28. September 2024
Die Rolle von Papier und Handschrift

Von der denkenden Hand

Handy statt Notizheft hiess es lange, Tastatur statt Stift, Bildschirm statt Papier. Die Handschrift hatte es schwer. Das Digitale machte sie überflüssig. Doch das Denken geht auch über die Hand. Verschiedene Länder haben das erkannt und set-zen wieder auf Bücher und Bleistift. Gedanken von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Wer von uns freut sich nicht an einem handgeschriebenen Brief oder Kartengruss? Doch sie werden seltener, spürbar rarer. In der Regel stehen ältere Menschen dahinter. Sie haben das Schreiben von Hand noch intensiv geübt – als Handwerk, ja als Kulturtechnik, als Chirographie eben, wobei «chiro» Hand bedeutet. Doch so wurde Schreiben kaum je benannt. Im Unterricht gelehrt wurde die «Kunst des schönen Schreibens». Dieses Schulfach stand während langer Jahre im Stundenplan. Für manche war die Materie Schreiben oft eher Krampf und Kampf, Drill und Dressur.

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte: Wir leben in einer Epoche der Handvergessenheit.

Epoche der Handvergessenheit

«Stirbt die Handschrift aus?», fragte die CH Media vor Kurzem.[1] Droht eine Kulturtechnik zu verschwinden? Still und leise durch die Hintertüre. Fakt ist: Immer mehr Menschen verzichten auf Papier und Stift. Und immer weniger Schüler, heisst es, schreiben souverän von Hand. Und immer weniger Schulen verlangen ihnen das ab, obwohl es der Lehrplan 21 fordert. Laptop und Tablet bringen die Handschrift an den Rand ihrer Existenz. Smartphones und Sprachnachrichten verdrängen sie.

Wir leben in einer Epoche der Handvergessenheit. Die Hand büsst an Ansehen ein. Computermaus und Bildschirme bestimmen, wie wir auf die Wirklichkeit zugreifen. Eine Art Second-hand-Leben. Von der Hand bleibt nur noch der Finger, das Digitale, was sich auch in der Herkunft des Wortes aus dem lateinischen «digitus» für Finger zeigt. Wir haben vielfach eine vermittelte Weltwahrnehmung. Touchscreens und Monitore haben sich zwischen die Welt und uns geschoben. Wir sind fast immer online und fühlen uns laufend aufgefordert, irgendwie auf die Welt zu reagieren, auch wenn das, was wir als Welt bezeichnen, mehr und mehr aus Daten und elektronischen Signalen besteht. Eine virtuelle Welt. Viele von uns sind Tipperinnen und Wischer geworden. Die Hand verliert das Bedeutsame früherer Tage.

Verstehen geht über die Sinne

Vergessen geht dabei der Zusammenhang zwischen «mens» (Verstand, Geist) und «manus» (Hand). Davon haben Dichter und Philosophen immer eine Ahnung gehabt – und engagierte Pädagogen auch. Die moderne Entwicklungspsychologie bestätigt diesen engen Zusammenhang zwischen Denken und Tun, zwischen Verstand und Hand. «Vom Greifen zum Begreifen» heisst es beim Pestalozzi-Schüler und Kindergartengründer Friedrich Fröbel. Die Verstandeseinsicht geht eben auch durch die Hände. Nicht umsonst hat der griechische Philosoph Aristoteles von den Händen als dem äusseren Verstand gesprochen. Verstehen könnten wir nur, was wir zuerst in den Sinnen hätten, also in den Händen. Sie seien die «Fühlhörner der Vernunft». Von der denkenden Hand ist gar die Rede.[2]

Vom Greifen zum Begreifen.

Denken: das Ordnen des Tuns

Kinder, die im Sandkasten Burgen bauen, die Bäche stauen und mit Bauklötzen Türme konstruieren, brauchen ihre Hände. Sie greifen zu und begreifen gerade darum zusehends die Welt. Für sie ist die Welt mit Händen zu greifen, haptisch oder taktil, wie es heisst. «Begriff» und «begreifen» sind Worte, die unüberhörbar aus dieser Sphäre stammen. Vielleicht entwickeln solche Kinder ein anderes Weltverhältnis als «Digital Natives», die früh mit Tiktok und Display umzugehen lernen.

Verschiedene Studien zeigen, dass Kinder Schriftzeichen wie d und p oder b und q leichter auseinanderhalten können, wenn sie diese Symbole mit der Hand schreiben, statt sie zu tippen.

Denken sei ein Abkömmling des Tuns, der Arbeit mit der Hand, sagen Lernforscher. Das gilt auch fürs Schreiben. Junge Menschen lernen haptisch und müssen die 26 Buchstaben unseres Alphabets im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal be-greifen. Verschiedene Studien zeigen, dass Kinder Schriftzeichen wie d und p oder b und q leichter auseinanderhalten können, wenn sie diese Symbole mit der Hand schreiben, statt sie zu tippen. Die Strichführung von Hand ist anspruchsvoller als das Eintippen auf eine Tastatur. Die Handschrift erfordert feinmotorische Fertigkeiten. Der Stift sei darum wirksamer als die Tastatur, sagt die renommierte amerikanische Studie «The Pen is mightier than the Keyboard».

Schreiben von Hand bleibt weiterhin wichtig

Buch oder Bildschirm? Papier oder Tablet? Schreiben mit der Hand oder Tippen? Es gilt wohl das, was für die Pädagogik ganz generell gilt: ein Sowohl-als-auch. Pädagogik ist ja keine Entweder-oder-Praxis. Nur ist das eine, das Haptische des Schreibens, heute schwieriger geworden. Doch von Hand schreiben ist eben kein Relikt der analogen Ära. Selbst im digitalen Zeitalter hat es seinen Wert. Wir Menschen begreifen vieles über die Hand.

Verschiedene Länder haben das erkannt. Sie rudern zurück. Allen voran Schweden und Dänemark, die Avantgarde der Digitalisierung. Sie ersetzen in ihren (Primar-)Schulen Laptops und Tablets mit gedruckten Büchern und Schreibpapier. Der Stift kehrt zurück. Die Handschrift wird wieder wichtig. Es ist eine (Rück-)Besinnung auf das Sowohl-als-auch und damit auf den Wert des analogen Unterrichts – und eine Abkehr von den einseitigen pädagogischen Heilsversprechen der EdTech-Konzerne und IT-Unternehmen.

[1] Raphael Schuppisser, Handy statt Notizheft, in: CH Media. Wochenende, S. 1ff.

[2] Horst Bredekamp (2015), Galileis denkende Hand: Form und Forschung um 1600. Berlin: de Gruyter.

 

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