10. Oktober 2024
Lehrpersonen-Umfrage zu inklusiver Schule mit vernichtendem Urteil

“Die Leistungen werden immer schlechter”

In einer Umfrage bei 664 Lehrpersonen fällt die Kritik vernichtend aus: Die Integration von renitenten Schülern und Kindern mit Lern­behinderungen senkt das Leistungsniveau ganzer Klassen. Wir bringen einen Bericht der Journalistin Nadja Pastega, der in der Sonntagszeitung erschienen ist.

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die Integration aller Schüler mit besonderen Bedürfnissen bringt Lehrpersonen und ganze Klassen an ihre Grenzen, zeigt eine Erhebung im Raum Basel.
  • Über 70 Prozent der Lehrer berichten von stark störenden Schülern in Regelklassen.
  • Schüler mit hohem Betreuungsbedarf beeinflussen die Leistung der Klasse weniger stark.
  • Rund 90 Prozent der Befragten fordern Anpassungen im derzeitigen Inklusionssystem.

 

Begabte Schülerinnen, lernbehinderte Kinder, verhaltensauffällige Störenfriede, Jugendliche mit psychischen Problemen – sie alle sollen zusammen in einer Klasse unterrichtet werden. Das war das grosse Bildungsversprechen, als 2004 in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat. “Inklusion” heisst das Konzept. Kein Kind soll ausgegrenzt werden. Tönt gut. Da kann niemand dagegen sein. Doch der Schulalltag sieht anders aus.

Gastautorin Nadja Pastega, Journalistin der Sonntagszeitung

Die inklusive Schule bringt viele Lehrpersonen und ganze Klassen an die Grenze. Das zeigt eine Erhebung des Vereins Starke Schule beider Basel. An der Umfrage nahmen neben 122 Eltern, Schulleitern und Bildungspolitikern auch 664 Lehrerinnen und Lehrer teil und gaben Einblicke in ihre Schulzimmer.

Unterricht wird “ein Ding der Unmöglichkeit”

Eine Lehrperson berichtet von einer Regelklasse mit dreiundzwanzig Kindern, in der zwei gehörlose Schüler, drei Kinder, die noch nicht schulreif sind, zwei traumatisierte Kinder und ein Kind mit frühkindlichem Autismus sitzen. Eine solche Klasse zu unterrichten, so das Fazit des Lehrers, sei “ein Ding der Unmöglichkeit”. So werde man niemandem gerecht, weder den Kindern mit Beeinträchtigungen noch dem Rest der Klasse.

Ein anderer Lehrer setzt folgendes SOS-Zeichen ab: “Die Leistungen werden immer schlechter. Der Anteil der zu integrierenden Schülerinnen und Schülern ist zu hoch, sodass man zu wenig schnell und tief in die Themen eindringen kann. Oft muss man an den Basics arbeiten, weil bei vielen selbst diese nicht sitzen.”

Die Idee einer “Volksschule für alle” ist gescheitert.

 

Über 300 Kommentare gingen im Rahmen der Umfrage ein – zum Beispiel diese Rückmeldung einer Lehrperson: “Diese Pseudo-Integration von Kindern, denen in der Regelklasse die Handicaps nur noch stärker vor Augen geführt werden, die den Unterricht in hohem Masse stören und den Arbeitsaufwand für die Lehrpersonen massiv erhöhen, sind kein Gewinn für die Schule.”

Im Rahmen der Erhebung wurden verschiedene Aspekte zur Integration an den Schulen erhoben. Die Fragen und Resultate im Einzelnen:

 

“Hat die Integration von verhaltensauffälligen Schülern und Schülerinnen, die den Unterricht in Regelklassen häufig und stark stören, einen Einfluss auf das Leistungsniveau der Klasse?”

Über diese Frage streiten sich seit längerem die Theoretiker in den Bildungsdepartementen und die Politik. In der Umfrage melden sich jetzt die Schulpraktiker zu Wort. Sie wissen, wie der Alltag in den Schulzimmern aussieht, denn sie stehen jeden Tag vor den Klassen. Ihr Votum ist klar: Die Idee einer “Volksschule für alle” ist gescheitert. Die Teilnehmer der Umfrage konnten auf einer Skala von 0 (trifft überhaupt nicht zu) bis 10 (ja, auf jeden Fall) bewerten, ob und wie stark sich die Integration auf das Leistungsniveau auswirkt. Ergebnis: Über 70 Prozent setzten einen Wert zwischen 7 und 10. Sie geben also an, dass stark störende Schüler zu einer erheblich schlechteren Leistung der ganzen Klassen führen. Eine Befürchtung, die viele Eltern beschäftigt.

“Hat die Integration von Schülern und Schülerinnen in Regelklassen, die den Unterricht nicht stören, aber einen sehr hohen Betreuungsbedarf haben, einen Einfluss auf ein durchschnittlich tieferes Leistungsniveau der Klasse?”

Um diese Frage zu beantworten, stand den Lehrerinnen und Lehrern die gleiche zehnstufige Bewertungsskala zur Verfügung. Resultat: Der Einfluss dieser Schüler auf die durchschnittliche Leistung der Klasse wird als deutlich geringer eingestuft als bei den verhaltensauffälligen Schülern. Das heisst: Die Auswirkungen der Kinder mit hohem Sonderbedarf auf die Gspändli sind weniger ausgeprägt, auch wenn die Lehrpersonen für Schülerinnen und Schüler mit hohem Betreuungsbedarf viel Zeit investieren müssen.

“Soll die integrative Beschulung überdacht und korrigiert werden?”

