9. Oktober 2024
Denkmoment

Smartphones in Kinderhänden – oder: Die schädlichen Auswirkungen

Die Gesundheit von Kindern in der Altersspanne 10- bis 15-jährig ist hochgradig bedroht. In den Volksschulen betroffen sind die Schülerinnen und Schüler der Mittel und Oberstufe . Die Gründe sind beim Smartphone und den Social-Media-Apps zu finden. Noch nie gab es eine technologische Entwicklung , welche die Zukunftsgenerationen dermassen negativ beeinflusst und schädigt. Insbesondere die Schule muss hier Gegensteuer geben, schreibt Condorcet-Autor Niklaus Gerber.

Kinder, Jugendliche und Heranwachsende der Generation Z  sind zwischen 1995 und 2010 Geborene. Sie sind heute 15- resp. 30-jährig und gelten als die ersten Opfer der Smartphone-, Social-Media- und Selfie-Kultur. Als erste haben sie ihre Pubertät mit den neuen Medien durchlebt und wurden zu Testpersonen für das Aufwachsen in einer radikal umgestalteten und zunehmend digitalen Lebensumgebung. Mit Ernüchterung stellt man fest, dass sich die mentale Gesundheit dieser jungen Menschen rapide und zunehmend verschlechtert hat. In der Berufsbildung, den Gymnasien, an den Fachschulen und Universitäten, sowie gleichsam auf dem Arbeitsmarkt sind die sorgenvollen Auswirkungen bereits spürbar.

Condorcet-Autor Niklaus Gerber

Der Anfang des Irrweges

Kurz vor dem Jahr 2010 kam das Smartphone mit Frontkamera auf den Markt. Gegenüber den früheren Mobiltelefonen sind Smartphones mit dem Internet verbunden, was den Zugang zu Millionen verschiedenster Apps ermöglicht. Zu den aktuellen gehören heute Facebook, X/Twitter, Instagram, Snapchat, Tiktok, Reddit, LinkedIn und YouTube. Dazu gesellen sich Messenger-Dienste wie WhatsApp, Threema, Signal, etc. Jede Smartphone-Besitzerin und jeder Smartphone-Besitzer betreibt viele dieser Apps parallel auf ihrem Gerät. Bei den jüngsten Userinnen und Usern stehen heute Instagram, Snapchat  und Tiktok an oberster Stelle. Diese Apps sind auf eine Art wettbewerbs-getrieben. Sie fördern den Wunsch, in der Community herauszustechen sowie ein vordergründiges Gemeinschaftsgefühl zu erreichen. Und wenn diese Motivationskriterien nicht befriedigt werden, treten Aggressionen, Rufschädigungen gegenüber Gleichaltrigen auf.

Heute stellen insbesondere die Lehrpersonen fest, dass ein zunehmender Teil smartphonegeschädigter und schulentfremdeter Schülerinnen und Schüler in ihren Klassenzimmern sitzen und unterrichtet werden sollten. Dieser katastrophalen Veränderung muss Einhalt geboten werden.

 

In der vertieften Analyse stellt man fest, dass sich in den Jahren zwischen 2010 und 2015 das Sozialleben der damaligen Teenager resp. Pubertierenden verändert und in die digitale Welt verlagert hat. Dies passierte genau in derjenigen adoleszenten Zeitspanne, in welcher die Gehirnentwicklung – die nach Haidt so genannte “Grosse Neuverdrahtung” – stattfindet. Im gleichen Zeitraum wurden die Folgen der Smartphone-Flutwelle sichtbar: Psychische Erkrankungen, Depressionen Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Selbstverletzungen, Aggressionen, Cybermobbing, physische Gewalt und Suizidalität haben zugenommen. In den Schulen wurden die Leistungseinbrüche beim Lernen spürbar.

Diese Negativerscheinungen benennt Haidt als die vier grundlegenden Übel der neuen smartphonebasierten Kindheit:

Übel 1: Soziale Deprivation

Das reale Verbringen der Zeit mit Freundinnen und Freunden hat – zum einen – seit 2010 um die Hälfte abgenommen  und in die digitale Welt verlagert. Zum andern – wenn sie sich doch in der wirklichen Welt treffen – vermindert ihre Fixierung auf das Smartphone die Qualität der gemeinsam verbrachten Zeit. Die Folge sind oberflächliche Freundschaften, Isolation und eine Schwächung der Selbstidentität und des Selbstvertrauens.

Übel 2: Schlafmangel

Mit dem Einzug des Smartphones in die Kinderstube nahmen die Schlafdauer und die Schlafqualität ab. Die Auswirkungen von Schlafmangel – verursacht durch den täglich und nächtlich mehrstündigen und ungezügelten Smartphone-Gebrauch – sind sorgenvoll und führen unter anderem zu Depressionen, Angststörungen, Reizbarkeit, kognitiven Problemen, beeinträchtigtes Lernen mit schlechteren Noten.

