenz”, es leben die “objektiven” Messungen!

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Schneuwly, Gabriel (2016): Unterrichtsentwicklung. In: Hansueli Hofmann, Priska Hellmüller und Ueli Hostettler (Hg.): Eine Schule leiten. Grundlagen und Praxis. Bern: hep verlag ag, S. 85–101.

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