Carl Bossard - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 28 Sep 2023 10:42:15 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Carl Bossard - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wenn private Lernstudios boomen https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/ https://condorcet.ch/2023/09/wenn-private-lernstudios-boomen/#comments Tue, 26 Sep 2023 08:17:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=15029

Die Bildungspolitik will es nicht wahrhaben: Die öffentliche Schule hat sich zu viel zugemutet. Für manche Kinder kommt sie ihrer ureigenen Aufgabe nicht nach; sie wird ihnen schlicht nicht gerecht. Die Folge: Private springen in die Lücke. Das gefährdet die Chancengleichheit, schreibt Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Die Stimmen häufen sich: Lehrerinnen und Lehrer wie Eltern klagen über den aktuellen Zustand der Volksschule. Wie und wo der Schuh drückt – und zwar intensiv –, das zeigte sich bei einem öffentlichen Podium «Lehrerinnen- und Lehrermangel» in Schwyz.[1] Das Interesse war gross und die Debatte intensiv. In der engagierten Diskussion fielen deutliche und klare Voten: zu wenig Zeit für die elementaren Basisfächer Deutsch und Rechnen, kaum mehr Raum zum Üben und Korrigieren, zu viel Unruhe im Schulzimmer als Folge der verstärkten Integration.[2] Dazu kommen zeitraubende Koordinationsaufgaben für die Zusatzkräfte im Unterricht und viel zu viel Bürokratie wegen der vielen Vorgaben und Vorschriften. Ob Schwyz überall ist, lässt sich nicht sagen. Aber eines wurde deutlich: Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig: Sie entgrenzt sich inhaltlich. Der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer drückt es so aus: «Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.»[3] Und die Menetekel mehren sich.

Carl Bossard,ehem. Direktor der PH-Innerschweiz: Die Schule hat sich zuviel zugemutet.

Boomende private Lerninstitute

Wer als Eltern diesen Risiken ausweichen will, sucht für seine Kinder heute nicht selten einen externen Lerncoach. Aufgabenhilfe und Zusatzunterricht boomen – vor allem in den städtischen Gebieten.[4] Auch in ländlichen Regionen wachsen die Angebote, zeitlich allerdings etwas verzögert. Das Lern- und Coachingcenter «fit4school» beispielsweise bietet schulergänzende Lernunterstützung und Nachhilfe an 27 Orten der Schweiz an. Die Nachfrage ist gross. In der Stadt Bern verdoppelten sich die Anmeldezahlen seit dem Start im April dieses Jahres im Monatstakt.

Warum dieser Boom? Lernforscherinnen und Bildungsfachleute diagnostizieren, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Hier liegt mit ein Grund für diesen exponentiellen Anstieg schulexterner Anbieter. Und noch etwas zeigt sich: Wenn Schülerinnen und Schüler diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter. Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht.

Die Chancengleichheit ist gefährdet

Diese Zahlen sind öffentlich: Doch niemand aus der Bildungspolitik und der Bildungsverwaltung hält dagegen. So etwas verwundert und ärgert zugleich. Das verstösst gegen ein elementares Prinzip unserer Gesellschaft: die Chancengleichheit! Hier liegt das Problem. Es ist ein systemisches Problem. Eine solche Situation dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Fakten aber sprechen eine andere Sprache.

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache».

Die Schule hat sich inhaltlich entgrenzt

Manches ist dazu gekommen – weggenommen wurde kaum etwas. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab; beides aber braucht es fürs Verstehen einer «Sache». Viele Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Fürs notwendige Üben und Automatisieren bleibt kaum Zeit. Unfertiges wird so zum Dauerzustand.

Mit andern Worten: Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Das wissen wir aus der Forschung. Das Viele reduziert die systematische Übungszeit. Um etwas ins Langzeitgedächtnis zu bringen und zu automatisieren, braucht der Mensch sechs bis acht Wiederholungen. Der Moment des Vergessens beginnt im Moment des Merkens. Wiederholen, Vertiefen und Anwenden sind für einen lernwirksamen Unterricht unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies, kohärentes Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren. Diese Zeit fehlt oft.

Eltern wollen nicht als Bildungsverlierer dastehen

Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig und das Erarbeitete bleibt an der Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste sind in erster Linie Zukunftsängste.[5] Darum erwarten sie für ihr Kind eine solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.

Das trägt mit zum Boom privater Lerninstitute bei. Gratis sind diese Zusatzkurse und Nachhilfestunden nicht. Eltern greifen zum Teil tief in die Taschen. Doch dieses Zusätzliche können sich nicht alle leisten. Das widerspricht der Idee der gemeinsamen Volksschule und gefährdet die Chancengleichheit nicht nur unter Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter den verschiedenen Familien.

Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.

Private Bildung als lukratives Geschäftsmodell

Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig bleiben. Nur das verhindert den leisen Exodus von Kindern in die Privatschule und den weiteren Anstieg schulexterner Lernhilfen. Not tut eine Rückkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen, eine Besinnung auf den Kernauftrag der Schule. Dazu zählt eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre des Lernens, dazu gehört intensives Üben, das setzt eine systematisch genutzte Lernzeit voraus – alles Kennzeichen einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit. Mit genau diesen Attributen aber werben private Anbieter. Und sie stossen bei vielen Eltern auf offene Ohren. Private Bildung wird heute zu einem interessanten Investitionsfeld und darum auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell.

Die Signale ernst nehmen

Bildungspolitik und Bildungsverwaltung stehen in der Pflicht. Lange, allzu lange haben sie über die Sorgen und Nöte der Lehrpersonen im pädagogischen Alltag hinweggesehen. Boomende Lerninstitute sind ein deutliches Warnsignal. Das Portemonnaie darf nicht über die Bildung der Kinder entscheiden. Zu hoffen ist, dass die Bildungskarawane nicht einfach weiterzieht und die Stimmen der Basis negiert. Leidtragende sind die Kinder.

 

[1] «Der Zustand der Volksschule wurde stark kritisiert», in: Bote der Urschweiz, 08.09.2023, S. 8.

[2] Vgl. den aufrüttelnden Bericht: https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/integrative-schule—lehrpersonen-stossen-an-ihre-grenzen?urn=urn:srf:video:5c09dab8-dbfa-4ca4-ad94-23406ab704e4

[3] Sebastian Briellmann, Conradin Cramer zur integrativen Schule: «Wir müssen handeln. Und zwar schnell», in: Basler Zeitung, 19.09.2023

[4] Mirjam Comtesse, Überforderte Jugendliche. Eltern schicken ihre Kids zum Lerncoach, in: Berner Zeitung, 20.09.2023.

[5] Heinz Bude (2011), Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Carl Hanser Verlag, S. 97.

 

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Unterrichten ist Segeln, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2023/08/unterrichten-ist-segeln-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2023/08/unterrichten-ist-segeln-nicht-bahnfahren/#comments Tue, 15 Aug 2023 20:13:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=14818

Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet Horizonte. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen agieren vielfach unter Bedingungen der Unsicherheit. Dabei tragen sie eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Tausende von Schülerinnen und Schülern starten diese Tage in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Lehrerinnen und Ausbildnern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start. Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne, wie es Hermann Hesse im Gedicht “Stufen” formuliert. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Aufbrechen zu neuen Horizonten

Lernen heisst immer auch aufbrechen und sich einlassen auf Neues, Unbekanntes. Es gleicht einer Entdeckungsreise: den geschützten Hafen verlassen und hinaussegeln in ein neues Schuljahr. Lernen bedeutet sich aufmachen, heisst die feste Mole verlassen und sich auch ins Unbekannte wagen.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Mit Kindern und Jugendlichen unterwegs sein ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich.

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht.

Jede Pädagogin kennt die Spannung zwischen dem Machbaren und dem Unsicheren. Jeder Ausbildner weiss um den Widerspruch zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit der Route; er ist sich der Diskrepanz zwischen dem theoretisch anvisierten Ziel und der immanenten Unsicherheit pädagogischen Handelns bewusst. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – im stets gleichen Geleise. Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie bei der Seefahrt lässt sich nicht alles planen und unter Kontrolle halten, und doch muss man auf das Auslaufen, auf die Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein und das gemeinsame Ziel à fond kennen.

Freiheit als pädagogisches Elixier

Schulleitung und Lehrpersonen sind weder für Wind und Wellen noch für Sturm und Strömung verantwortlich, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord. Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt für die Schule. Freiheit sei für die Bildung “die erste und unerlässliche Bedingung”, schrieb Wilhelm von Humboldt, Philosoph und Reformer der preussischen Volksschule.[1]

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte.