Das wuchtige Votum: Rund 90 Prozent der Befragten sehen Handlungsbedarf und fordern Anpassungen. Sie beantworten die Frage also mit Ja oder eher Ja. Nur zehn Prozent finden: weitermachen wie bisher. Jene, die Korrekturen nötig finden, beschäftigt vor allem, dass sich Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen und Lernbehinderungen im Unterricht in der Regelklasse oft nicht wohlfühlen würden, weil sie merkten, dass sie nicht mithalten können. Die inklusive Schule habe auch Folgen für die Lehrerinnen und Lehrer – viel würden schlicht verheizt.

“Sollen flächendeckende Kleinklassen wieder eingeführt werden?”

Auch hier ist das Ergebnis der Umfrage klar: Gut 85 Prozent sind dafür. In Kleinklassen sollen Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht – aus welchen Gründen auch immer – nicht folgen können, sowie Kinder mit hohem Betreuungsbedarf von speziell geschultem Personal unterrichtet werden. Jeder Dritte wünscht sich zudem Spezialklassen für Schüler, die den Unterricht häufig und stark stören.

Eine Schule in einer Seelandgemeinde im Kanton Bern beansprucht derzeit 272 Lektionen Spezialunterricht, was umgerechnet in Unterrichtszeit neun Klassen entspricht. Und das bei insgesamt 20 Klassenzügen an der Schule.

 

In manchen Gemeinden, in denen die früheren Kleinklassen abgeschafft wurden, greift die Lehrerschaft zur Selbsthilfe – sie gründen Lerngruppen für Schüler mit Sonderbedarf. Vielerorts werden die immer häufiger gemeldeten Probleme auch so zugekleistert: Man führt immer mehr Stütz- und SOS-Lektionen ein – sofern man dafür überhaupt Personal findet. Eine Schule in einer Seelandgemeinde im Kanton Bern beansprucht derzeit 272 Lektionen Spezialunterricht, was umgerechnet in Unterrichtszeit neun Klassen entspricht. Und das bei insgesamt 20 Klassenzügen an der Schule.

Bedürfnisse der leistungswilligen Kinder leiden

Viele Eltern beschäftigt die Sorge, dass ihr Kind wegen der zum Teil chaotischen Zustände im Klassenzimmer auf der Strecke bleibt. Weil manche Lehrer nicht mehr genügend Zeit für alle haben – oder auch keine Chance, Ruhe in den Unterricht zu bringen.

Das beschäftigt auch Schulpraktiker selber. Wie jene Lehrperson, die in der Umfrage in ein Kommentarfeld schrieb: “Neben den Bedürfnissen der leistungsschwachen und vor allem der stark störenden Schülerinnen und Schüler müssen auch die Bedürfnisse der leistungswilligen Kinder berücksichtigt werden – es darf nicht sein, dass eine ganze Generation eine schwache Ausbildung erhält, nur weil ein Teil der Schülerschaft übermässige Aufmerksamkeit und Energie beansprucht.”

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Selbstgesteuertes Lernen, ein fragwürdiges Konzept?

Unter dem Titel “Selbstgesteuertes Lernen, ein fragwürdiges Konzept?” sendete SWF Kultur in der Aula vom 30. Juni 2019 um 08.30 Uhr einen Vortrag der Freiburger Erziehungswissenschaftlerin Nicol Vidal (BRD). Ihre Überlegungen gehen von einem Schulbesuch aus, bei dem sie eine jahrgangsübergreifende Klasse des 3. und 4. Schuljahres beobachtete, die selbstorganisiert an Lernposten das Sachthema Brücken bearbeitete. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat die Sendung gehört und für Sie zusammengefasst.

Was Lehrer in europäischen Ländern verdienen

Deutschlands Schulen suchen verzweifelt Personal, vielerorts ist der Unterricht gefährdet. Doch eine langfristige Lösung ist nicht in Sicht, kaum einer will noch Lehrer werden. Können andere Länder hier Vorbild sein? Ein Überblick zeigt, wie andere Länder ihre Pädagogen behandeln – und bezahlen. Wir publizieren einen Bericht der WELT-Journalisten Martina Meister, Virginia Kirst, Julia Wäschenbach, Mandoline Rutkowski, Philipp Fritz.

Ein Kommentar

  1. In meiner kürzlich abgeschlossenen Ausbildung an der PH wurde betont, dass Studien belegen, dass die integrierten Kinder nur Vorteile haben. Es gäbe jedoch keine Studien, welche einen Vorteil für die stärkeren Kinder zeigen. Was ich aktuell im Schulzimmer erlebe sieht eher so aus, dass definitiv die begabten Schüler zu kurz kommen. Solange ein Schüler angepasst und ruhig ist, geht er im Schulzimmer unter. Die verhaltensoriginellen oder störenden Kinder haben logischerweise immer Vorrang. Auch habe ich notenbefreite Kinder erlebt, welche von der Klasse ausgeschlossen werden – trotz Bemühungen der Lehrpersonen. Da spielt niemand in der Pause mit dem Kind. Das Kind merkt natürlich, dass es andere Mathematikaufgaben und -hefte hat (welche schön eingefasst sind, um keine Sonderpädagogischen Titel zu offenbaren). Es möchte nur dazu gehören, ich wünschte diesem Kind eine kleinere Klasse mit langsamen Lerntempo und der Gelegenheit für echte Freundschaften. Jeder Fall ist anders. Ich stelle mir Schulen der Zukunft vor, in denen die klassischen Fächer M, D und Sache vormittags unterrichtet werden und nachmittags kommen die Sonderschüler dazu, wenn Gestalten, Sport, Musik etc gemeinsam unterrichtet wird. Eine Teilzeit-Inklusion also.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert