21. November 2024

Abschaffung der Kleinklassen mit Folgen für den Berufsfindungsprozess

Der Heilpädagogik-Dozent Riccardo Bonfranchi macht sich seit langem für die Kleinklassen stark. Ihre Abschaffung und die des Werkjahres, so die zentrale These in diesem Beitrag, führe bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern zur Deprofessionalisierung der vormals guten und notwendigen Betreuung.

Riccardo Bonfranchi

Die Berufsfindung nimmt im Leben lernbehinderter Jugendlicher eine eminent wichtige Rolle ein. Der Weg dorthin unterscheidet sich fundamental von dem für geistig behinderte Jugendliche, die aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigung keine Chance auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt haben und für die es deshalb andere Lösungen gibt. Das gilt nicht für lernbehinderte Jugendliche, die nach ihrer Schulzeit auf einem Niveau zwischen der 4. und  6. Klasse abschliessen und mit entsprechender Begleitung im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen sollen. In der Regel besteht der Anschluss nicht in einer Lehre (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis, EFZ), sondern bewegt sich im Bereich des Eidgenössischen Berufsattests (EBA), ehemals Anlehre genannt. Diese Problematik hat man bereits in den 1970er Jahren erfasst und gehandelt, indem man das sogenannte Werkjahr konzipiert hatte, eine äusserst effiziente und erfolgreiche Einrichtung. Es fiel zwischen 2005 – 2015 dem Integrations-Hype zum Opfer und wurde aufgelöst. Ersatzlos. Dabei gab es meines Wissens keine Qualitätskontrolle bei der Entscheidung.

Man tat es einfach, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen.

Man tat es einfach, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Das gilt es nachzuholen, indem ich einen Blick werfe auf die spezifische Aufgabenstellung des Werkjahres – die es übrigens in allen Deutschschweizer Kantonen gab – und auf den Versuch, diese grosse Lücke heute durch ein deprofessionalisiertes Mentoring zu füllen.

Das Werkjahr

Werkjahre hatten eine wichtige Funktion

Man tat es einfach, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Um lernbehinderte Schülerinnen und Schüler kompetent in den ersten Arbeitsmarkt zu führen, gab es das Werkjahr in sämtlichen Kantonen. In einigen war es als obligatorisches 9. Schuljahr, also als Abschlussjahr der Kleinklassen, konzipiert, in anderen Kantonen als freiwilliges 10. Schuljahr. Die Inhalte waren aber überall mehr oder weniger gleich.

Im ersten Quartal hatte der Berufswahlunterricht (Fach: Arbeitslehre) neben dem Allgemeinbildenden Unterricht (Rechnen, Deutsch, Staatskunde, Geographie/Geschichte) und den manuellen Fächern (Hauswirtschaft, Textil, Holz, Metall, ev. auch noch Stein und Farbe) einen zentralen Stellenwert. Zusätzlich zu allgemeinen Informationen zur Arbeitswelt wurden Informationstage in einzelnen Branchen vorbereitet und durchgeführt. Jede Schülerin und jeder Schüler hatte während des ersten Quartals etwa acht Informationstage in unterschiedlichen Branchen zu absolvieren. Ergänzt wurden sie in der Schule mit dem Material der Berufsberatung und Handwerklich-motorischen Eignungstests (HAMET). Einzelgespräche mit den Lernenden und ihren Eltern dienten dazu festzustellen, in welchen Bereichen ihr Kind Schnupperlehren absolvieren sollte. Während dieser zweiwöchigen Schnupperlehren wurden die SchülerInnen von ihrer Lehrkraft aktiv betreut und erhielten Unterstützung, indem diese im Betrieb vorbeischaute. Nebenbei erwähnt: Lehrbetriebe sind mit der Zeit dazu übergegangen, nur noch einwöchige Schnupperlehren anzubieten, zum Nachteil lernbehinderter Kandidaten, da diese oft länger brauchen, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden und zu akklimatisieren. Die Praxis hat gezeigt, dass Lernbehinderte bis zu fünf Schnupperlehren absolvieren müssen, damit sie ihr volles Potential abrufen können. Auch dafür brauchen sie eben länger als ein durchschnittlich begabter Schüler aus der Regelschule. Das Werkjahr bot hierfür die nötige Zeit.

