5. Dezember 2025

Mut zur Freiheit

Überlastung und Anpassungsdruck war das Thema der 2. Tagung «Time for Change?» in Wuppertal, die durch ihre ungeschminkten Analysen Mut machte für einen Kurswechsel im deutschsprachigen Bildungswesen.

Der Konferenzleiter Jochen Krautz von der Bergischen Universität Wuppertal stellt in seinem Eröffnungsreferat fest, dass das Kerngeschäft des Unterrichtens anspruchsvoller, die Ressourcen jedoch knapper geworden sind. Die Bewältigung der herrschenden Bildungsmisere mit dem unübersehbaren Sinken des Leistungsniveaus wird jedoch denjenigen überlassen, die nicht dafür verantwortlich sind: den Lehrern. Gleichzeitig sollen diese nicht über Sinn und Unsinn der erfolgten Reformen diskutieren, dafür sorgt eine konsequent tief gehaltene hegemoniale Diskursschranke. Weisungen sollen nicht diskutiert, sondern ausgeführt werden. Wichtiger als eine inhaltliche Verbesserung ist der Bildungspolitik die glänzende Aussenwirkung, beispielsweise im Bereich der ICT.

Widerstand gegen das Rennen im Hamsterrad

Der «rasende Stillstand», wie die Reformhektik auch an Schweizer Schulen erlebt wird, sei ein verkapptes Machtinstrument. Krautz knüpft dabei an die letztjährige Konferenz an, wo erläutert wurde, wie die Erhöhung des Leidensdrucks ein bewusstes Mittel des Chance Managements darstellt. Das Hecheln und Hasten im Hamsterrad – die Metapher diente als Tagungsmotto – löst aber keine Probleme. Im Gegenteil: Die Schule wird zu einem «parasitären System des Verschleisses», zu einer «Burnout-Maschine». Es wird den Lehrern vorgegaukelt, dass subjektive Achtsamkeit (genügend Schlaf, gesunde Ernährung, Umgang mit Konflikten etc.) genüge, um das objektiv existierende Problem der Überlastung zu lösen.

Silja Graupe (Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues) schliesst sich in ihrer Analyse Krautz an: Systemische Probleme können wir nicht individuell lösen. Es bringe nichts, wenn die Lehrer lernten, Stress zu managen. Das Hamsterrad könne und müsse mit gemeinsamem Widerstand gestoppt werden. 

In Wuppertal war auch eine ansehnliche Schweizer Delegation dabei. Bild: Jennifer Lubahn

Keine Alternative zur Freiheit

Matthias Burchardt (Universität zu Köln) greift diesen Faden auf und wird dabei in Anlehnung an Rio Reiser überdeutlich: «Kaputt machen, was uns kaputt macht». Für ihn ist die pädagogische Freiheit die Voraussetzung für das Wahrnehmen von Verantwortung. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen – doch wurde speziell die erstere in den letzten Jahren durch Anpassungsdruck untergraben. Gegängelte «Lehrercomputer» können keine freien Wesen erziehen. Nicht die zahlreich erfolgten «Innovationen» sind alternativlos, wie uns von politischer Seite pausenlos versichert wird. Alternativlos ist die pädagogische Freiheit – sie ist die Quelle aller Alternativen, ohne sie werde die Schule zum Ort der organisierten Verantwortungslosigkeit.

Aus Schweizer Sicht bedeutungsvoll war der Vortrag von Carl Bossard (PH Zug), der Freiheit mit zwei «W» verankerte: Wilhelm Tell und Wilhelm von Humboldt. Aus seinem reichen Erfahrungsschatz zeigte Bossard eindrucksvoll, wie Freiheit mit Verantwortung untrennbar verknüpft ist. Die fundamentale Aufgabe der Schulleitung ist es laut Bossard, die Garantin dieser pädagogischen Freiheit zu sein. Dabei gelte es jedoch immer, die Balance zu halten zwischen Freiheit und (notwendigen) Regeln.