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen die Kinder und Jugendlichen zur Autonomie führen, zum Vermögen, «sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen», wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat.

Zu viele Regeln wirken als Korsett

Darin aber liegt das Paradoxe: Die vielen Regeln und Reglemente stehen im Widerspruch zur notwendigen Freiheit. Sie bringen Schulen in Atemnot. Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit. Nur schon deshalb muss die Schule ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum fürs Unvorhersehbare.

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar prognostizierbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorgaben; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich berührt, können wir nicht über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt!

Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die See wogt, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Fahrt hinaus ins Offene die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart, S. 22.

 

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Geschichtsunterricht in der Krise https://condorcet.ch/2023/08/geschichtsunterricht-in-der-krise/ https://condorcet.ch/2023/08/geschichtsunterricht-in-der-krise/#comments Sun, 13 Aug 2023 09:27:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=14806

Als eigenes Fach erschien Geschichte den Schulreformern unwesentlich. Die Bildungspolitik schaffte es ab. Die Folgen sind spürbar: Der historische Wissensstand ist rudimentär. Gedanken zu einem staatspolitisch gefährlichen Irrweg – im Nachgang zum ersten August, formuliert von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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“Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört.” so überschrieb die SonntagsZeitung einen Bericht zum Geschichtsunterricht an Zürcher Sekundarschulen. Der Befund erschüttert. Viele Jugendlichen hätten keine Ahnung von 1291 und wüssten kaum, warum es einen Nationalfeiertag gibt. “Wer glaubt, dass das Wissen über wichtige Ereignisse unserer Geschichte zum Allgemeingut der Volksschulabgängerinnen und -abgänger gehört, täuscht sich gewaltig”, schreibt Christoph Ziegler, Sekundarlehrer und ehemaliger Präsident der Bildungskommission im Zürcher Kantonsrat.[1] Und er fügt bei: “Die Wissenslücken sind zum Teil riesig. Daran sind nicht die Jugendlichen schuld. Der Grund liegt woanders: Der Geschichtsunterricht wurde in vielen Schulen an den Rand gedrängt.”

Geschichtsunterricht wurde systematisch abgewertet

Zieglers Mahnruf überrascht nicht. Der Lehrplan 21 liess Geschichte als eigenständiges Fach vollständig fallen. In der Primarschule mäandriert Geschichte als nebulöser Schwarm im Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» (MNG) – mit unzusammenhängenden Einzelteilen: ein bisschen Pfahlbauer, ein wenig Römer, eine Dosis Rittertum. Keine Übersicht, kein verbindendes Zusammenhangswissen, keine Strukturen, nicht einmal auf der temporalen Ebene, der Zeitachse. Die Bildungspolitik hat Geschichte systematisch abgewertet.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Auf der Sekundarstufe wurde das Fach Geschichte Teil von «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) – zusammen mit Geografie. Definiert sind Grundansprüche. Unter dem Bereich «Lebensraum Europa» stehen beispielsweise in der ersten Sekundarklasse eine Vielzahl von hochtrabenden Kompetenzen wie: «Ich kann eine thematische Karte zur Bevölkerungsbewegung in Frankreich auswerten.» Die Kompetenzen müssten abgearbeitet werden, doch sie lassen Geschichte nur noch zerstückelt in einzelne Fragmente erkennen. Ihr Stellenwert ist nicht vorgeschrieben. Sie liegen im persönlichen Ermessen der Lehrerin, sind dem beliebigen Gutdünken des Lehrers überlassen. Fürs Fach Geschichte generieren diese Konstrukte kaum neue Perspektiven. Viele Junglehrer fühlen sich im Kompetenzen-Wirrwarr völlig verloren. Es fehlt ein klares Unterrichtsprofil.

Wenn der Kohärenzkitt verloren geht

Das hat Folgen. Es erstaunt darum nicht, dass sich der gesamte Geschichtsunterricht einer dreijährigen Sekundarschule auf zwei Leuchtturmtage beschränkt: Napoleon und Holocaust. Seit Jahren verweisen Praktiker auf das Malaise im Fach Geschichte. Die Bildungsverantwortlichen müssten längst Gegensteuer gegeben – auch aus demokratiepolitischen Gründen. Geschehen ist nichts. Kaum jemand ist überrascht, wenn Peter Gautschi, Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, konstatiert: “Der Geschichtsunterricht ist in der Krise. Er wurde zurückgedrängt. […] Für die Schweiz als Willensnation ist das verheerend – denn die gemeinsame Geschichte ist der Kitt, der unser Land zusammenhält.“[2] 

Geschichte muss als Geschichte präsent sein

Die Geschichtskenntnisse schrumpfen. Das war absehbar. Sobald eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet, verschwindet auch der Inhalt. Bei Kindern und Jugendlichen sowieso: “Wenn Geschichte nicht als Geschichte in Erscheinung tritt, ist sie in ihren Köpfen nicht vorhanden”, meint eine Geschichtsdidaktikerin. “Der Begriff ‚Geschichte‘ weist programmatisch auf das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft hin, auf ihren Umgang mit der Zeitlichkeit, auf ihre Art der Reflexion und Analyse des Vergangenen”, kritisiert der Historiker Lucas Burkart. Mit dem Fachbereichsnamen “Räume, Zeiten, Gesellschaften” gehe das verloren, fügt er an.

“Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.”

Prof. Franz E. Weinert, Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft

 

Vor solchen Sammelfächern, wie sie die Schweizer Volksschule nun kennt, warnte auch der renommierte Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Franz E. Weinert: “Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.” Pikanterweise berufen sich die Gestalter des Lehrplans 21 immer wieder auf Weinert. Als Ausnahme nannte der Lernpsychologe Weinert den Projektunterricht; reale Phänomene oder Probleme unserer Welt bilden hier den Ausgangspunkt.

Geschichte als Kompass in einer komplexen Welt

Die Zivilisationsdynamik ist ungebremst. Gerade darum brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind, und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Historisches Denken ist die Basis.

Anders gesagt: Je schneller sich die Gesellschaft verändert, desto wichtiger wird das Wissen um die eigene Geschichte – und das Bewusstsein: “Da kommen wir her.” Wenn wir diese Dimension völlig verlieren, verlieren wir die Vertikale. Wenn wir uns ganz in die Horizontale begeben und uns nur noch auf die Gegenwart beziehen, dann verlieren wir das Verhältnis zur Geschichte und damit die Orientierung – und ohne Orientierung keine Grundwerte des Zusammenhaltes, keine Vorstellungen zur Raison d’Être der Schweiz. Schule vermittelt den Blick zurück; doch er zielt immer auch nach vorne. Zukunft braucht eben Herkunft, um Odo Marquards vielzitiertes Wort zu nennen.[3]

1848: Beginn der modernen Schweiz

Darum ist Geschichte als Bildungselement so wichtig. Das Fach erzählt spannende Geschichten. Menschen brauchen gute Geschichten. Sie wecken Interesse und schärfen die Wahrnehmung für neue Zeitdimensionen, gerade bei Jugendlichen. Sie führen zu Phänomenen wie zum Beispiel zur Französischen und Helvetischen Revolution von 1789 bzw. 1798 oder zur Bildung des Bundesstaates von 1848 – vor 175 Jahren. Nicht als isolierte Ereignisse, nicht als zusammenhangloser Haufen, nicht als begriffsloses Nebeneinander. Weder einfach Jahreszahlen noch Fakten, auswendig gelernt und mechanisch reproduziert. Nein. Jedes Geschehen steht in einem grösseren Zusammenhang mit der Gegenwart.

“Alle Geschichte ist Geschichte der Gegenwart, weil Vergangenes als Vergangenes gar nicht erfahren werden kann, sondern nur als aus der Vergangenheit Gegenwärtiges.”

Herbert Lüthy, Schweizer Historiker

 

Das zeigt beispielsweise die Zeit zwischen 1798 und 1848 – eine der spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Auch für junge Menschen. Es ist der Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft. Die Zeitspanne beinhaltet den kräftigen Konflikt zwischen zentralem Einheitsstaat und lockerem Staatenbund, den Streit zwischen dem französisch-napoleonischen Zentralismus – symbolisiert im Apfel – und dem alteidgenössischen Föderalismus – in Gestalt der Traube.

Der Bundesstaat von 1848 bringt den Kompromiss – nach einen langen Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft in der Zeit zwischen 1798 und 1848.

