29. März 2024

Vorbild Finnland? Die Wahrheit über das einst beste Schulsystem der Welt

Finnische Schulen waren die besten der Welt. Ihre Schüler landeten in internationalen Vergleichen ganz oben. Inzwischen jedoch werden sie seit 20 Jahren kontinuierlich schlechter. Experten erkennen vor allem zwei Gründe – und haben eine Warnung für Deutschland parat. Tobias Kaiser, Journalist der Zeitung “Die Welt”, berichtet über einen phänomenalen Abstieg.

Es gibt Befunde, die können Politiker kaum beschönigen. „Wir sind nicht länger das Land mit der besten Bildung. Unsere jungen Menschen sind nicht mehr die schlausten.“ Mit diesen Worten kommentierte Anita Lehikoinen, Staatssekretärin im finnischen Bildungsministerium, die Befunde einer Studie ihres Ministeriums. Mit dem Eingeständnis hat die Politikerin in ihrem Land eine hitzige nationale Debatte über die Probleme an finnischen Schulen befeuert.

Für deutsche Beobachter kommt die Diskussion überraschend. Hierzulande und anderswo in der Welt gilt das finnische Schulsystem immer noch als eines der besten weltweit, wenn nicht gar als das Beste. Dieser Nimbus rührt von den exzellenten Ergebnissen finnischer Schüler im sogenannten Pisa-Vergleich der OECD.

Vom Pisa-Musterknaben zum gefallenen Engel…

Die erste Veröffentlichung des internationalen Vergleichs Ende 2001 sorgte in Deutschland wegen der mediokren Ergebnisse deutscher Schüler für heftige Diskussionen und in einzelnen Bundesländern zu Reformen. Hierzulande wie anderswo galt Finnland beim Pisa-Vergleich als „Testsieger“. Die Schüler dort erzielten im internationalen Vergleich überdurchschnittliche Ergebnisse beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Bildungsexperten aus aller Welt pilgerten in den Folgejahren nach Finnland, um vor Ort herauszufinden, warum die finnischen Schulen so erfolgreich sind.

Das Land leiste sich „im hohen Maße eine Vergeudung menschlicher Potenziale“, kritisiert ein renommierter Bildungsforscher

Die Bildungsrendite der Mittelschicht steht auf dem Spiel

Dabei gelten die heimischen Schulen in Finnland selbst trotz allen Stolzes über das globale Renommee inzwischen als Problemfall. „Die Leistungen des finnischen Schulsystems verfallen seit 20 Jahren und der Abstieg hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt“, sagt Jaakko Salo, Leiter des Bereichs Bildungspolitik bei der finnischen Lehrergewerkschaft OAJ. „Das sieht man deutlich in den nationalen Evaluationen, aber auch im internationalen Pisa-Vergleich. Egal ob Lesen, Schreiben oder Mathematik, das Bild ist überall das gleiche.“

Dass Gewerkschafter die Bedingungen an Schulen beklagen, ist erwartbar. Aber internationale Experten bestätigen den Befund. „Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich. Diesen Trend beobachten wir in den internationalen Vergleichsdaten seit einigen Jahren und er betrifft alle Leistungsbereiche“, sagt Andreas Schleicher. Der Bildungsforscher koordiniert die Pisa-Studie, eine exponierte Stellung, die ihm den Beinamen Mister Pisa eingebracht hat.

“Der Leistungsabfall des finnischen Schulsystems ist sehr deutlich.”

Andreas Schleicher, Bildungsforscher

 

Das finnische Schulsystem ist im internationalen Pisa-Vergleich immer noch gut, aber es ist nicht mehr exzellent. Auch das Leistungsbarometer der OECD für Finnland illustriert, dass die einstigen Vorzeige-Schulen mit Problemen kämpfen. Das durchschnittliche Kompetenzniveau in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften sinkt demnach seit der Jahrtausendwende und der Anteil leistungsstarker Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften nahm in den vergangenen zwanzig Jahren stark ab.

Der Anteil leistungsschwacher Schüler steigt dagegen kontinuierlich. Finnische Studien sprechen davon, dass finnische Schüler in den vergangenen Jahrzehnten das Leistungsäquivalent von ein bis zwei Schuljahren verloren haben.

