Die Schule hat sich in diesem Jahrtausend gewandelt in eine Einrichtung, in der bereits in frühen Jahren sämtliche Unzulänglichkeiten der Welt erlernt werden sollen. Wissen ist kaum mehr gefragt, richten sollen es “Kompetenzen”. Damit die Kinder, die später in die Welt der Erwachsenen eintreten werden, sich schon als Primarschüler adult verhalten.
Hat davor die Überzeugung dominiert, dass im Klassenzimmer unterrichtet, konkret: etwas gelehrt wird, soll heute bereits ein Primarschüler auf sogenannte Resilienz getrimmt werden. Ein Wort, das gut klingt, aber beliebig interpretiert werden kann.
Die Bildungsreformer verstehen es offensichtlich so, dass auch ein Siebenjähriger bereits Verantwortung für sein Handeln übernehmen soll, beispielsweise mit “selbstorientiertem Lernen”.

Dass die Verantwortung für den Bildungserfolg von den Erwachsenen, vor allem den Lehrern (und in Teilen auch der Eltern), auf das Kind abgeschoben wird, ist ein pädagogischer Sündenfall. Ein Fall auch von Hybris. Viele Lehrer glauben, dass eine Übertragung dieser Verantwortung möglich ist. Und die Bildungsexperten haben längst durchgesetzt, dass ein Lehrer nicht mehr eine Autorität verkörpert, sondern maximal begleitet (und danach das Klassenzimmer aufräumt).
Dass das zielführend ist, hat sich als Illusion herausgestellt. Die Abkehr des Lehrens führt beim Lernen zu schlechten Resultaten. Das zeigen aktuelle Checks aus der Nordwestschweiz, die Vergleichstests in den Kantonen oder die letzte Pisa-Studie. Das Niveau sinkt, teilweise drastisch, einfache Aufgaben werden zum Problem. Ein Viertel der 15-Jährigen etwa hat eine Leseschwäche, wie das beschönigend genannt wird. Wie soll man in anderen Fächern bestehen, wenn man kaum eine Aufgabe interpretieren kann?
Der Bildungsforscher Stefan Wolter hat es in der NZZ auf den Punkt gebracht: “De facto sind wir in der Schweiz alle schlechter geworden.” Obschon “so viel wie nie zuvor” in die Bildung investiert wird – und immer mehr Menschen einen tertiären Abschluss besitzen.
Für jedes Kind ein Sondersetting
Das führt aber nicht dazu, dass das System hinterfragt wird, lieber wird am bestehenden herumgeschraubt. Entstanden ist ein Überfluss an kleinteiligen Angeboten. Für jedes Kind ein Sondersetting, eine Lerninsel, eine eigene Logopädin. Dass das, vornehm formuliert, nicht gerade leistungsstimulierend wirkt: wird nicht gerne erwähnt. Wenn man nur fest daran glaubt, wird es irgendwann gelingen? Nur so kann erklärt werden, dass die integrative Schule in Bildungskreisen immer noch verklärt wird, obschon das System längst (politisch) angezählt ist. Und an der Wirklichkeit gescheitert. Man muss immer wieder die Sendung “Reporter” des Schweizer Fernsehens erwähnen: Eine Basler Lehrerin, keine natürliche Gegnerin von Chancengleichheit, klagte über Überforderung, ständige Unruhe. Es war ein Hilferuf. Ihre Klasse hatte 18 Schüler. Und 17 davon hatten mindestens ein Sondersetting.
“Kinder möchten jedoch normal sein. Die Gesellschaft ist jedoch auf dem besten Weg, immer mehr normale in defekte Kinder zu verwandeln”.
Margrit Stamm, Erziehungswissenschafterin
Die “Überdiagnostizierung” der Kinder ist nicht neu. Die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm hat schon vor fünf Jahren geschrieben, dass mehr als die Hälfte der Schulkinder in Therapien geschickt würden. Solche Diagnosen, egal ob sie richtig oder falsch seien, pathologisierten, und die Therapien stigmatisierten. “Kinder möchten jedoch normal sein.” Die Gesellschaft sei jedoch auf dem besten Weg, “immer mehr normale in defekte Kinder zu verwandeln”. Das prägt. Schüler wissen ganz genau, wer welches Sondersetting bekommt.
Dabei gäbe es die Chance auf Veränderung. Basel-Stadt hat im letzten Jahr als erster Kanton die Wiedereinführung von Förderklassen auf das eben gestartete Schuljahr beschlossen. Eine einzige wird es geben. Es ist nicht die oben erwähnte. Dabei gäbe es genügend Brennpunktschulen, an denen Förderklassen sinnvoll wären. Schulleitungen und die Lehrer, die das gemeinsam entscheiden können, wollen das aber nicht. Sie glauben weiterhin an die Utopie.