Der fünfzigjährige Kampf zwischen Apfel und Traube, zwischen dem Einheitsstaat und der alten föderalen Struktur ist intensiv. Es kommt zu Sonderbünden. Es gibt Krieg; es fliesst Blut. Fast bricht die Schweiz auseinander. Der Bundesstaat von 1848 bringt den Kompromiss – in Form der Orange: Die Haut symbolisiert den Bund, die Schnitze stehen für die Kantone. Konkret: Die Schweiz, ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten oder eben Kantonen, dies dank einer föderativen Staatsstruktur. Aus dem alten Staatenbund wird über den helvetischen Zentralstaat von 1798 der heutige Bundesstaat von 1848. 175 Jahre sind es her.

Die Parallele zur Gegenwart ist evident – und damit das Postulat des scharfsinnigen Schweizer Historikers Herbert Lüthy: “Alle Geschichte ist Geschichte der Gegenwart, weil Vergangenes als Vergangenes gar nicht erfahren werden kann, sondern nur als aus der Vergangenheit Gegenwärtiges.“[4]

Der Zusammenhang als Türöffner

Erst wenn wir die Dinge im Kontext erkennen, gehen uns historische Welten auf. Das Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen bildet die Sensibilität für zeitliche Dimensionen und Entwicklungsprozesse, fürs Gewordene und Gegenwärtige. Zusammenhänge ermöglichen ein ausgreifendes Verständnis der Geschichte. Der Kontext wird zum Türöffner in die Zukunft. Nicht umsonst prägte der Philosoph Hans Blumenberg vor vielen Jahren den Ausdruck, Bildung sei kein “Arsenal”, sondern ein “Horizont”. Nicht Daten und Fakten, sondern Orientierung. Bildung als Orientierungsfähigkeit in geistigen und historischen Welten.[5]

Das kommt nicht von selbst. Jede Einsicht von Bedeutung – auch eine geschichtliche – will gedanklich erarbeitet sein. In der Vertikale. Das erspart uns keine Datenmaschine, dazu führen keine Algorithmen. Auch in Zukunft nicht. Und das Schulfach Geschichte ist eine Art Grundversicherung.

Das progressive Land Hessen schaffte das Fach ab und führte es in der Zwischenzeit wieder ein – durch Aktualität eines Besseren belehrt. Auch an den Schweizer Schulen bräuchte das eminent wichtige Fach Geschichte eine Renaissance. Die Berichte aus den Klassenzimmern zeigen es.

 

[1] Nadja Pastega, «Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört», in: SonntagsZeitung, 23.07.2023, S. 4

[2] Dies., «Alle Schüler sollten mal vom Rütlischwur gehört haben», in: SonntagsZeitung, 30.07.2023, S. 3

[3] Odo Marquard (2003), Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit, in: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam Verlag, S.234ff.

[4] Herbert Lüthy (1969), Wozu Geschichte? Zürich: Verlags AG «Die Arche».

[5] Zur «Bildung als historisches Bewusstsein» schrieb der kürzlich verstorbene Philosoph und Romancier Peter Bieri alias Pascal Mercier ein eigenes Kapitel, in: Wie wäre es, gebildet zu sein? München/Grünwald: Verlag Komplett-Media GmbH, S. 15-24.

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Von der «Windstille der Seele» https://condorcet.ch/2023/08/von-der-windstille-der-seele/ https://condorcet.ch/2023/08/von-der-windstille-der-seele/#respond Fri, 11 Aug 2023 10:51:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=14787

Ferienzeit als erholsamer Kontrast zum hektischen Alltag: Viele meiden darum Flugzeug und Auto und ziehen zu Fuss los – wie die Flaneure von einst: gemächlich unterwegs sein und dabei die Seele baumeln lassen. Eine kleine literarische Spurensuche von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Heute muss ja alles schnell gehen. Für vieles haben wir zu wenig Zeit. Im Kleinen und im Grossen, selbst im Pädagogischen. Wir alle erfahren unsere Epoche als dynamisches Gebilde. Tempo, Rasanz, Non-Stopp sind ihre Merkmale. Das bringt uns in Atemnot. «Le temps mange la vie», hat der französische Dichter Charles Baudelaire in einem Gedicht geschrieben. Ein lapidarer Satz. Die Zeit zehrt das Leben auf. Von «Zeitfressern» erzählt auch MOMO, die struppige kleine Heldin im geheimnisvollen Märchen-Roman von Michael Ende.

Carl Bossard: Dem Denken Raum geben.

«Hier stösst die Eile auf Zeit.»

Sich Zeit nehmen für die Zeit. Das leisten sich in den Sommertagen viele; vielleicht leben sie nach der Devise: «Hier stösst die Eile auf Zeit.» Ein wunderbares Motiv! Es leuchtet eingraviert über dem Eingangstürchen einer kleinen, schmucken Bergkapelle. Die Botschaft: An diesem stillen Ort in den Alpen triff die Hektik auf das Verweilen, der Druck auf das Entschleunigen.

Vielleicht ist es eine Art «Windstille der Seele». Davon hat der Philosoph Friedrich Nietzsche gesprochen – droben in Sils-Maria. Auf seinen ausgedehnten Spaziergängen im Oberengadin fand und empfand er diese «Windstille der Seele». Zu Fuss hält eben auch die Seele Schritt. So erstaunt es nicht, dass Nietzsche das Gehen mit dem Denken und dem Kreativen verband. Viele seiner Ideen und seiner aphoristisch verdichteten Gedanken kamen ihm beim Gehen am Engadiner Silsersee. Migrantes Denken sozusagen – im Anklang an die griechischen Peripatetiker. Darum sein Rat: «So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.»[i]

 

Friedrich Nietzsche: Zu Fuss hält eben auch die Seele Schritt.

«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen»

Gleichzeitig erinnert Nietzsche an den Komponisten Ludwig von Beethoven; «[er] componierte gehend. Alle genialen Augenblicke sind von einem Überschluss an Muskelkraft begleitet», schreibt er. Darum sein bedenkenwerter Nachsatz: «Oh wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig!» Und Nietzsches Fazit: «Das geklemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verräth.»[ii]

 

«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen», soll Jean-Jacques Rousseau gesagt haben. Der Kopf braucht Bodenkontakt; den bekommt er durch die Füsse. Vielleicht erfahren wir darum die Welt intensiver, wenn wir das Geistige mit den Sinnen durchdringen. Wenn wir die Natur ergehen. Gehen war schon immer mit Erforschen, Erfahren, Erkunden verbunden. Neue Perspektiven, veränderte Weltsichten.

Dem Denken Raum geben und Raum für Gedanken finden – als Ergebnis vergnügter Langsamkeit.

Dem Denken Raum geben

Wer in Goethes Berichten über seine drei Schweizer Reisen liest, ist erstaunt, wie viele Einsichten Goethe in dieser kurzen Zeit gewonnen hat, wie viele Sichten er wahrgenommen, was er in sich aufgenommen und nach Stunden aufgeschrieben oder diktiert hat. Er hat unser Land im wahrsten Sinne des Wortes «ergangen». Seine Gedanken sind darum Ge[h]danken.

Dazu brauchte Goethe eines: Dem Denken Raum geben und Raum für Gedanken finden – als Ergebnis vergnügter Langsamkeit. Später hat er dann er mit der Industrialisierung die «veloziferische – die teuflische – Beschleunigung» erlebt und in den «Wahlverwandtschaften» dagegen angeschrieben. Vielleicht ahnte Goethe, dass mit der beginnenden Zivilisationsdynamik auch die Zeit gefährdet war.

Joseph von Eichendorff: Sie waren unterwegs und konnten ihre Seele baumeln lassen.

«Unterwegssein ist alles.»

Zeit, das hatten die Flaneure der Romantik, beschrieben in der berühmten Novelle «Aus dem Leben eines Taugenichts» von Joseph von Eichendorff. Sie hatten Musse, die Flaneure, die faulen Burschen der Volkslieder, die Vagabunden, die gemächlich und gemütlich von einer Mühle zu andern zogen und unter freiem Himmel schliefen. Ihr Motto: nicht rennen, sondern flanieren – nicht sputen, lieber spazieren – nicht hetzen, vielmehr bummeln. Sie waren unterwegs und konnten ihre Seele baumeln lassen.