Blick in den Rückspiegel

„Die finnischen Pisa-Ergebnisse, die die ganze Welt beeindruckt haben, waren tatsächlich ein Blick in den Rückspiegel und haben von Anfang an ein falsches Bild vom Zustand des Schulsystems gezeichnet“, sagt Bildungsexperte Salo. „Als die tollen Pisa-Ergebnisse damals direkt nach der Jahrtausendwende veröffentlicht wurden, befand sich das finnische Schulsystem bereits im Abstieg.“

Zur am besten ausgebildeten Altersgruppe zählen laut Studie Finnen, die im Jahr 1978 geboren wurden, Mitte der 1990er-Jahre die Schule abgeschlossen haben und heute 44 oder 45 Jahre alt sind. Nachfolgende Altersgruppen hätten dieses Bildungsniveau nie wieder erreicht, heißt es in der Untersuchung.

Die Ursachen für die Malaise des finnischen Bildungssystems werden unter Experten schon länger diskutiert. „Migration und die dadurch zunehmende Vielfalt der Schülerschaft ist ganz klar ein Grund für den Leistungsabfall des finnischen Schulsystems“, sagt OECD-Koordinator Schleicher.

Experte: Migration hat Schulsystem überrascht

Die nordischen Staaten seien von der Migration nach 2015 noch stärker betroffen gewesen als Deutschland. „Die Flüchtlingsmigration hat das finnische Schulsystem überrascht“, sagt Schleicher. „Es hatte zum einen nicht die nötigen Kapazitäten, zum anderen kamen dazu Sprachprobleme und der andere kulturelle Hintergrund. Das hat Finnland kalt erwischt.“

Diese Entwicklung müsse auch Deutschland ernst nehmen, sagt der Bildungsforscher. Bei der schulischen Integration von Migrantenkindern gilt Deutschland als schlecht aufgestellt. Deutsche Bildungspolitiker könnten von Kanada, Norwegen und anderen Ländern mit guten Erfahrungen lernen, sagt Schleicher.

Er warnt allerdings vor überzogenen Erwartungen. „Schweden war früher mal ein Vorbild, aber dort sind die Schulen von Migranten geradezu überrannt worden und das Bildungssystem kommt nicht mehr mit.“ Vor dieser Herausforderung stehe Deutschland auch. „Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig; ich kenne kein Land, das damit besonders gut umgehen kann“, sagt Schleicher. Lediglich Kanada leiste bei der Bildungsintegration fantastische Arbeit.

“Sobald der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 40 oder 45 Prozent liegt, wird es schwierig.”

Andreas Schleicher, Bildungsforscher

 

Eine andere Ursache der finnischen Misere liefert Bildungspolitikern weltweit eine weitere Warnung: Eine ambitionierte und überstürzte Reform der finnischen Lehrpläne hat die Lehrer verunsichert und vielfach überfordert. Das Bildungsministerium hat vor einigen Jahren eine radikale Wende vollzogen vom Unterricht mit festen Lehrinhalten hin zum Lernen, das sich an Phänomenen orientiert. Dabei werden nicht mehr einzelne Schulfächer unterrichtet. Stattdessen unterrichten die Lehrer Themenkomplexe, die aus unterschiedlichen Fachrichtungen besprochen werden.

„Auf das an Phänomenen orientierte Lernen war das finnische Schulsystem nicht richtig vorbereitet“, sagt OECD-Experte Schleicher. Inzwischen werde gegengesteuert und die Lehrpläne orientierten sich wieder mehr am traditionellen Lernen.

Die Chancengleichheit in finnischen Klassenzimmern ist zurückgegangen.

Die OECD-Daten zeigen auch, dass die Chancengleichheit im finnischen Schulsystem in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist – ein Befund, der in Finnland besonders schmerzen dürfte. Die Fähigkeit, auch Kinder mit schlechten Bildungsvoraussetzungen so zu fördern, dass sie zu privilegierteren Kindern aufschließen können, galt immer als eine der größten Leistungen der finnischen Schulen. Auch das hat sich geändert.

Ein Grund: Weniger Geld für Bildung. In der finnischen Banken- und Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahre und in den Jahren danach hat die finnische Regierung die Bildungsausgaben stark gekürzt. „Die Bildungsausgaben sind um ein Viertel gefallen und haben nie wieder das vorangegangene Niveau erreicht“, sagt Regierungsberater Aleksi Kalenius.

Die Folge: Schulen und Gemeinden fehlt Geld für teure individuelle Förderung. „Jetzt haben wir einige Kinder, die aus der Grundschule kommen und weder schreiben, lesen noch rechnen können“, sagt OAJ-Experte Salo. „Das war noch vor 15 Jahren undenkbar.“

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