Wir können das politische Wirken von Condorcet kurz zusammenfassen: Es war ein Desaster. So erfolgreich er als Mathematiker, Denker und Ministerialbeamter war, so erfolglos erwiesen sich seine Versuche, die Revolution gemäss des US-amerikanischen Vorbilds in stabile Bahnen zu lenken. Sein Verfassungsentwurf, der – das sei hier kurz angefügt– wesentliche Elemente unserer in der Schweiz praktizierten Direktdemokratie enthielt, wurde von den zentralistisch gesinnten Jakobinern abgelehnt. Ebenso erfolglos agierte er mit seinen bildungspolitischen Plänen, zumindest vorerst.

Condorcet war überzeugt, dass Demokratie nur mit umfassender Bildung und Alphabetisierung funktionieren kann. Im Konvent setzte er sich leidenschaftlich für ein öffentliches, säkulares und kostenloses Bildungssystem ein – für alle Schichten und Geschlechter.
Es war nicht nur dem Ehepaar Condorcet klar, dass der Pädagogik in einer aufgeklärten modernen Demokratie eine Schlüsselrolle zukam. Für die Jahre 1789 bis 1799 sind 1367 Texte belegt, die sich mit Fragen der Pädagogik, der Erziehung oder des Unterrichts befassen, unter ihnen auch zahlreiche Bildungspläne, von denen allerdings die meisten längst vergessen sind.
Es war eine Art Masterplan, den das Ehepaar Condorcet entwarf, all inclusive. Schulsystem, Finanzierung, Lehrplan, Controlling. Der Autor dieser Zeilen bekennt freimütig, dass er Masterplänen gegenüber skeptisch ist. Er ist überzeugt, dass Schule sich heute aus den Einzelteilen, aus den Schulen selbst entwickeln muss, und dass diese sich vernetzen und voneinander lernen sollen. Zu Condorcets Zeiten gab es aber keine Öffentliche Schule und schon gar nicht für alle. Natürlich musste auch dieser Plan scheitern. Nicht nur, weil er wie in vielen seiner kühnen Ideen seiner Zeit weit voraus war, sondern weil er den radikalen Revolutionären Unzumutbares zumutete.
Das Unterrichtswesen durfte nach ihm keinerlei partikularen Interessen und Dogmen, seien sie religiöser oder politischer Natur, unterworfen sein. Der Staat hat allein die Aufgabe, die Chancengleichheit und Funktionstüchtigkeit des Systems zu sichern. Inhaltlich kontrolliert wird das Unterrichtswesen von einer »Nationalen Akademie der Wissenschaften und Künste«, die als gleichsam institutionalisierte Aufklärung über dessen Vernunftorientierung wacht. Die geforderte Unabhängigkeit des Unterrichtswesens führt den radikalen Liberalen Condorcet schließlich auch zu der Konsequenz, dass es jedem Bürger offenstehen müsse, selbst eine Schule einzurichten.
Sollen Kompetenzen, wie «kann mit Vielfalt umgehen» oder «kann sich situationsgemäss ausdrücken» auch noch beurteilt werden, so wie es in den Beurteilungsunterlagen des Lehrplans 21 angedacht ist, würden wir uns nach Condorcet in autoritäre Verhältnisse begeben.
Condorcet unterschied klar zwischen Bildung und Erziehung. Schule muss Wissen vermitteln, statt Meinungen und Doktrinen zu dozieren und die öffentliche Bildung muss sich von politischen, wirtschaftlichen, religiösen und politischen Kräften abkoppeln. Ausserdem müssen die Zuständigkeiten klar geregelt sein! «Instruction» ist Aufgabe des Staates, «éducation» die der Familie. Die Idee, überfachliche Kompetenzen zu formulieren, hätte er abgelehnt. Und diese «überfachlichen Kompetenzen», wie sie im Schweizer Lehrplan 21 enthalten und deren Beurteilungskonzepten formuliert worden sind, hätte er als übergriffig bezeichnet. Sollen Kompetenzen, wie «kann mit Vielfalt umgehen» oder «kann sich situationsgemäss ausdrücken» auch noch beurteilt werden, so wie es in den Beurteilungsunterlagen des Lehrplans 21 angedacht ist, würden wir uns nach Condorcet in autoritäre Verhältnisse begeben.

Für die Vertreter der Tugend und Moral, den Jakobinern, die die Gesellschaft umerziehen wollten und sich dabei u. a. auf Rousseau und dessen «Volonté générale» bezogen, war dies aber geradezu eine Priorität. Der Jakobiner Bouquier zum Beispiel vertrat ein Erziehungsprinzip, das er auch noch als republikanisch bezeichnete, wonach Erziehung, Bildung in öffentlichen Sitzungen von Gerichten und vor allem in Volksgesellschaften und Bürgerfesten erworben werden sollte. Aus diesen reinen Quellen würden junge Menschen genügend über ihre Rechte, Pflichten, Gesetze und republikanischen Sitten erfahren. Es brauche ohnehin keine Bildung, Begeisterung genüge. Das Bildungskonzept von Condorcet wurde folglich nicht einmal im Ansatz diskutiert.