«Paris ist nichts, Basel ist nichts, Unterwegssein ist alles!» So sah es auch Arnold Kübler, Gründer des Kulturmagazins DU, im Buch «Paris – Bâle à pied». Das Unterwegssein als Metapher fürs Leben, die Pilgerreise als Bild für den Homo Viator. Nicht im Ankommen liege das Glück, nein, im Aufbrechen, rubrizierte der kluge Kolumnist Kübler, im Weiterziehen und Unterwegssein.

«Ich habe Zeit!»

Wer unterwegs ist, hat Zeit – vielleicht sogar in Fülle. Oder er nimmt sich mindestens Zeit. Darum sei dies auch der Gruss der Philosophen: «Lass dir Zeit!» So postulierte es Ludwig Wittgenstein. Und vielleicht gilt darum – mindestens – für die Sommertage der Leitgedanke: «Ich habe Zeit!» Möglicherweise liegt darin auch der Sinn von Karl Valentins tiefgründigem Bonmot: «Heut b’suëch i mi! Hoffentlich bin i z’Haus!»

 

[i] Friedrich Nietzsche (2000), Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 47.

[ii] Ebda.

 

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Ein Palast für die Bildung https://condorcet.ch/2023/07/ein-palast-fuer-die-bildung/ https://condorcet.ch/2023/07/ein-palast-fuer-die-bildung/#respond Thu, 13 Jul 2023 13:42:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=14549

Wer ein Auge für Schweizer Schulhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat, staunt über die architektonische Pracht dieser Bauten. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie signalisieren Aufbruch und Fortschritt. Ein Blick in die damalige Kleinstadt Zug von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein haben es Schule und Unterricht schwer: Einen regelmässigen Schulbesuch gibt es nicht. In einer bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft besitzt Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger. Die Bevölkerung ist arm, das Leben vieler kärglich, der Unterricht darum schmal. Man braucht die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik von 1800 postuliert und der liberale Bundesstaat von 1848 vorsieht, ist darum schwierig zu konkretisieren.

Von der schmalen Schulstube zum majestätischen Bildungstempel

Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen: Die neue BV verordnet die allgemeine Schulpflicht. Der Primarunterricht wird für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Der Weg dahin aber ist steil und steinig. Bildung muss mühsam aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreit und zeitgerecht institutionalisiert werden. Doch es geht vorwärts.

Das Burgbachschulhaus in der Stadt Zug von 1875 (Bild: Stadtarchiv Zug)

Die Bildungsexpansion nach 1850 ruft nach Raum. Die Stadt Zug beispielsweise errichtet auf den Kellergewölben des alten Spittels ein repräsentatives Schulgebäude – aus Natursandstein und gehalten ganz im Stil der zeitgenössischen Neugotik: das Burgbachschulhaus. Der Bau wird 1875 eingeweiht und zum zentralen Schulhaus der Stadt Zug – allerdings nur für Knaben.[1] Die oft stickige Enge des Zimmers weicht nun der Weite eines Gebäudes. Der Wechsel aus der muffig-maroden Schulstube früherer Zeiten ins geräumig-grosse Burgbach-Schulhaus gleicht einem Siebenmeilenschritt. Es umfasst sechs luftige und helle Unterrichtsräume, dazu einen Musiksaal und auch Fachräume. Das Neue wird fassbar und konkret.

Die Schulhausuhr signalisiert eine neue Epoche

Jede Gemeinde baut ihr Schulhaus, oft mit klassizistischen Säulen, meist mit klar gegliederter Fassade, weiten Fenstern und einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder steigen nun zur Bildung empor – und durchschreiten für den Unterricht die grosse Eingangspforte. Symbol und Auftrag zugleich. Auch beim Burgbachschulhaus.

Eindrücklich kommt das beim imposanten Stadtzuger Neustadtschulhaus (heute Musikschule) zum Ausdruck: die breite Stiege und die markante Türe mit dem Rundbogen und den allegorischen Figuren. Sie steht auch Mädchen offen – allerdings erst nach hartem politischem Ringen.

Das Stadtzuger Neustadtschulhaus von 1909 mit dem Aufgang und Eingang zur Bildung (Foto: Stadt Zug/zVg)

Neben der Kirche erhält vielfach auch das Schulhaus eine Uhr. Sie signalisiert die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens. 

Ein neoklassizistischer Schulpalast

Wer die beiden Stadtzuger Schulhäuser betrachtet, wundert sich über die architektonische Eleganz dieser Bauten. Beide weisen Residenzcharakter auf. Sie gelten – wie viele Schulhäuser aus dieser Zeit – als Tempel des bildungspolitischen Aufbruchs und Fortschritts. Der Bau signalisiert die neue Ära: Das Land realisiert ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was bereits die Helvetische Republik (1798–1803) unter ihrem Bildungsminister Philipp Albert Stapfer erreichen wollte: eine umfassende und für alle Kinder obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.

1870 entsteht etwas ausserhalb der Stadt Zug eine private Knabenschule. Errichtet wird ein eindrücklicher Schulpalast im neoklassizistischen Stil. Dazu gehört auch eine Turnhalle – die erste im Kanton Zug; dazu zählen Spielplätze, eine Allee und ein weiter Park mit Springbrunnen, Grotten und einem Weiher. Das Areal reicht bis zum See. Die Gotthardbahn existiert noch nicht. Erst 1897 durchschneiden ihre Geleise die weitläufige Grünfläche dieser herrschaftlichen Schulanlage.

«Minerva» bei Zug, Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt für Knaben – um 1880 (Bild: Stadtarchiv Zug)

Zeitzeuge und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge

Die Schule trägt den Namen Minerva, nach der römischen Göttin der Weisheit. 1906 entsteht auf dem Campus ein privates «Mädchengymnasium und eine internationale höhere Töchterschule»; Namensträgerin wird Athene, die griechische Göttin der Wissenschaft. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss die Schule schliessen.

1920 zieht die Kantonsschule Zug ins imposante Schulgebäude der Athene ein – mit rund 100 Schülern und einigen wenigen Schülerinnen. Der Name Athene ist Programm und Auftrag: humanistische Bildung, orientiert an der griechisch-​römischen Klassik – für unzählige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. 50 Jahre später zählt die Schule über 700 Personen. Das Bauwerk ist zu klein geworden. 1975 zieht das Zuger Gymnasium an einen neuen Standort – nach einem rauschenden Abschiedsfest und einer «wilden Nacht mit Athene».[2]

Der alte Schulpalast von 1870 soll einem Neubau weichen. Doch eine Volksinitiative rettet diesen Zeitzeugen und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge vor dem Abriss. Das Gebäude wird sorgfältig renoviert.[3] Heute beherbergt die Athene die kantonale Fachmittelschule FMS und die Berufsvorbereitungsschule BVS.

Bildung als Bergaufprozess

Das «Volk im Zwilch», die einfachen Leute, aus seiner Not herausführen und emporführen – und es dem «Volk in Seide» über Bildung gleichstellen, das ist Johann Heinrich Pestalozzis Idee, davon träumen die Repräsentanten der Helvetik, das realisiert der neue Bundesstaat von 1848. Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, lernen und sich bilden ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – das weiss die Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus symbolisiert es. Keine Spur von der aktuellen Leichtigkeitsillusion! Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den Aufstieg zur Bildung.

Die repräsentativen Schulgebäude von damals zeigen zugleich, welche eindrückliche Form man der Formatio, der Bildung, gegeben hat: Der Weg führte aus der engen, stickigen Schulstube hinaus zum majestätischen Bildungstempel. Bildung als Befreiung. Ganz im Sinne des Philosophen Immanuel Kant. Das erstaunt nicht. Die frühen Promotoren einer besseren Bildung waren vielfach am Denker aus Königsberg geschult. Das galt für Stapfer wie für Pestalozzi.

 

[1] Die Mädchen gehen weiterhin zu den Lehrschwestern von Maria Opferung oberhalb der Stadt Zug zur Schule.

[2] Andreas Grosz, ATHENE oder: Aus der Schule plaudern, in: NZZ, 25./26.02.1989, S. 86-88

[3] Renato Morosoli, Göttin am Zugersee, in: Personalziitig 86/2018, S. 14f.