Übel 3: Fragmentierung der Aufmerksamkeit

Das Unvermögen der Schülerinnen und Schüler, sich mit ausreichender Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, ohne sich ablenken zu lassen, ist in den Schulen zu einem grossen Problem geworden. Die Konditionierung der Kinder durch die ständigen Unterbrechungen aufgrund von Push-Nachrichten auf ihren Smartphones führt zu einer verringerten Aufmerksamkeitsspanne.

Übel 4: Abhängigkeit

In der früheren Pädagogik war der Behaviorismus  ein Lehr-/Lern-Ansatz an den Schulen. Heute kennen wir diesen zwischen Menschen und Tieren. Doch genau hier setzen die Entwickler der erfolgreichsten Social-Media-Apps an. Sie werden dafür konzipiert, die Aufmerksamkeit zu erregen und in die virtuelle Welt zu locken. Mit behavioristischen Techniken nehmen sie die Userinnen und User «an den Haken» und führen sie zur intensiven Nutzung ihrer Produkte. Das Smartphone ist zur modernen Injektionsnadel geworden, die unseren Kindern rund um die Uhr digitales Dopamin  verabreicht.

Sinnentleerende Inhalte

Die vier Übel beschreiben die negativen Auswirkungen der Social-Media-Kultur auf unsere Kinder. Der inhaltliche Austausch innerhalb der verschiedenen Apps wird oft auf einem hoch problematischen und sinnfremden Niveau ausgetragen. Es werden Themen bearbeitet, die keinen Sinn ergeben oder Mehrwert erzeugen, jedoch auf verschiedensten Ebenen zu suchtartigem Verhalten und zu den erwähnten psychischen Problemen in der adoleszenten Altersspanne führen. Emotionen sind in sozialen Medien höchst ansteckend.

Es erstaunt deshalb nicht, dass Smartphone-Freiheit im Volksschulalter als ein erster entscheidender Schritt empfohlen wird. Dass es bereits Schulen gibt, die komplett auf digitale Geräte verzichten, zeigt, dass das Pendel – wie es bei jeder technologischen Entwicklung in der Vergangenheit der Fall war – zurückschwingt; und dies auch muss. In Bezug auf die Smartphone-Frage sind das hoffnungsvolle Zeichen.

Was müssen die Politik und die verantwortlichen Behörden tun?

Im Jahr 2010 – vor rund 15 Jahren – wusste niemand, welche schädlichen Auswirkungen Smartphones auf unsere Kinder und Nachkommen haben. Heute stellen insbesondere die Lehrpersonen fest, dass ein zunehmender Teil smartphonegeschädigter und schulentfremdeter Schülerinnen und Schüler in ihren Klassenzimmern sitzen und unterrichtet werden sollten. Dieser katastrophalen Veränderung muss Einhalt geboten werden.

Ein Smarthone-Verbot lediglich während der Unterrichtsstunden ist praktisch nutzlos, findet Condorcet-Autor Niklaus Gerber.

Der Schule übergeordnet müssen Politik und die verantwortlichen Behörden auf diese Situation reagieren und mutige Entscheide fällen. Das passiert bis heute nur zögerlich. Es reicht nicht, wenn jede einzelne Schule aus Überzeugung für sich den Umgang mit Smartphones regelt und den partiell uneinsichtigen Eltern allein gegenübersteht. Smartphones im Kindesalter sind zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden. In der Mehrheit der wissenschaftlichen Stimmen wird – was den altersgerechten Einsatz dieser Kleincomputer angeht – die Altersspanne 14- bis 16-jährig erwähnt. Haidt plädiert für das Alter 16, primär aus medizinischen Gründen. Die so genannte “Grosse Verdrahtung” des Gehirns ist dannzumal weitgehend abgeschlossen.

Welches wären die positiven Folgen für die Schule?

Die Beachtung der erwähnten Altersgrenze hiesse, Smartphones aus der Volksschule zu verbannen. Auf einen Schlag würde ein solcher Entscheid vieles vereinfachen. Es reicht meines Erachtens nicht und gleicht einer “Pflästerlipolitik”, den Kindern während des Vormittags- und Nachmittags-Unterrichts die Geräte wegzunehmen, sie einzuschliessen und ihnen diese in den Pausen und über den Mittag wiederum auszuhändigen. Ein Smarthone-Verbot lediglich während der Unterrichtsstunden ist praktisch nutzlos. Die unterrichtsfreie Zeit während des Schultages soll primär dazu dienen, zumindest in diesem geschützten Rahmen die real sozialen Kontakte unter den Schülerinnen und Schüler zu pflegen und zu fördern. Die Erkenntnisse und Belege aus den Forschungen, der Medizin und den Erfahrungen an der Front erlauben ein Smartphone-Verbot bis zum Ende der Volksschule. Wir schützen und entlasten damit auch die Arbeit unserer Lehrpersonen.