Es mag gut gemeint sein, so gut wie möglich auf jedes einzelne Kind einzugehen und alle dabei mitnehmen zu wollen, aber die Wahrheit ist eine andere. Die Schüler sind noch mehr auf sich alleine gestellt: Weil sie individuell ihre Aufträge erledigen müssen – weil der Fokus auf die besonders Verhaltensauffälligen gelegt werden muss.
Und was, wenn der Schüler nicht mehr weiterkommt? Die Lehrerin ist leider im Raum nebenan. Dass das eher demotiviert, müsste auch den Integrationsbefürwortern auffallen. Es ist der Pädagoge in Fleisch und Blut, der den Kindern vermittelt, was wichtig und bedeutsam ist. Nicht die Primarschüler wählen sich die Themen aus. Heute passiert das jedoch nicht nur willentlich, sondern auch aus der Not.
Die Abschaffung der Autorität
Der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl hat einmal gesagt, dass es in der Schule nebst Wissen (und Kompetenzen) auch um einen “Anbindungsakt” gehe, um tatsachengestütztes, auch kulturell verhandeltes Allgemeinwissen.
Wird das nicht vom Lehrer vermittelt – und bestenfalls in der Klasse gemeinsam besprochen –, wird auch Falsches zum Fakt. Guggenbühl hat ein anschauliches Beispiel genannt. Ein Schüler hat in einer selbständig erarbeiteten Internetrecherche bilanziert: “In Nordkorea leben die glücklicheren Bürger als in den USA!” Der Grund für diese Aussage: In kapitalistischen Ländern würden die Bürger durch raffgierige Manager ausgenützt, nicht jedoch in Nordkorea.
Auch wenn es für junge Menschen manchmal nichts Mühsameres gibt und der Frust verständlich ist: Es ist nicht nur schlecht, wenn eine ordnende Kraft – in diesem Fall der Lehrer – das eigene Denken, das eigene Handeln spiegelt, durchaus auch kritisch.
Obschon viel Verantwortung an die Kinder übertragen werden soll, wird weit über den Unterricht hinaus reglementiert. Im Kleinen zeigt sich das am Beispiel der Ernährung.
Hannah Arendt hat schon 1958 in ihrem Aufsatz “Die Krise in der Erziehung” die Problematik, obschon selbst keine Pädagogin, präzise erfasst. Man könne nicht erziehen, ohne gleichzeitig zu lehren. Aber die Autorität der Erwachsenen sei abgeschafft worden.
Das führt zu einem Paradox. Obschon viel Verantwortung an die Kinder übertragen werden soll, wird weit über den Unterricht hinaus reglementiert. Im Kleinen zeigt sich das am Beispiel der Ernährung. In Basel fragt der schulärztliche Dienst die Eltern, ob ihre Kinder zu dick seien – und bedient sie bei dieser Gelegenheit auch gleich mit der Ernährungspyramide. Das ist nicht nur realitätsfern, sondern auch übergriffig.
Formvollendet wird das in Zürich, in den “Ernährungsrichtlinien für Schulen”, auf 24 Seiten. Essen, das schon, soll Spass machen (ohne Zwang!), aber alles ist bis ins Detail durchreglementiert: Desserts (klein!), maximal zweimal pro Woche – und jeweils nur zum Zmittag. Dabei soll auch nur in Ausnahmefällen ein Salzstreuer auf den Tisch gestellt werden.
Belastung, Störung, Leistungsabfall
Beim Essen nimmt wohl kein Kind grösseren Schaden. Gravierender wird es jedoch, wenn das betreute Erziehen am Ende mehr schadet als nützt, sogar der eigene Bildungserfolg gefährdet wird. Dabei ist die gemeinsame Erziehung, wenn man so will, die Essenz der modernen Schule. Wenn eine Schulklasse heterogen ist, so das Ziel, dann helfen und motivieren die starken Schüler ihren schwachen Gspänli. Alle ziehen mit. Dass das nicht funktioniert, ist längst erwiesen: Stören mehr als 20 Prozent der Schüler den Unterricht, leiden darunter alle. In der Wirklichkeit müssen die guten Schüler einen Gehörschutz tragen, damit sie sich konzentrieren können.
Die Welt ist nicht perfekt, auch in der Schule nicht, selbstverständlich gibt es Unzulänglichkeiten. Und es ist, unbestritten, eine Herkulesaufgabe, mit der veränderten Bevölkerungsstruktur so zurechtzukommen, dass im Klassenzimmer auch dann vernünftig gearbeitet werden kann, wenn viele Kinder der Sprache zu wenig oder kaum mächtig sind. Im Idealfall lernen sie Deutsch, bevor sie in die Regelklasse kommen.

Darum ist es unerlässlich, dass sich die Schulen wieder auf das Wesentliche konzentrieren können. Auf einen Unterricht, in dem der Lehrer der Chef ist und entscheidet, welches Wissen vermittelt wird. Damit dies in Ruhe geschehen kann, wäre ein durchlässigeres System wichtig. Durchlässigkeit bedeutet aber auch, dass Förderklassen mitbedacht werden – für Schüler, die die Lernziele etwas weniger schnell erreichen oder noch zu grosse Mühe haben, sich in einen Klassenverbund einzugliedern. Bei Integrationsklassen, in denen Geflüchtete ohne Sprachkenntnisse langsam ans Niveau von Gleichaltrigen herangeführt werden, klappt das ganz gut.
Sicher, auch das ist eine Form von Unterscheidung, nicht ultimativ integrativ. Aber nachvollziehbar.
Solche Formen von Trennung entlasten nicht nur die Regelklassen, sondern auch die Sonderschulen, in die immer mehr Kinder geschickt werden, wenn es nicht mehr anders geht (obschon sie diese extremste Form der Separierung gar nicht brauchten).
Auch das führt dazu, dass die Schule heute oft mit negativen Begriffen assoziiert, wird: Belastung, Störung, Leistungsabfall.