Karl-Heinz Dammer (PH Heidelberg) beleuchtet die Qualitätskontrolle an Schulen in Nordrhein-Westfalen und stellt dabei fest, dass die Kriterien nicht ausschliesslich auf wissenschaftlicher Basis fussen. Es gibt beispielsweise keine empirischen Grundlagen für die Wirksamkeit des selbstgesteuerten Lernens. Trotzdem erscheint ihre Umsetzung auf den Beobachtungsbögen der Evaluatoren. Interessant ist, dass Schulleitungen eher an die Wirksamkeit der externen Unterrichtsbeobachtung glauben als Lehrer. Effektiv zeigt sich aber eine kaum feststellbare Wirkung auf den Unterricht. Dazu kommt, dass die Lehrer aus Anlass der Beobachtung «potemkinschen Unterricht» abhalten, der wenig mit der üblichen Praxis gemein hat.

Rezepte für Schulleiter

Welche Mittel einer Schulleitung zur Verfügung stehen, veranschaulicht Michael Rudolph, der mit der Bergius-Schule in Berlin vor Jahren eine Realschule übernommen hatte, die aufgrund zunehmender Gewalt unter den Schülern sinkende Schülerzahlen verzeichnete und deshalb vor der Auflösung stand. Er schaffte den Wandel zu einer attraktiven Schule mit mehr Anmeldungen, als es Plätze gibt, indem er seine Schule auf genau die zwei Säulen stellte, die seines Erachtens jede gute Schule ausmachen:

1. Unterricht, der die Schüler an ihre Leistungsgrenze bringt und

2. Erziehung – Regeln müssen durchgesetzt werden.

Ein Bonmot mit Bezug zum vorangegangenen Referat: So sage der Zustand des einzigen Ortes, an den sich die Schülerinnen und Schüler ohne jede Kontrolle an einer Schule zurückziehen könnten, mehr aus über die faktischen pädagogischen Anstrengungen und gelungenen Unterricht als jede externe Schulevaluation –ein Blick in die Schultoiletten spare viel Geld und erübrige den ineffizienten Aufwand des Schulinspektorates. Bezüglich der Methoden gibt sich der Schulleiter pragmatisch: Für ihn gibt es nur zwei Arten von Unterricht: wirksamen und unwirksamen. Ist für Bossard der Schulleiter der Garant für die Freiheit seiner Lehrer, sieht sich Rudolph schlicht als ihr Dienstleister. Doch beide sind sich einig darin, dass es eine zentrale Aufgabe der Schulleitung sei, Weisungen und Reformen von oben zu filtern – im Ausnahmefall auch mal zu ignorieren –, so dass die Lehrerschaft nicht vom eigentlichen Kerngeschäft abgehalten werde.

Den Abschluss der Vortragsreihe macht Volker Ladenthin (Universität Bonn), der die Umstrukturierung der Lehrer-Ausbildung kritisch hinterfragt. So wurde die Rollenverteilung zwischen Universität und dem Zentrum für Lehrerbildung in dem Masse umgebaut, dass die Universität neuerdings praxisorientiert zu sein habe: Nicht mehr das wissenschaftliche Durchdringen des Faches, sondern Themen aus der Praxis sollen behandelt werden. Darin sieht Ladenthin eine problematische Unterordnung. Die Lehrerbildung werde so zum Spielball politischer Interessen und die Wissenschaft zur «Akzeptanzbeschaffung» für zweifelhafte Entscheide degradiert und pervertiert.

Die sinnvoll strukturierten Themenblöcke ermöglichten es, dass die Referenten häufig Verbindungen zu bereits Gehörtem machen konnten. Ausserdem erlaubten die zahlreich eingebetteten Diskussionsrunden einen Einblick in die Gemütslage der Lehrerschaft. Die Teilnehmer wurden durch die hochstehenden Beiträge und durch das Zusammentreffen mit Gleichgesinnten ermutigt, für die pädagogische Freiheit einzutreten und sie auch wahrzunehmen.

Urs Kalberer

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