Werkjahre waren ein hochspezialisierter Schultypus

Aufgrund der Veränderung der Arbeitswelt in den letzten 30 Jahren erscheint die Existenz eines solchen Werkjahres notwendiger denn je. Leider hat man sich für das Gegenteil entschieden, nämlich die Abschaffung dieses differenzierten, hoch-spezialisierten und professionell die Probleme angehenden Schultypus. Wer darunter zu leiden hat, muss hier nicht weiter erwähnt werden. Ich habe bereits in anderen Publikationen die Auswirkungen moderner Technologien auf lernschwächere Jugendliche ausführlich erläutert und beschränke mich hier auf eine Zusammenfassung in Form von 10 Thesen:

  1. Die Auswirkungen moderner Technologien auf lernschwächere Schüler und Schülerinnen im Arbeitsbereich sind evident.
  2. Die Bewältigung der Umwelt verändert sich nicht nur durch die Einführungen elektronischer Geräte, elektronisch gesteuerter Maschinen, social-media etc., sondern vor allem auch durch die ungeheure Komplexitätszunahme ehemals einfach zu durchschauender Abläufe.
  3. Lernschwächere Schülerinnen und Schüler laufen Gefahr, durch diese technologische Revolution verstärkt ins Hintertreffen zu geraten, und sind einer sich verstärkenden Marginalisierung ausgesetzt sind.
  4. Die fortschreitende Automatisierung, insbesondere im handwerklich und in intellektuell weniger anspruchsvollen Berufsbereichen führt zu einer zunehmenden Dequalifizierung lernbehinderter Schüler.
  5. Dem steht eine Zunahme an Anforderungskomponenten gegenüber, wie Flexiblität, Teamfähigkeit, dauernde Lernbereitschaft, erhöhtes Symbolverständnis, erhöhter Abstraktionsgrad etc., Kompetenzen, die diametral zu den Stärken lernbehinderter Schülerinnen und Schüler stehen.
  6. Die Folge davon: Intelligente werden immer intelligenter; «Dumme» werden immer «dümmer».
  7. Es ist dringend geboten, sich Gedanken darüber zu machen, wie lernschwächere Menschen in der Zukunft – ohne fremde Hilfe – in den Arbeitsprozess integriert werden, um eine wirtschaftliche Lebensgrundlage zu erhalten.
  8. Regelschulen mit integrierten lernschwächeren Schülerinnen und Schülern müssen dieser grossen Herausforderung gesellschaftlicher Natur gerecht werden und die Politik entsprechend fordern.
  9. Die Lehrkräfte müssen die modernen Technologien sowie die zunehmende Komplexität unserer Welt – auch mit kritischem Blick – akzeptieren und bejahen.
  10. Sie müssen in die Lage kommen, lernschwächeren Schülerinnen und Schülern die nötigen Inhalte und Fertigkeiten zu vermitteln, damit sich die in 6. genannte Schere nicht noch weiter öffnet.
Bild: AdobeStock

Die Thesen sind idealtypischer Natur, die Realität zeigt ein anderes Bild: RegelklassenlehrerInnen mit integrierten lernschwachen SchülerInnen können nicht kompensieren, was durch den Wegfall des Werkjahres an Betreuung fehlt. Sei es, weil sie zu wenig Ahnung von der Ausbildungen im Bereich der Attest-Lehre haben oder sei es, weil es einfach zu wenig Kapazitäten, sprich Zeit, gibt, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Die besondere Betreuung von ehemaligen KleinklassenschülerInnen, insbesondere auch derjenigen mit fremdländischem Hintergrund, ist dabei ein pädagogisches Muss.

Mentoring als schwächlicher Ersatz für das Werkjahr

Was wird nun neu als Lösung angeboten? Man setzt auf Freiwillige, die ehrenamtlich in ihrer Freizeit lernschwache Jugendliche in ihrem Berufsfindungsprozess, also bei der Lehrstellensuche, begleiten. Man spricht von Mentoring. MentorInnen arbeiten in Ergänzung zu den Lehrkräften und unter Anleitung der BerufsberaterInnen.

Was also vorher von einer ausgewiesenen Fachkraft in den Werkjahren mit grossem Erfolg –das darf hier herausgestrichen werden – durchgeführt worden ist, wird nun auf mehrere Personen aufgeteilt. Dabei sind die Kompetenzen völlig unklar und müssen jeweils zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden.

Was also vorher von einer ausgewiesenen Fachkraft in den Werkjahren mit grossem Erfolg –das darf hier herausgestrichen werden – durchgeführt worden ist, wird nun auf mehrere Personen aufgeteilt. Dabei sind die Kompetenzen völlig unklar und müssen jeweils zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden. Dass diese Situation lernbehinderte Jugendliche überfordern dürfte, erscheint nachvollziehbar, wenn man weiss, über welch geringe Kompetenzen diese Jugendlichen verfügen. Dabei soll das Engagement dieser MentorInnen in keiner Art und Weise infrage gestellt werden. Wie aber Menschen ohne Vorbildung in Bezug auf Förderung und Betreuung lernbehinderter Jugendlicher, häufig noch mit fremdländisch-kulturellem Hintergrund, diese Aufgabe erfüllen sollen, die vor Jahren fachspezifisch geschultes Personal, eben das der Werkjahre, durchgeführt hat, erscheint mir in höchstem Masse problematisch zu sein. Es ist ein erneutes Beispiel dafür, dass die sog. Integration bei der Lösung komplexer gesellschaftlicher Aufgaben versagt.

Über eine erneute Implementierung des Werkjahres ins allgemeine Schulsystem sollte man ernsthaft wieder nachdenken.

 

 

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