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Kinder brauchen Erwachsene https://condorcet.ch/2023/06/kinder-brauchen-erwachsene/ https://condorcet.ch/2023/06/kinder-brauchen-erwachsene/#comments Thu, 29 Jun 2023 04:44:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=14391

Eine neue Sicht deutet pädagogisches Denken und Handeln primär vom Lernenden her. Das ist sicher förderlich. Nur marginalisiert dieser Kulturwandel in den Schulen das Bedeutsame der Lehrerin und degradiert den Lehrer zum Lernbegleiter. Ein kritisches Gegenhalten von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Kinder brauchen Erwachsene

die ihnen zeigen

wie das gehen könnte

dieses Spiel

ein Mensch zu werden

 

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

So schreibt der Schriftsteller Lukas Bärfuss, wenn er von seiner Schulzeit erzählt. (1) Weiter bekennt der Träger des Georg-Büchner-Preises freimütig: “Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wenn meine Lehrer ihre Leidenschaften nicht mit mir geteilt hätten”, ihre Begeisterung, ihr Unverständnis, aber auch ihren Ärger, die Angst und das Staunen.

Ansteckende Begeisterung

Diese Lehrer führten Bärfuss zu Gedichten, sie führten ihn zu neuen Sichten, sie führten ihn in andere Welten. Und sie begeisterten ihn für Dinge, die er gar nicht kannte, weil ihn seine Neigung nie dorthin geführt hätte. So beispielsweise ein “Stellvertreter in der siebten Klasse, ein Mann mit Bart, der uns Gedichte vorlas. Nicht etwa, weil sie im Lehrplan standen. Er las uns Gedichte vor, weil der Gedichte liebte. Gedichte waren ihm wichtig, lebenswichtig. Und er teilte im Grunde auch keine Gedichte mit uns. Er teile seine Liebe, er teilte seine Leidenschaft”.(2)

Nochmals Bärfuss: “Und wenn ich mir einige Gedichte merken konnte, ‘Harlem’ von Ingeborg Bachmann oder ‘Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen’ von Rainer Maria Rilke, dann weil ich spürte, wie diese Gedichte unseren Lehrer berührten, und diese Berührung wollte ich auch erleben. Die Begeisterung meines Lehrers weckte meine eigene Begeisterung.”

Wirksame Lernprozesse

Dieses Prinzip habe nicht nur in der Literatur gewirkt, “für die ich vielleicht von Natur aus eine gewisse Prädisposition besass”. Weiter brachte es ihn auch in Fächern, die ihm weniger lagen, die ihm gar zuwider waren, ist Bärfuss überzeugt. Gerade darum aber bräuchten Kinder Lehrer, sie bräuchten Pädagoginnen. Ganz im Sinne des griechischen Wortes: paid-agogein. “Kinder führen”, “hinführen”, “hinanführen”. Führen, nicht betreuen. Anleiten, nicht begleiten.

Wichtig und wirksam sind angeleitete und strukturierte Lernprozesse.

Eine Einsicht, die auch die empirische Unterrichtsforschung bestätigt. Sie belegt es vielfach: Wichtig und wirksam sind angeleitete und strukturierte Lernprozesse. Sie erzielen hohe Effektwerte. Genau das weist die Bildungswissenschaft nach. Darum erstaunt es immer wieder, wie viele Schulreformen und Lehrmethoden jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliesslich vom Lernenden her sehen und damit das Sowohl-als-auch negieren. Sie marginalisieren so das Bedeutsame der Lehrerin und degradieren den Lehrer zum blossen Lernbegleiter. Unter dem propagierten “Shift from Teaching to Learning“ darf er nicht mehr Lehrer sein, sondern nur noch “Guide at the Side”.(3) Die Verantwortung fürs Lernen wird (weg-)delegiert – an das Kind und vermehrt auch an die Maschine.

Asymmetrische Prozesse

Die Tendenz: Die Lehrperson wird “zum Lerncoach, welche die Kinder auf Augenhöhe begleitet”.(4) So formulierte es vor Kurzem ein Stadtluzerner Schulleiter. Und er formulierte es apodiktisch – mit dem Vokabular und Begriffen aus dem Coaching. Allein ist er mit seiner Aussage nicht. Er artikuliert lediglich, was eine aktuelle Didaktik fordert und Pädagogische Hochschulen vielfach lehren: Lehrer dürfen nur noch begleiten, Lehrerinnen sind Coachs auf einer gleichen symmetrischen Ebene wie die Kinder. Die Schülerinnen und Schüler lernen selbstorientiert.

Selbstgesteuertes Lernen kann nicht anfängliche Lernmethode für alle sein.

Wer so argumentiert, vergisst das asymmetrische Verhältnis von Unterricht und Schule – und nicht zuletzt die Bedürfnisse der Lernenden. Er missachtet den Unterschied zwischen Lehrpersonen und Lernenden. Augenhöhe impliziert eben Symmetrie. Respekt und Vertrauen sollen es sein, nicht aber die Lehr- und Lernprozesse. Pädagogische Prozesse sind asymmetrisch; sie sind gekennzeichnet durch Kompetenzdifferenz. Ziel ist die Autonomie, Ziel ist die Symmetrie, aber der Weg dorthin ist asymmetrisch. Und darum kann selbstgesteuertes Lernen nicht anfängliche Lernmethode für alle sein, wohl aber Ziel. Das ist eine anthropologische Konstante. Heute aber werden Ziel und Weg gerne oder vielleicht sogar willentlich verwechselt.

Verantwortung fürs autonome Lernen

Anders gesagt: Lernen, Denken und Problemlösen sind zunächst sozial, also dialogisch oder eben interpersonal. Da ist das kleine Kind, der Jugendliche, der junge Mensch. Ihm gegenüber steht ein kompetenterer Partner – in einem asymmetrischen Verhältnis. Dieses Vis-à-vis lehrt und zeigt vor, es animiert und inspiriert, setzt Ziele, die Lernende selbst nicht haben können, und gibt Feedback. Beide gehen dabei eine Beziehung ein – eine Dyade als Basis des Dialogs, des (Gedanken-)Austausches, des Lehrens und Lernens. Ganz allmählich internalisieren die Lernenden den Problemlösemodus. Dieser kognitive Vorgang war ja zunächst sozial unterstützt. Irgendwann interagieren die Kinder geistig mit sich selbst – wie sie es vorher mit einem kompetenteren Gegenüber getan haben. Es ist der Transfer vom Interpersonalen zum Intrapersonalen. Lernende übernehmen Verantwortung für ihr autonomes Lernen, für ihr Denken und Problemlösen.

So einfach und so anspruchsvoll ist der pädagogische Beruf.

Die Verantwortung fürs eigene Lernen kommt nicht bei allen Kindern und Jugendlichen von selbst. Und sie kommt nicht bei allen gleich schnell. Genau darum müssen Lehrpersonen Verantwortung übernehmen, um sie dann mittelfristig in die Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler zu übergeben. Wer diese Verantwortung scheut, sollte keine Lehrerin werden dürfen, sollte nicht Lehrer werden. Wer sie übernimmt, steht in der Pflicht, bis die Jugendlichen für sich selbst die Verantwortung übernehmen können. So einfach und so anspruchsvoll ist der pädagogische Beruf.

“Was ich […] nötig hatte, das waren Lehrer.” (5) Davon ist Lukas Bärfuss mit Blick auf seine eigene Schulzeit zutiefst überzeugt. Von einem Lerncoach spricht er nicht.

 

(1) Lukas Bärfuss (2015), Stil und Moral. Essays. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 161.

(2) Ebda, S. 152f. [Zeichensetzung angepasst]

(3) Ewald Terhart (2018): Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.

(4) Christian Glaus, Schule ohne Noten – so geht’s, in: CH Media, 14.06.2023, S. 25.

(5) Bärfuss, a.a.O., S. 152.

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Humane Energie kommt aus Freiheit https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/ https://condorcet.ch/2023/06/humane-energie-kommt-aus-freiheit-2/#comments Sat, 24 Jun 2023 07:09:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=14363

Viele Schulreformen kommen in guter Absicht. Nur fragen sie kaum: «Was bedeutet das für die Klasse, für die Lehrperson, für das Gesamte?» Genau das aber fragt Björn Bestgen in seinem bildungspolitischen Weckruf «Wenn jetzt nichts geschieht, geht die Volksschule kaputt». Publiziert hat ihn die «Schweiz am Wochenende» vom 03. Juni 2023 (S. 10-11). Condorcet-Autor Carl Bossard kommentiert in der CH Media vom 13. Juni das aufrüttelnde Interview – dies unter dem Stichwort: Wenn Überkomplexität das Entscheidende der Schulbildung erschwert.

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Börn Bestgen, Schulleiter: «Wenn wir jetzt nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt.

Börn Bestgen ist Schulleiter und kennt die Nöte des pädagogischen Parterres hautnah. Der Praktiker redet Klartext. In seiner nüchternen Analyse fragt er nach den Folgen der vielen Reformen. Sein Fazit: «Unser System ist am Anschlag angelangt.» Wir sind überfordert und gefährden unsere Volksschule. Er verlangt von der Bildungspolitik nur eines: «Weniger ist mehr. Qualität statt Quantität. Wir müssen uns auf das Wesentliche einigen. Das nimmt Druck weg und verbessert die Qualität.»

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Mit dem Umbau erfolgte ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus

Bestgen weiss, wovon er spricht. Seit über 40 Jahren steht er in der Schule. Diese Schule sah sich in letzter Zeit einem Feuerwerk an Reformen gegenübergestellt. Die umfangreichen Innovationen wurden meist von oben verordnet, oft gar gegen die langjährige Erfahrung der Praktiker und gegen wissenschaftlich erhärtete Befunde. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Die Stichworte heissen: früher Fremdsprachenunterricht, Integration und Inklusion, selbst- und kompetenzorientiertes Lernen, Qualitätsmanagement und Lehrplan 21 «mit seiner gnadenlosen Überforderung aller Beteiligten», so Bestgen wörtlich. Es sind unzählige Teilprojekte. Kaum jemand hat den Überblick. Die Schule wurde nicht nur radikal umgebaut; mit diesem Umbau erfolgte auch ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus. Die Schuladministration nahm zu; die Bildungsbürokratie wuchs und entfernte sich von der Praxis. Die Institution Schule ist zum Verwaltungsapparat geworden. Auch darauf verweist Bestgen: «Da wird in einem Verwaltungsbüro irgendetwas entschieden, ohne dass man dort die Realität kennt.» Von den Stäben fühlt er sich darum nicht ernst genommen.

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden.

Mit der Zunahme der Bürokratie nahmen auch die Vorschriften zu. Jede Reform brachte neue Vorgaben, erzeugte zusätzliche Dekrete und Direktiven, produzierte Papier und beanspruchte Berichte. Das alles engt den pädagogisch notwendigen Freiraum ein. Das Verantwortlich-Sein für die komplexen Lernprozesse der Kinder und Jugendlichen aber braucht Freiheit. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus Reglementen. Darum sagt Bestgen dezidiert: «Wir sollten die Lehrpersonen administrativ entlasten. Die klagen ja nie über die Kinder, sondern über das Drumherum. Das führt zur Überforderung.»

Nicht an kleinen Stellschrauben drehen

Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt ihre beabsichtige Wirkung gar um. Die Überkomplexität des Bildungssystems aufs Wesentliche und Grundlegende zu reduzieren, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten.

Bestgen, der Praktiker aus dem pulsierenden Schulparterre, fordert darum ein «gemeinsames Commitment der Bildung». Ob man aber seinen Mahnruf in der erfahrungsverdünnten Luft der Dachterrassen hört? Wieder ein Rufer in der Wüste? Vielleicht winkt darum Friedrich Dürrenmatt aus dem Grab: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Die Geschichte um die Folgen der Bildungsreformen ist noch nicht zu Ende. Leider.

An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht.

 

 

 

 

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Es fehlt nicht an Lehrpersonen. Es fehlt an Lehrpersonen, die länger in ihrem Beruf bleiben wollen https://condorcet.ch/2023/06/es-fehlt-nicht-an-lehrpersonen-es-fehlt-an-lehrpersonen-die-laenger-in-ihrem-beruf-bleiben-wollen/ https://condorcet.ch/2023/06/es-fehlt-nicht-an-lehrpersonen-es-fehlt-an-lehrpersonen-die-laenger-in-ihrem-beruf-bleiben-wollen/#comments Wed, 14 Jun 2023 11:54:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=14274

Die Schulen suchen nach wie vor qualifizierte Lehrpersonen, obwohl eigentlich genügend von ihnen ausgebildet werden. Doch viele wandern ab oder reduzieren ihr Pensum. Condorcet-Autor Carl Bossard wirft den Bildungsverantwortlichen vor, die Lehrpläne zu überfrachten und den Unterricht zu bürokratisieren.

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«Robinson Crusoe» von Daniel Defoe zählte in den Jugendjahren zu meiner Lieblingslektüre. Wie habe ich mit dem Schiffbrüchigen mitgezittert! Im Sturm läuft sein Boot auf Grund; Robinson rettet sich an Land. Dann kontrolliert er das Wrack und verschafft sich einen Überblick, macht Inventur und analysiert die Lage. Zielgerichtet geht er ans Werk.

Wer die derzeitige Bildungssituation betrachtet, spürt: Auch in der Bildung sind wir da und dort auf Grund gelaufen, sind wegen Überbürokratisierung manövrierunfähig geworden, vergassen in der stürmischen Reformflut den Kompass und verloren vielfach die Zielkoordinaten aus den Augen. Wir haben das Bildungsboot inhaltlich weit überladen. Viele Lehrkräfte fliehen darum von Bord oder ziehen sich in Teilaufträge zurück. Die NZZ spricht vom «Notfall» Klassenzimmer. Wie bei Robinson braucht es eine ungeschönte Lageanalyse.

Humane Energie fürs Pädagogische resultiert aus Freiheit, nicht aus Direktiven und Dekreten.

Allerdings will kaum jemand die wirklichen Ursachen benennen. Die Kernproblematik bleibt tabu. Die Stäbe in den Bildungsdirektionen flüchten ins Oberflächliche und Unverbindliche. Sie berufen sich auf Pensionierungen, auf Lohnfragen und gestiegene Schülerzahlen. Dabei ist man sich hinter vorgehaltener Hand längst einig, dass die üppige Bürokratie viele Lehrer aus dem Beruf vertreibt. Es ist das, was unter dem Stichwort «Papierkram» daherkommt: Formulare, Berichte, Dokumente. Bildungsverwaltung und Administration wollen Schule und Unterricht von oben steuern; sie wollen standardisieren und reglementieren. So sind für Elterngespräche achtseitige Kriterienraster mit 157 Kompetenzen vorgeschrieben. Da heisst es für ein Kind der fünften Klasse beispielsweise: «Kann Problem- und Konfliktlösungen auf unterschiedlichen Ebenen vergleichen, z.B. Innerschweizer Eidgenossenschaft», unterteilt in vier Niveaustufen. Ein solch enges Raster erstickt jeden persönlichen Austausch.

Vorgaben und Vorschriften wachsen und wuchern. Pädagoginnen aber sollten kreativ sein und spontan gestalten können. Das bedingt Freiheit und Freiraum. Humane Energie fürs Pädagogische resultiert aus Freiheit, nicht aus Direktiven und Dekreten. Gute Pädagogik und Bürokratie passen nicht zusammen. Organisation aber kommt heute vor Interaktion: Da wird gemessen und getestet, evaluiert und verglichen, korreliert und prognostiziert wie noch nie. Freude haben höchstens die Beratungsbüros. Dicke Berichte entstehen und neue Erlasse. Viele Lehrpersonen fühlen sich darum gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. «Schule in Ketten», resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre. Doch die Bildungspolitik blickt konsequent weg.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Viele spüren, dass der Lehrplan 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe und der Fülle von Kompetenzen überladen ist. Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das Gesetz der Gegenbuchung! Darunter leiden vor allem der Kernbereich Rechnen und das Grundlagenfach Deutsch mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das macht guten Lehrerinnen und engagierten Pädagogen zu schaffen. Sie hetzten von Thema zu Thema, beklagen manche – ohne die nötige Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne genügend Freiraum fürs Erlebnis und das Musische. Das hat seinen Grund: Die Primarschule hat sich inhaltlich entgrenzt. Gleichzeitig weiss man seit langem um den minimen Wirkeffekt vor allem von Frühfranzösisch. Die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger weist dies nach; sie stellt den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen infrage. Die Bildungspolitik verschliesst die Augen.

Will die Bildungspolitik den Lehrermangel beheben, muss sie sich auf den schulischen Kernauftrag besinnen.

Viele erleben, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum und erschwert den Unterricht. Die Koordinationsabsprachen mit all den Betreuungspersonen sind anspruchsvoll; der administrative Aufwand steigt. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht; oft verkommt er gar zur Nebensache. Viele Lehrpersonen können das nicht verantworten und ziehen die Konsequenzen. Auch hier schauen die Stäbe weg.

Nach dem Kentern seines Schiffes verschaffte sich Robinson Überblick. Er analysierte die Lage und konzentrierte sich aufs Wesentliche. Das gilt auch für die Bildungspolitik. Will sie den Lehrermangel beheben, muss sie sich auf den schulischen Kernauftrag besinnen. Schiffbrüchige sind sonst die Schulkinder.

