5. Oktober 2024

«Schon 10 Meter ein Problem»: Haben Berns Kinder das Schwimmen verlernt?

In manchen Berner Schulen ist der Schwimm­unterricht rar. Corona hat das Niveau weiter gesenkt – und auch die kühleren Wasserbecken sind ein Problem, stellt Gastautor Christoph Albrecht in einem Artikel für die Zeitung “Der Bund” fest.

Würden die Schülerinnen und Schüler aus Muri und Niederbipp im Wasser gegeneinander antreten – der Schwimmwettkampf ginge mit grosser Wahrscheinlichkeit zugunsten von Muri aus. Aus einem einfachen Grund: Im Berner Vorort findet von der 1. bis 4. Klasse jede zweite Woche eine Sportlektion im Wasser statt. In der Oberaargauer Gemeinde hingegen haben nur die Dritt- und Viertklässler Schwimmunterricht – und besuchen während der zwei Schuljahre insgesamt bloss 18 Lektionen.

Geht es um den Schwimmunterricht, ist der Kanton Bern ein Flickenteppich. Jede Gemeinde und jede Schule handhabt es anders. Manche haben den Schwimmunterricht fix im Stundenplan eingeplant, bei anderen ist er eher eine lästige Alibiübung.

Kanton schreibt keine Lektionen vor

Ein Grund für die uneinheitliche Handhabe ist der Lehrplan, der im Kanton Bern nicht eine bestimmte Anzahl an Schwimmlektionen vorschreibt. Die einzige Vorgabe: Ende der 4. Klasse muss jedes Kind den sogenannten Wassersicherheits­check absolviert haben. Der Test verlangt, dass sich jemand eine Minute lang an Ort über Wasser halten, 50 Meter schwimmen sowie vom Beckenrand einen Purzelbaum ins Wasser schlagen und danach selbstständig aussteigen kann. Wie sich die Kinder diese Kompetenzen aneignen, ist jeder Schule selber überlassen.

    «Das Schwimmen wird in der Volksschule leider nicht mehr so konsequent unterrichtet wie früher.»

Stephan Sailer, Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule

Immer weniger Kinder können schwimmen

«Uns ist es ein Anliegen, dass jedes Kind schwimmen kann», sagt Rolf Rickenbach, Schulleiter der Schule Muri. Deshalb beginne man damit bereits ab der 1. Klasse und verteile die Schwimmlektionen regelmässig über das ganze Schuljahr. «Der Lerneffekt ist so grösser.» Dass Muri grossen Wert auf gute Schwimmfähigkeiten legt, hat laut Rickenbach zudem mit der Nähe zur Aare zu tun.

Gemeinden wie Muri haben allerdings auch das Privileg, über ein eigenes Lehrschwimmbecken zu verfügen – im Gegensatz zu vielen anderen, die keine Infrastruktur haben und auf Bäder in der Umgebung ausweichen müssen. Für diese Schulen wird der Schwimmunterricht zuweilen zum Kraftakt.

Schulen drücken sich

«Der Aufwand ist zeitlich wie auch finanziell gross», sagt Gisela Schären, Schwimmfachperson an der Schule Niederbipp. Die Schülerinnen und Schüler müssen für die Schwimmeinheiten jeweils mit einem von der Gemeinde gemieteten Car ins solothurnische Balsthal fahren. Laut Schären ist der personelle Aufwand nicht zu unterschätzen. «Neben mir als Schwimmlehrerin und der jeweiligen Klassenlehrkraft unterstützen uns auch noch ein bis zwei Elternteile vor Ort.»

Für Stephan Sailer sind die teilweise schwierigen Voraussetzungen für den Schwimmunterricht ein Problem. «Das Schwimmen wird in der Volksschule leider nicht mehr so konsequent unterrichtet wie früher», sagt der Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule. Weil keine klaren Unterrichtseinheiten verlangt würden, könnten sich manche Schulen für seinen Geschmack zu einfach drücken.

Ausgebuchte Schwimmbecken

Die immer knapper werdenden Schwimmflächen im Kanton Bern liessen ihnen zum Teil aber auch fast keine andere Wahl. «Die Bäder sind oft so ausgebucht, dass sich als Schule kaum noch ein freies Zeitfenster finden lässt», so Sailer.

    «Das Niveau hat abgenommen.»

Stephan Sailer, Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule

 

Unter der Pandemie hat der Schwimmunterricht zusätzlich gelitten. Im Kanton waren einige Bäder wegen der Ansteckungsgefahr über längere Zeit zu, die ohnehin schon spärlichen Schwimmlektionen fielen deshalb mancherorts ganz ins Wasser. «Es gibt Kinder, welchen mehr als ein Jahr Schwimmunterricht fehlt», so Sailer.

Corona hat die Schwimmdefizite bei den Schulkindern verstärkt

Das schlägt sich in den Schwimmfähigkeiten nieder. «Das Niveau hat abgenommen», sagt Sailer. Offizielle Zahlen dazu gebe es zwar nicht. Die Rückmeldungen vieler Sportlehrpersonen gingen aber klar in diese Richtung. «Schon 10 Meter zu schwimmen, bedeutet für manche ein Problem.»

