10. Oktober 2024
Bildung von Zuwandererkindern

Die Schulpflicht ausdehnen? “Ich halte das für eine sinnvolle Maßnahme”

Eine Erhebung der OECD unter Industrienationen offenbart einen verblüffenden Zusammenhang: Je später Kinder nach Deutschland einwandern, desto besser sind hier ihre Bildungsabschlüsse. Warum ist das so? Und was läuft schief mit dem Konzept der Willkommensklassen für Zuwandererkinder? Die WELT-Journalistin Freia Peters im Interview mit Havva Engin, Professorin für Pädagogik und Leiterin des Heidelberger Zentrums für Migrationsforschung.

Havva Engin selbst kam als Sechsjährige nach Deutschland, als Tochter eines türkischen Gastarbeiters. 13 Jahre später legte sie ein glänzendes Abitur ab. Auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrung kann sie erklären, was Kinder brauchen, die aus anderen Ländern ins deutsche Bildungssystem einwandern.

Gastautorin Freia Peters, Journalistin bei der WELT

WELT: Nur 23 Prozent derjenigen, die vor dem 16. Lebensjahr nach Deutschland eingewandert sind, schaffen den Abschluss an einer Uni oder Fachhochschule, aber 31 Prozent derjenigen, die nach dem 16. Lebensjahr gekommen sind. Warum erzielen Migranten, die später einwandern, bessere Abschlüsse, Frau Engin?

Havva Engin: Ich habe eine Vermutung. Die Älteren kommen mit einer abgeschlossenen Schulbildung, die sie in ihrem Herkunftsland durchlaufen haben. Sie müssen ihre Bildungslaufbahn nicht mittendrin unterbrechen und sich auf ein völlig anderes System einlassen – dazu noch, ohne Deutsch zu sprechen. Sie haben das Lernen schon gelernt.

WELT: Hat sich das System der Willkommensklassen, in denen die Einwandererkinder zunächst hauptsächlich Deutsch lernen, nicht bewährt?

Engin: Das Prinzip ist richtig, vor allem seit es die Gesetzesänderung 2015 gegeben hat, wonach diese internationalen Klassen zeitlich begrenzt sind und die Schüler nach zwei, allerspätestens drei Jahren in die Regelklassen wechseln. Das Problem ist aber, dass die Willkommensklassen hauptsächlich an den gering qualifizierten Schularten eingerichtet werden, in meinem Bundesland Baden-Württemberg etwa vor allem an den Haupt- und Werkrealschulen. Die Schüler wechseln dann in die Regelklassen an ihren Schulen. Von den – sagen wir mal – 25 Schülern verfügen vielleicht aber zwölf über das Potenzial, das Abitur zu machen. Aber diese Ressourcen werden nicht ausgeschöpft.

Havva Engin: “Nach Abschluss der Willkommensklasse muss ein Wechsel an eine andere Schulform gefördert werden. Denn den höheren Abschluss erst im Nachhinein nachzuholen, gleicht einer Ochsentour.” (Bild: zvg via Havva Engin)

WELT: Glauben Sie nicht, dass Lehrer ihren Schülern mit einer guten Berufsbildungsreife oder einem ausgezeichneten Mittleren Schulabschluss empfehlen, auf die Realschule oder in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln?

Engin: Ich glaube, dass das Problem früher entsteht. Die Kinder kommen in Klassenverbände, die vom Leistungsniveau ohnehin niedrig sind. Sie lernen nicht in einer anregenden Umgebung und orientieren sich an dem Niveau in der Klasse und nicht an dem, was sie eigentlich leisten könnten. Daher brauchen wir mehr Willkommensklassen an Realschulen und Gymnasien. Zudem muss nach Abschluss der Willkommensklasse ein Wechsel an eine andere Schulform gefördert werden. Denn den höheren Abschluss erst im Nachhinein nachzuholen, gleicht einer Ochsentour.

WELT: Dann stimmt der Leitsatz, je eher ein Kind einwandert, desto besser, folglich so nicht. Gibt es ein Alter, mit dem eine Einwanderung besonders schwierig ist?

Engin: Mit etwa 15 Jahren ist es tatsächlich besonders problematisch. Diese Jugendlichen sind zu jung für den Arbeitsmarkt und zu alt für die Schule. Bei uns landen sie dann meistens in Vabo-Kursen an den Berufsschulen, also sogenannten Vorqualifizierungsjahrgängen Arbeit und Beruf ohne Deutschkenntnisse. Hier sollen sie Deutsch lernen, den Hauptschulabschluss erwerben und sich Bewerbungstechniken für die Ausbildungssuche aneignen. Doch viele schaffen das innerhalb der vorgesehenen zwei Jahre einfach nicht.

“In den ersten drei Jahren wird die Sprache angelegt. Wenn die Kinder aber erst mit drei Jahren in die Kita kommen, haben sie schon eine große Chance verpasst.”

 

Mit dem Ende der Schulpflicht am 18. Geburtstag fliegen sie dann aus dem System, denn die Zeit, die ihnen verbleibt, reicht einfach nicht, um beides zu schaffen: die Sprache zu lernen und sich in einem völlig neuen System zurechtzufinden. Viele verlassen dann mit 18 Jahren den Lehrgang und stehen ohne irgendeinen Abschluss da.

WELT: Müsste man die Schulpflicht also weiter ausdehnen?

Engin: Bayern hat das gemacht und die Berufsschulpflicht für Jugendliche bis 21 Jahren festgelegt, sofern sie noch keine neun Jahre zur Schule gegangen sind. Ich halte das für eine sinnvolle Maßnahme, damit die Jugendlichen mehr Zeit im System bleiben und eine Chance haben, sich zurechtzufinden. Wenn ich Jugendliche in dieser Phase ausbremse, kann das tragisch enden. Dann wird Schule nur noch ein Reparaturbetrieb.

WELT: Je früher fördern, desto besser – warum scheint das nicht zu gelingen, wenn Kinder im Kleinkindalter nach Deutschland kommen?

Engin: Die Kinder mit Migrationshintergrund sind in den Kitas weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Laut dem Bildungsbericht der Bundesregierung besuchen gerade einmal 22 Prozent der Unter-Dreijährigen die Kita – im Vergleich zu 44,5 Prozent der Kinder ohne Migrationshintergrund. In den ersten drei Jahren wird die Sprache angelegt. Wenn die Kinder aber erst mit drei Jahren in die Kita kommen, haben sie schon eine große Chance verpasst. Die Sprachentwicklung verschleppt sich, das ist meist nicht aufzuholen.

WELT: Vorreiter in frühkindlicher Bildung ist ja Hamburg, vor der Einschulung konsequent Sprachförderung zu betreiben.

Engin: Das Hamburger System ist in der Tat ein Erfolgsmodell, das seit der vergangenen Woche nun in Baden-Württemberg eingeführt wurde. Mit 4,5 Jahren werden nun alle Kinder getestet, und wenn nötig, bekommen sie vier Stunden pro Woche sprachliche Förderung – entweder in der Kita oder in der Vorschule. Das sollte flächendeckend allen Kindern in Deutschland zugutekommen – egal ob die Kinder Kevin, Ali oder Vitali heißen.

 

Politikredakteurin Freia Peters berichtet für WELT über Familien- und Gesellschaftspolitik sowie Bildung.

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