Die konkreten Wirkungen eines Smartphone-Verbotes an den Volksschulen wären die folgenden:

  • Drei der vier Grundübel – die Fragmentierung der Aufmerksamkeit, die soziale Deprivation und die Abhängigkeit – würden an den Schulen stark abgeschwächt bis eliminiert.
  • Die Altersgrenze 16 resp. der Zeitpunkt des Volksschulaustritts würde zu einem vollständigen Verschwinden des Smartphone-Themas auf dieser Schulstufe führen. Im schweizerischen Bildungssystem folgt nach Ende der Volksschulzeit resp. der Sekundarstufe 1 und dem Alter 16 (oder allenfalls 15) die Sekundarstufe 2 mit den Optionen Berufslehre, Gymnasium etc. Diese Übertrittsschwelle könnte in der Smartphone-Altersfrage strukturell Sinn machen.
  • Mit einem solchen Schritt würden die Schule und ihre Lehrpersonen von einer durch die Smartphone-Problematik zusätzlichen Bürde entlastet. Ins Zentrum rückten wiederum diejenigen Kernaufgaben, welche der Schule grundsätzlich zugewiesen sind; allem voran das Lernen, die soziale Beziehungs- und Bindungsarbeit sowie die mentale Gesundheitsförderung.

Welches sind die Pflichten und Sorgen der Eltern?

Eltern sind verantwortlich für ihre Kinder. Ihre Aufgabe besteht darin, ihnen in vielerlei Hinsicht einen geschützten Raum zu bieten. Dazu gehören liebevolle Zuwendung, Sicherheit und Stabilität. Ebenso dazu gehört ausreichend Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Es ist ein Trugschluss zu meinen, dass sich diese für die Entwicklung des Kindes wertvolle Zeit delegieren lässt. Die Sorgfaltspflicht beinhaltet auch, dass Kinder genügend Schlaf erhalten und ausgeruht zur Schule gehen. Dadurch kann dem vorgenannten Übel des Schlafmangels entgegengewirkt werden.

Diese Anforderungen sind – so wie es die Coronazeit mit den Lockdowns in den Jahren 2020 bis 2022 auch nicht ist – keineswegs die Hauptursachen der erwähnten Krisen in den Schulen. Es ist primär die smartphone-basierte Situation, die um das Jahr 2010 ihren Anfang nahm.

 

Mit einem Smartphone-Verbot an den Volksschulen würde ausserdem der Druck bei denjenigen Eltern  reduziert, welche das Smartphone aus den genannten Gründen und Sorgen nicht in den Händen ihrer Kinder haben möchten. Auf der anderen Seite stehen die Aussagen der eigenen Kinder, nicht mehr dazuzugehören, ausgeschlossen und isoliert zu sein, solange sie kein eigenes Smartphone hätten. Diese Vorstellung der Aussenseiterrolle ihrer Kinder behagt nicht und ist belastend. Oft führen die Diskussionen zu familiärem Streit. Und meistens geben die Eltern in ihrer Hilflosigkeit nach.

Gerade in der Elternarbeit könnten mit ausserschulischen Begleitmassnahmen – beispielsweise in Form landesweiter Kampagnen – auf die Gefahren und schädlichen Auswirkungen auf unsere Kinder im Umgang mit Smartphones hingewiesen werden. Darüber hinaus können die Eltern selbst aktiv werden und sich in der Smartphone-Frage zu einer Allianz verbünden; im Wissen, dass Kinder gedeihen, wenn sie in Gemeinschaften der wirklichen Welt verwurzelt sind und nicht in körperlosen virtuellen Netzwerken.

Fazit

Heute werden an den Volksschulen oft die hohen Leistungserwartungen und der gleichnamige Druck auf die Kinder hervorgehoben. Sie werden als Gründe der aktuellen Probleme aufgeführt. Das ist – rein schulisch gesehen – zu bezweifeln. Es kommt mir vor, als hätte es in früheren Zeiten keine solchen Erwartungen gegeben. Seit langem wissen wir, dass hierzulande die Bildung unser Erdöl darstellt und dieses nicht wie andernorts aus dem Boden sprudelt und uns reich macht. Unser ausgereiftes Bildungssystem fusst auf dieser Erkenntnis und ist ein Anker unserer Volkswirtschaft. Leistungserwartungen an die künftigen Generationen dürfen und müssen sein. Und diese Anforderungen sind – so wie es die Coronazeit mit den Lockdowns in den Jahren 2020 bis 2022 auch nicht ist – keineswegs die Hauptursachen der erwähnten Krisen in den Schulen. Es ist primär die smartphone-basierte Situation, die um das Jahr 2010 ihren Anfang nahm.

Die Gesellschaft muss ihren Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen. Es entspricht einer Pflicht, sie vor den dramatischen Gefahren des heute viel zu frühen und ungezügelten Smartphone-Gebrauchs zu schützen. Die Volksschule muss aus diesen Gründen von Smartphones und Smartwatches befreit werden.

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Mit Tomas Kubelik begrüssen wir einen neuen Gastautor im Condorcet-Blog. Der Gymnasiallehrer und Buchautor aus Österreich vertritt eine dezidiert konservative Pädagogik und hält eine Schule, die von den Kindern zu wenig verlangt, für genauso inhuman wie eine reine Paukerschule. Wir nehmen an, dass es hier auch Widerspruch geben wird.

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