Hohe Durchfallquote bei Schwimmtest

Eine Umfrage dieser Zeitung bei über einem Dutzend Berner Gemeinden bestätigt, dass Corona die Situation mancherorts verschärft hat. «Seit der Pandemie sind definitiv Defizite festzustellen», heisst es etwa in Schwarzenburg. Auch Thun oder Lyss berichten von schlechteren Schwimmfähigkeiten. Als Kompensation wird in Lyss der Schwimmunterricht dieses Jahr deshalb zusätzlich auch in den 5. und 6. Klassen angeboten.

Vereinzelt ist die Durchfallquote beim Wassersicherheits­check zudem drastisch gestiegen. So berichtet etwa Köniz, das als einige der wenigen Gemeinden überhaupt Statistik führt, von 12 Prozent, welche beim Test in den Vor-Pandemie-Jahren jeweils durchfielen. 2020 betrug die Durchfallquote bereits 15 Prozent, ein Jahr später 20 Prozent und 2022 schliesslich 28 Prozent.

Frierende Kinder

Und nun erschwert die Energiekrise den Schwimmunterricht zusätzlich. Um Energie zu sparen, hatten im Herbst viele Berner Gemeinden in ihren Bädern die Wassertemperatur gesenkt. Die Folge: «Die Kinder haben kalt, während sie die Instruktionen der Schwimmlehrperson abwarten müssen», so die Rückmeldung aus Schwarzenburg. Die Konzentration und die Schwimmtechnik würden leiden, zudem gehe die Freude am Schwimmen verloren.

Schwimmen macht Kindern nur Spass, wenn sie dabei nicht frieren

Auch Muri hatte damals die Wassertemperatur von 28 auf 26 Grad gesenkt. Bereits nach zwei Wochen musste die Gemeinde dies aber wieder rückgängig machen, weil die Kinder froren und Eltern und Lehrkräfte reklamierten.

    «Es wächst hier eine Generation heran, die kaum Wasserkontakt hat.»

Andrea Zryd, SP-Grossrätin

 

Andrea Zryd machen die Widrigkeiten, welchen der Schwimmunterricht ausgesetzt ist, Sorgen. «Es wächst hier eine Generation heran, die kaum Wasserkontakt hat», sagt die SP-Grossrätin und Präsidentin von Bernsport, der Vereinigung der bernischen Sportverbände. Zryd arbeitet in Biel selber als Sportlehrerin. Für sie geht es aber nicht nur um den Sicherheitsaspekt. «Kann jemand nicht richtig schwimmen, löst dies Scham aus und kann zu Ausgrenzung führen», sagt sie.

SP-Grossrätin Andrea Zryd will das Problem auf politischem Weg angehen

Von der Situation besonders benachteiligt seien Kinder mit Migrationshintergrund. «Sicheres Schwimmen hat in ihrer Kultur oftmals nur einen geringen Stellenwert», so Zryd. Im Gegensatz zu Schweizer Kindern könnten sie ihre Defizite aufgrund der bescheideneren finanziellen Möglichkeiten der Eltern zudem oftmals nicht mit privaten Schwimmkursen ausgleichen.

Sind mobile Schwimmtrucks nötig?

Zryd hat im Kantonsparlament deshalb einen Vorstoss eingereicht. Dieser fordert die Einführung von Schwimmgutscheinen. Solche sollen vom Kanton an Schulen ausgerichtet werden, die den Schwimmunterricht selber nur ungenügend umsetzen können. Das Ziel ist, dass betroffene Schülerinnen und Schüler die Gutscheine bei privaten Schwimmkursanbietern einlösen können.

Das grösste Problem bleiben laut Zryd aber die knappen Wasserflächen im Kanton, die durch Bäderschliessungen wie aktuell im Seeland sogar weiter abnehmen würden. Dass in der Stadt Bern mit der neuen Schwimmhalle im Neufeld ab kommendem Herbst dringend benötigte Fläche dazukomme, ist laut Zryd zwar eine Entlastung. «Es wird aber nicht reichen.» Der Bau solcher Hallen sei teuer und werde daher kaum zur Regel.

Wichtiger sei, dass Gemeinden sich künftig vermehrt zusammentäten und die Kosten für Bäder gemeinsam trügen. Eine Notlösung für die Wasserangewöhnung sähe sie zudem in mobilen Schwimmtrucks mit integriertem Minibecken, wie es sie in Deutschland oder Dänemark bereits gebe, die von Gemeinde zu Gemeinde führen.

Visualisierung der Schwimmhalle Neufeld in Bern

Stephan Sailer, der Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule, begrüsst solche Ideen grundsätzlich. Auch Traglufthallen, wie sie etwa die Gemeinde Zuchwil im Winter jeweils über dem örtlichen Freibad installiere, fände er schon hilfreich.

“Schwimmen ist nicht nur Sport, es geht auch ums Überleben.”

Stephan Sailer, Präsident des Bernischen Verbands für Sport in der Schule

 

Elementar ist für Sailer aber, dass sich die Vorgaben des Kantons ändern – und künftig überall eine verbindliche Minimalanzahl an Schwimmlektionen gilt. «Das würde den Druck auf die Schulen erhöhen.» Auch fände er es zumindest diskutabel, den Schwimmunterricht vom Sportunterricht abzukoppeln. Denn es gehe nicht – wie etwa bei einem Handstand – um einen Lerninhalt, den man könne oder halt nicht. «Schwimmen ist nicht nur Sport, es geht auch ums Überleben.»

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