9. Oktober 2024
Bildungspolitik

Die Lernprozesse sind’s, nicht die Strukturen!

Die Lehrerverbände propagieren weiterhin radikale Strukturreformen. So wollen sie den Defiziten entfliehen, die sie mitverursacht haben. Doch es liegt nicht an den Strukturen, es liegt an der Wirksamkeit der Schule – und die beginnt im Klassenzimmer. Das bildungspolitische Grundsatzpapier der FDP sei kein Zufall, schreibt Condorcet-Autor Carl Bossard.

Bildung ist wichtig. Das sagen alle. Und die Schweiz lässt sich dieses Gut etwas kosten: 41,3 Milliarden Franken haben Bund, Kantone und Gemeinden 2021 für Bildungszwecke ausgegeben, fast doppelt so viel wie noch 2000. Damals waren es 22,1 Milliarden. Wir leisten uns das teuerste Bildungssystem der Welt. Aus gutem Grund: Bildung ist für unser Binnenland existenziell.

Interesse an unwirksamen Oberflächenmerkmalen

Die Schweiz investiert viel. Und doch verlangt Dagmar Rösler, die oberste Lehrerin der Schweiz, bei jedem Problem im Schulalltag stets nur Eines: “Mehr Geld! Mehr Ressourcen!” Das Additive im Finanziellen! Gebetsmühlenartig kommt dieser Ruf über ihre Lippen. Seit Jahren. Gleichzeitig plädiert sie als Zentralpräsidentin der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) permanent für weitere und zum Teil radikale Strukturreformen – zusammen mit Thomas Minder, dem Verbandspräsidenten der Schulleiter Schweiz (VSLCH).

Condorcet-Autor Carl Bossard

Beide setzen Bildung mit ihrer Reform gleich – wie wenn Strukturinnovationen alle Probleme lösen könnten. Dabei bewegen sie sich auf der Makroebene, einem für den Unterrichtserfolg unwesentlichen Bereich; beiden sind Oberflächenmerkmale wichtig, Äusserlichkeiten. Es sind Strukturreformen, die sie forcieren, wie beispielsweise das Abschaffen der Noten und das Weglassen der Hausaufgaben, das Auflösen des Klassenverbandes oder die Elimination der Selektion.

Das verstehende Lernen und Lesen fördern

Die Exponenten von LCH und VSLCH kümmern sich primär um Strukturfragen auf der Makroebene. Doch das ist Kosmetik und hat wenig mit den Prozessen des Denkens, Verstehens und Könnens zu tun. Bildungswirksam sind die Tiefenmerkmale der Lernprozesse. Das wissen wir aus der Unterrichtsforschung. Doch davon hören wir von beiden kaum etwas. Dabei legen uns Forschungsergebnisse aus der Bildungswissenschaft längst eine (Rück-)Besinnung auf den Kern der Schule, auf lernwirksames Unterrichten, nahe. Es sind die Wege zur Erkenntnis, die Lernpfade des Denkens und Verstehens und des Eindringens in eine Sache, die wichtig wären.

Doch wie kommt es zu diesen Prozessen des verstehenden Aneignens und Anwendens von Wissen und Können? Wie entstehen Erkenntnisvorgänge, wie entstehen Einsichten und Zusammenhangwissen? Welche Form von Unterricht fördert das verstehende Lernen? Und das so bedeutsame “verstehende Lesen”? Das müsste die Lehrerverbände doch interessieren! Da hinein müssten sie zoomen! Und zwar konsequent. Davon aber hören wir kaum etwas.

Lernprozesse: systematisch aufgebaut und strukturiert

Aus der Lernpsychologie kennen wir die Phasen des klassischen Lernprozesses. Es geht beim Lernen stets um das problemgeleitete Aufbauen des neuen Wissens und Könnens mit dem Erkennen und Verstehen – beispielsweise des anspruchsvollen Zehnerübergangs. Das sind komplexe Vorgänge, ebenso wie das Durcharbeiten mit dem Konsolidieren und Festigen: das Behalten. Dazu kommen das Üben und Wiederholen und das Abrufen und Anwenden des Gelernten in unterschiedlichen Situationen.

Der Lernforscher und Berner Hochschullehrer Hans Aebli hat dafür das Akronym PADÜA geprägt: problemgeleitetes Aufbauen, Durcharbeiten, Üben, Anwenden. [1] Das alles sind systematisch aufgebaute, strukturierte und angeleitete Lernprozesse. Aebli kombiniert sie mit fünf verschiedenen Medien – darunter Sprechen, Lesen und Schreiben – und den entsprechenden fachlichen Lerninhalten. Hier liegt das Geheimnis guten Lernens verborgen.

Doch die Verbindlichkeit dieser Lernprozesse nimmt ab. Viele spüren das, auch Eltern.

Von der Entsystematisierung des Lernens

Schulische Wirksamkeit verlangt eine konsequente Systematik; es darf kein Zufallslernen geben. Darauf verweisen renommierte Lernforscher. Viele Lehrerinnen und Lehrer spüren aber, dass die zahlreichen Reformen der vergangenen Jahre das Lernen entsystematisiert haben, und zwar über die forcierte Individualisierung und das Selbstorganisierte Lernen SOL, die Abwertung der Lehrperson zum begleitenden Coach und durch die gesteigerte Heterogenität in den Klassen.

Vor dieser Entsystematisierung des Lernens haben namhafte Bildungsforscher schon früh gewarnt, u.a. Prof. Franz E. Weinert, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, [2] und der deutsche Erziehungswissenschafter Prof. Andreas Helmke. Die Folgen zeigen sich in den internationalen Vergleichsstudien PISA oder beispielsweise in den Klagen von Lehrmeistern [3] und Hochschuldozenten. [4] Auch die rasante Zunahme privater Lerninstitute ist ein Alarmzeichen. Gefragt wären ein Gegenhalten und eine Konzentration auf lernwirksames Unterrichten mit klaren Verbindlichkeiten.

Konzentration auf den Kern der Schule

Doch die Verbindlichkeit dieser Lernprozesse nimmt ab. Viele spüren das, auch Eltern. Das bildungspolitische Grundlagenpapier der FDP Schweiz [5] kommt nicht aus heiterem Himmel. Es ist eine Reaktion auf die nachlassende Wirkkraft der öffentlichen Volksschule.

Wir brauchen eine (Rück-)Besinnung auf das Eigentliche und Wesentliche von Unterricht, die Kernprozesse des Lernens. Sie liegen in den Tiefenmerkmalen. Darauf müssten sich die Lehrerinnen- und Lehrerverbände primär konzentrieren – und nicht auf Strukturfragen im Makrobereich. Das erforderte auch nicht dauernd mehr Ressourcen.

 

[1] Hans Aebli (2019), Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. 15. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 275ff.

[2] Franz E. Weinert (1996), Für und Wider die «neuen Lerntheorien» als Grundlagen pädagogisch-psychologischer Forschung, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 10 (1), S.8f.

[3] Nadja Pastega, «Es ist zum Teil erschreckend», in: SonntagsZeitung, 03.12.2023.

[4] Dies., Jetzt können sogar Studierende nicht mehr richtig Deutsch, in: SonntagsZeitung, 27.11.2022.

[5] https://www.fdp.ch/positionen/bildung-forschung-innovation/bildung [abgerufen: 27.09.2024]

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Ein Kommentar

  1. Wie wahr ist, was Carl Bossard in diesem Beitrag ausführt! Dazu ergänzend:

    1. Die methodischen Verfahren des selbst organisierten Lernens, des Wochenplans, der digitalen Lernprogramme, des projektartigen Lernens können zwar in bestimmten Phasen sehr sinnvoll sein, aber sie haben, wenn sie generalisiertes Unterrichtsformat sind, den grossen Nachteil, dass der Lernstoff so aufbereitet werden muss, dass er von Anfang an strukturbedingt in ein Schema gezwängt wird, das die Möglichkeiten der Begegnung, der Verstehenskontrolle, der Bearbeitung, des Einprägens und der Anwendung stark einschränkt. Die interaktive Anleitung, der ständige Austausch, das spontane Reagieren auf Schwierigkeiten, was ein gemeinsamer Unterricht in alle Richtungen ermöglichen würde, fällt weg, weil die Lernenden auf vorgefertigte Module festgelegt werden, mit denen sie grundsätzlich allein gelassen werden.

    2. Die Fokussierung der Didaktik auf oben genannte Formate und die Ablehnung von lehrerzentrierten und lehrerkontrollierten Verfahren scheinen dazu geführt zu haben, dass wirksame didaktisch-methodische Erkenntnisse für die Unterrichtspraxis in Vergessenheit geraten sind oder aus ideologischen Gründen fallen gelassen wurden. Dazu gehören planerische Prinzipien wie die Systematik im Stoffaufbau, die der Kompetenzorientierung geopfert wird (Stichwort: Strategien), aber auch methodische Dinge wie regelmässiges Kopfrechnen, die Geschichtserzählung, Diktate, Chorsprechen in den Fremdsprachen, Ausweniglernen, Übungssequenzen mit Partner oder in der Gruppe, die alle im Geruch der “reinen Reproduktion” stehen und nicht mehr als wesentliches Gehirntraining anerkannt sind.

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