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Werden wir immer gebildeter? https://condorcet.ch/2023/06/werden-wir-immer-gebildeter/ https://condorcet.ch/2023/06/werden-wir-immer-gebildeter/#comments Tue, 13 Jun 2023 14:14:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=14278

Die Zahl der Diplome nimmt zu, die Hochschulquoten steigen. Da fragt man sich unwillkürlich: Steigt mit der Bildungsexpansion auch die Bildung? Ein Frageblick auf die «Bildungslandschaft» von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

So zertifiziert und diplomiert wie heute waren wir in der Schweiz noch nie. Die Zahlen und Ziffern zeigen es. Die tertiären Abschlüsse auf Hochschulstufe weiten sich aus; das bekundete bereits der Bildungsbericht Schweiz von 2018.[1] Die Bildungsexpansion setzt sich weiter fort. Unvermindert und intensiv. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Tertiärquote der 25- bis 34-Jährigen fast verdoppelt. Jede zweite Person dieser Altersgruppe verfügt heute über einen Abschluss auf der Tertiärstufe.[2] Dazu gehören die kantonalen Universitäten, die beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen von Zürich und Lausanne, die ETHZ und die EPFL, dann die Fach- und die Pädagogischen Hochschulen sowie die höhere Berufsbildung HBB. Wer nur die Hochschulstufe betrachtet, erkennt schnell: Das Wachstum hier hat sich im gleichen Zeitraum gar verdreifacht.

Wie lässt sich Bildung messen?

In der Statistik wird konsequent vom «Bildungsstand der 25- bis 34-jährigen Bevölkerung» gesprochen. Doch lässt sich Bildung überhaupt quantifizieren, lässt sie sich messen – allenfalls an den ECTS-Punkten des European Credit Transfer Systems? Und was bedeutet Bildung? Schlüsselqualifikationen oder Basiskompetenzen, operationalisierbare Fähigkeiten oder eine möglichst hohe Maturitätsquote, wie dies die OECD fordert? Schnell stellt sich auch die Frage: Kann man in Zahlen fassen, wie sich ein selbstbestimmtes, mündiges Subjekt denn bildet?

Wo man von Bildung spricht, meint man da nicht das Zertifikat, die soziale Reputation oder gar die gesellschaftliche Distinktion?

Kaum jemand hat heute in der Schweiz den Überblick über die unzähligen Weiter- und Fortbildungsanbieter, die staatlichen wie die privaten, und die verwirrende Vielfalt an Diplomen und Zertifikaten, die verschiedenen Certificate, Diploma und Master of Advanced Studies (CAS, DAS und MAS). Ob all die vielen Abschlüsse den Namen Bildung verdienen? Oder handelt es sich hier bloss um Etikettenschwindel? Müsste all das nicht anders bezeichnet sein? Als Ausbildung und Instruktion, als Unterricht und Lernen, als Trainings- und Qualifizierungsprozesse? Und ist Bildung nicht allzu oft Synonym für den Wunsch, ein schönes Papier zu besitzen, einen Abschluss, den man sich erwirbt wie eine Billigpizza am Take-away? Der Ausweis von Bildung durch den Nachweis eines Dokuments mit Punkten und Titeln: Wo man von Bildung spricht, meint man da nicht das Zertifikat, die soziale Reputation oder gar die gesellschaftliche Distinktion – ganz im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu? Man erkennt im Abschluss den Anspruch auf höhere Stellung und saftigeres Salär. Aufstieg durch Bildung, Aufstieg als Zweck, Bildung als Mittel.

Peter Bieri, Schriftsteller und Philosoph: Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen.

Bilden kann sich jeder nur selbst

Bildung lässt sich nicht in der Hast rascher Erledigung erwerben; sie ist mehr als berufliche Qualifikation und fachliches «Fitsein für… ». In einer Zeit, in der vieles begrifflich unklar geworden ist, lohnt es sich darum, an das zu erinnern, was Bildung eigentlich sein könnte. Der Philosoph Peter Bieri, unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch als Romancier bekannt, versuchte eine zeitgemässe und zukunftsfähige Bestimmung des Bildungsbegriffs.

Der originelle Denker resümiert: «Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein blosses Wortspiel. […] Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein»[3] – und mit ihr zu interagieren.

Bildung als humane Kultivierung seiner selbst

Der Mensch ist nicht einfach, er habe «auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein», sagt Peter Bieri. Voraussetzung dafür ist Bildung. Eben: Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden. Eine wunderbare Definition! Bildung als humane Kultivierung seiner selbst, wie Wilhelm von Humboldt, Mitbegründer der Universität Berlin und Promotor der preussischen Volksschule, es einst ausgedrückt hat. Bildung als Fähigkeit umfassender Orientierung ist eben mehr als konkretes Sachwissen und technisch-methodisches Verfügungswissen, Bildung ist mehr als Ausbildung. Der Welt und sich selber begegnen, die Wechselwirkung von Ich und Welt erfahren und sie gestalten – auch den kleinen, persönlichen Mikrokosmos. Daraus entsteht verantwortete Handlungsfähigkeit – im Kontext der Mit- und Umwelt.

In seinem erstem Wilhelm Meister-Roman, den Lehrjahren, favorisiert Johann Wolfgang von Goethe die Bildung. Im zweiten Roman, den Wanderjahren, stellt er die Ausbildung als wichtig hin. Die Reihenfolge dieser beiden Romane mit derselben Hauptfigur legt nahe, die Bildung als Grundlage für die Ausbildung zu nehmen. So sah es auch Wilhelm von Humboldt.

Bildung ist nichts Theoretisches, kein blosses Sich-Auskennen in Bildungs- oder Wissensbeständen, sondern eine Lebensform.

Eine beschleunigte Gesellschaft braucht Bildung

Noch nie war eine Bildung, die über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausgeht, so unentbehrlich wie heute. Warum? Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nicht nur als offene, um dem Philosophen Sir Karl Popper zu folgen, sondern auch als beschleunigte versteht. Zu ihrem Credo gehören permanente Innovation, grenzenlose Mobilität und hektische Flexibilität. Der Zwang zum «Change» als Dogma. Das legt auch die Diskussion um die artifizielle Intelligenz (AI) nahe. Ohne Bildungselemente aber geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde, mahnt darum der deutsche Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass.[4]

Und er fügt bei: Je reicher unsere Gesellschaft an Information und Wissen wird – auch über das Netz als immense Sekundärmaschine –, desto ärmer scheint sie an Orientierungsvermögen zu werden. Für diese Fähigkeit aber steht der Begriff der Bildung – und für die ethisch-moralische Dimension der Begriff der Humanität. Sie umfasst damit Werte wie Demut, Bescheidenheit und Empathie und bewahrt vielleicht vor Hybris, Hochmut und Habgier. Daher schliesst der Begriff der Bildung auch den Begriff der Orientierung ein – im klassischen wie im modernen Sinne.

Hans Blumenberg, Philosoph, 13. Juli 1920 in Lübeck; † 28. März 1996 : Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.

So ist Bildung nichts Theoretisches, kein blosses Sich-Auskennen in Bildungs- oder Wissensbeständen, sondern eine Lebensform. Wilhelm von Humboldt hat noch immer recht. Er sprach davon, dass der Gebildete so viel Welt wie möglich mit sich verbinde. Welt war für Humboldt nicht allein die vergangene, auch nicht allein die faktisch existierende, sondern jede mögliche Welt – und damit auch die gegenwärtige und die darin erkennbaren Entwicklungslinien.

Bildung ist ein «Horizont»

Der Philosoph Hans Blumenberg prägte vor vielen Jahren die Devise, Bildung sei kein Arsenal, Bildung sei ein Horizont[5]. Daran ist zu erinnern, wenn Bildung auf die Abschlüsse und die Anzahl der Diplome reduziert wird – mindestens in den Tabellen und Grafiken der nationalen Bildungsberichte. Zusammenfassend können wir hier lesen: Noch nie war eine Generation – zählt man die tertiären Abschlüsse – so gebildet wie heute. Ob sie auch gescheiter geworden ist? Zu hoffen wäre es.

[1] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 173ff.

[2] SKBF (2023). Bildungsbericht Schweiz 2023. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 199f.

[3] Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein? In: Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock (Hg.), «Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht…». Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber 2010, 205f.

[4] Jürgen Mittelstrass (2004), Bildung, Wissenschaft und Humanität – vom Auftrag einer Pädagogischen Hochschule. Vortrag an der PH Zug. Msc. unpubl. S. 3; vgl. ders. (1997), Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

[5] Zitiert nach: Norbert Ricken (2006), Die Ordnung der Bildung. Beiträge zur Genealogie der Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 163

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Wenn Überkomplexität das Entscheidende erschwert https://condorcet.ch/2023/06/wenn-ueberkomplexitaet-das-entscheidende-erschwert/ https://condorcet.ch/2023/06/wenn-ueberkomplexitaet-das-entscheidende-erschwert/#comments Thu, 01 Jun 2023 19:43:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=14170

Vorbemerkung der Redaktion: Sie lesen her eine überarbeitete Variante des Artikels von Carl Bossard. In der ersten Variante ging durch einen Übertragungsfehler das Eingangskapitel des Beitrags veloren. Wir bitten die Leserinnen und Leser um Entschuldigung.
Condoret-Autor Carl Bossard schrieb: Mit dem Lesen steht es bei den Jugendlichen nicht zum Besten. «Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben», verkündete ein Medienbericht vor Kurzem. Er liess aufhorchen. Lesestudien verraten die Hintergründe.

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Carl Bossard: Viele Dinge können nur noch flüchtig gestreift werden.

Deutschland zeigt sich schockiert: Erneut bestätigt eine Studie, dass viele Primarschülerinnen und Primarschüler nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können. Seit Jahren verschlechtert sich das Können in den Kulturtechniken, und zwar erheblich. Jeder vierte Viertklässler liest nicht gut genug. Er kann einem Text nicht einmal elementare Informationen entnehmen, geschweige denn Zusammenhänge erfassen und interpretieren. Das zeigt die sogenannte IGLU-Studie, die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung 2021.  Das Ergebnis wurde in diesen Tagen präsentiert; es sei «alarmierend», heisst es aus dem Berliner Bildungsministerium.  Der niederschmetternde Befund bleibt nicht ohne Folgen für den weiteren Lern- und Lebensweg dieser Kinder. Den deutschen Grundschulen gelingt es nicht, ihnen eine solide Grundlage zu vermitteln, dies ausgerechnet beim Lesen. Und Lesen ist die Schlüsselkompetenz für jede Selbstbildung – und für die gesellschaftliche Willensbildung, wie sie vor allem in Demokratien vorausgesetzt wird

Schweiz liegt deutlich hinter Deutschland

Die Schweiz nimmt an den IGLU-Vergleichen unter 65 Staaten und Regionen nicht teil. Ein Vergleich ist darum nur indirekt möglich. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag unser Land beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelte damit unter dem OECD-Durchschnitt und klar hinter unserem nördlichen Nachbarn Deutschland. An der Spitze liegen bei beiden Studien die Schülerinnen und Schüler aus Singapur.

Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie.

Und noch etwas fällt auf: Der Leistungsabfall in Deutschland geht einher mit einer deutlichen Zunahme der Leistungsstreuung. Zwischen den einzelnen Schülern gibt es enorme Unterschiede: Die einen lesen in der vierten Klasse bereits fliessend, andere können die Buchstaben nur stockend entziffern und ihnen kaum Sinn entnehmen; sie bleiben auf der Worterkennungsebene stecken.[iii] Ins Stocken kommt damit auch ihre Bildungsbiographie.

Erosion der Schulqualität

Die Meldung aus Deutschland ging einher mit Klagen über den Niveauverlust in Schweizer Schulen. Wenn acht von 24 Schülerinnen und Schülern einer neunten Zürcher Schulklasse, also ein Drittel, «wenige Wochen vor dem Schulabschluss kaum richtig lesen und schreiben» können, lässt das hellhörig werden.[iv] Ein Einzelfall? Wohl kaum. Gar von «Erosion der Schulqualität» ist die Rede und vom «Tohuwabohu» in gewissen Klassenzimmern.[v]

Hier liegt offenkundig ein Systemversagen vor: 2020 investierten Bund, Kantone und Gemeinden über 40 Milliarden in die Bildung, den grössten Teil davon in die obligatorische Schule.

Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie. Er versteht das Gelesene nicht. Ein Viertel der 15-Jährigen ist darum nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Seit Jahren sinken die Leistungen der Schweizer Schüler. Schon vor Längerem hat die renommierte ETH-Lernforscherin Elsbeth Stern darauf hingewiesen, wonach mindestens 15 Prozent der schulentlassenen Jugendlichen funktionale Analphabeten oder Illiteraten seien. Hier liegt offenkundig ein Systemversagen vor: 2020 investierten Bund, Kantone und Gemeinden über 40 Milliarden in die Bildung, den grössten Teil davon in die obligatorische Schule.

Reformen kaum in ihrer Komplexität betrachtet

Und noch etwas wissen wir: In der Schweiz können rund 800‘000 Erwachsene nicht gut schreiben; sie haben Mühe, einen Text zu verstehen. «Wie kann es sein, dass es einem wohlgenährten Bildungssystem nicht gelingt, allen Schulpflichtigen das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen», fragt die NZZ.[vi] Und sie fragt zu Recht.

Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit.

Die Schule erlebte in den letzten Jahren eine hohe Zahl an Reformen. Innovation reihte sich an Innovation. Der pädagogische Kompass kannte lange Zeit nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken aber daran, dass sie meistens nie in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt sie gar um. Darauf hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann aufmerksam gemacht. Es ist das «Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen». Im Reformeifer wurden Wirkung und Wechselwirkung vielfach negiert. Formuliert hat das Gesetz der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger.

Grundfertigkeit müssen intensiv trainiert werden

Das überkomplexe Bildungssystem resultiert auch aus den Kräften der Addition. Sie ist die Kennziffer der Schulentwicklung der vergangenen Jahre und resultiert aus der Tendenz, Qualität als Addition verschiedener zählbarer und kontrollierbarer Einheiten zu verstehen. Wenn die Aufgabenfülle aber steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Eine einfache Gegenbuchung! Viele Dinge können nur noch flüchtig gestreift werden. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden nur erschwert Erfahrung und bleiben Bruchstück. Lehrerinnen und Lehrer kommen kaum mehr zu vertieftem Festigen und Automatisieren. Verbindlichkeit und Effizienz der Lernprozesse nehmen ab. Aus der Gedächtnispsychologie aber wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.

Hier läge der Schlüssel: Die Primarschule müsste ganz gezielt das Lesen und das Schreiben üben. Intensiv und regelmässig. Die sinkenden Lesefähigkeiten liegen in der geringen Lesezeit an den Schulen mitbegründet. Das Trainieren von Lesen wie auch von Schreiben kommt zu kurz. Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert worden. Tägliche Übungsphasen von zehn bis fünfzehn Minuten bringen den Kindern die nötige Routine; sie lernen automatisiert le­sen und schreiben. Wenn sie das beherrschen, können sie auch Freude am Lesen entwickeln. Es wäre der erfolgreiche Übergang vom Lesenlernen zum Lesen, um zu lernen.

Wann kommt Frühdeutsch?

Wer Zweitklässler lesen hört, denkt unwillkürlich: «Und in der dritten Klasse kommt zusätzlich noch Frühenglisch! Zwei Jahre später dann Frühfranzösisch.» Da liegt der Gedanken nicht mehr fern: «Und wann kommt denn Frühdeutsch?»

Die Überkomplexität des Bildungssystems auf Wesentliches und Grundlegendes zu fokussieren, was denn auch den Zugang zu komplexeren Fragestellungen erleichtert, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten. Schulkinder, die kaum lesen und schreiben können, und 800 000 funktionale Analphabeten sind für das Land mit dem weltweit höchsten Bildungsaufwand zu viel.

Lesen ist die Schlüsselkompetenz für jede Selbstbildung

 

[i] https://www.bildungsserver.de/internationale-grundschul-lese-untersuchung-iglu-studie-deutschland-8341-de.html[konsultiert: 27.05.2023]

[ii] Heike Schmoll, Viertklässler können immer schlechter lesen, in: FAZ, 17.05.2023, S. 1.

[iii] Dies., Zu wenig Unterrichtszeit fürs Lesen, FAZ, 17.05.2023, S. 2.

[iv] Nadja Pastega, «Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben», in: Sonntagszeitung, 07.05.2023, S. 18.

[v] Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92.

[vi] Claudia Wirz, Die betreute Gesellschaft, in: NZZ, 23.05.2023, S. 22.

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