Der Nachruhm, den Condorcets Plan trotz seines Scheiterns bei der Bildungsplanung der Revolution hatte, gründet in zweierlei. Einmal handelt es sich um den pädagogisch, didaktisch und curricular, aber auch geschichtsphilosophisch mit Abstand am besten durchdachten Plan der Französischen Revolution, der alle Stufen der Bildung umfasst und deswegen zu einem Vorbild für moderne Bildungspläne schlechthin wurde. Darüber hinaus dürfte der bisweilen in emphatischer Weise vorgetragene pädagogische Optimismus dazu beigetragen haben, dass Condorcets Plan im 19. Jahrhundert nicht nur in Frankreich, sondern auch in wesentlichen Teilen von der Helvetischen Republik und anschliessend modifiziert auch in den Kantonen der Eidgenossenschaft umgesetzt wurde.
Das im Bildungsprozess angeeignete Wissen mündet in eine individuelle Urteilskraft. Diese Mündigkeit sei für den Aufbau und die Stabilität einer vernünftigen Gesellschaft entscheidender, als die ebenfalls als notwendig angesehene Erziehung, die die Gefahr einer bloßen Gewöhnung an bestimmte Verhaltensdispositionen bzw. eines blinden Gehorsams gegenüber Vorschriften berge, wenn sie zum primären Zweck des Unterrichts erklärt würde.
Condorcet hat das Unterrichtswesen von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe konsequent durchstrukturiert. Politisch priorisierte er die individuelle Freiheit vor dem Kollektivwohl, da der liberale Reformer davon ausging, dass die Gleichheit aller Staatsbürger nur dann zu sichern sei, wenn dem Einzelnen die Möglichkeit eingeräumt werde, seine Fähigkeiten optimal zu entwickeln. Inhaltlich wurde die Bildung als Hauptziel des Unterrichts vorgeordnet. Das im Bildungsprozess angeeignete Wissen mündet in eine individuelle Urteilskraft. Diese Mündigkeit sei für den Aufbau und die Stabilität einer vernünftigen Gesellschaft entscheidender, als die ebenfalls als notwendig angesehene Erziehung, die die Gefahr einer bloßen Gewöhnung an bestimmte Verhaltensdispositionen bzw. eines blinden Gehorsams gegenüber Vorschriften berge, wenn sie zum primären Zweck des Unterrichts erklärt würde. Mit Bezug auf die politischen Implikationen seines Bildungsplans begründet Condorcet seine Präferenz der Individualbildung vor der auf erwünschtes kollektives Verhalten zielende Erziehung mit dem Satz: »Während man die Gesetze liebt, muss man sie doch zu beurteilen wissen«
Basierend auf diesen beiden Prinzipien der individuellen Freiheit und der Bildung ist das Bildungswesen in Condorcets Konzept durch fünf Merkmale gekennzeichnet:
- Bildung steht als von der Verfassung verbrieftes Recht allen Menschen gleichermaßen zu; sie bezieht sich auf alle Fähigkeiten des Menschen und sie umfasst die Gesamtheit des Wissens.
- Bildung muss sich streng an den Wissenschaften orientieren, damit die Wahrheit und durch sie die Vernunft den Sieg über den Aberglauben erringen kann.
- Bildung ist in einer dem Fortschritt verpflichteten Gesellschaft ein niemals abgeschlossener Prozess, weswegen sie sich nicht auf die Schulzeit beschränken kann, sondern auch für den Erwachsenen die Verpflichtung mit sich bringt, seine Kenntnisse den Wissensfortschritten entsprechend zu erweitern. Condorcet entwickelt schon hier bereits das Prinzip der Erwachsenenbildung.
- Die Auswahl derjenigen, die in weiterführenden Bildungsinstitutionen zugelassen werden, darf nur nach Leistung und Begabung erfolgen. Condorcet gesteht zwar die Notwendigkeit funktionaler Arbeitsteilung und damit auch unterschiedlicher Bildungsgrade zu, der Zugang zu verantwortlichen Positionen darf aber nicht mehr von sozialer Herkunft oder finanziellen Möglichkeiten abhängen. Aus diesem Grunde soll das Unterrichtswesen von der niedrigsten bis zur höchsten Stufe durchlässig und kostenfrei sein. Begabtere Kinder unterer Schichten, deren Eltern den Besuch weiterführender Bildungsinstitute nicht bezahlen können, sollen vom Staat unterstützt werden.
- Institutionell soll nach Condorcet das Bildungssystem in fünf Stufen gegliedert sein, die Primärschulen, die Sekundärschulen, die Institute, die Lyzeen und die Nationale Akademie der Wissenschaften und Künste, die allerdings nur noch insofern ein Bildungsinstitut ist, als sie durch ihre öffentlichen Sitzungen dem Publikum die Möglichkeit zur Weiterbildung gibt; ansonsten dient die Akademie allein der Forschung und der Kontrolle der Bildungsanstalten.
Die Primärschulen sollen allen Kindern im Alter von 6 bis 9 Jahren ohne Rücksicht auf ihre Fähigkeiten und Begabungen offenstehen und so über das Land verteilt werden, dass auf 400 Einwohner eine Schule kommt. In vier Jahrgangsklassen werden die Schüler von einem Lehrer in die elementaren Kulturtechniken eingewiesen und sie lernen die Grundlagen handwerklicher und agrarischer Produktionsweisen kennen. Das Gelingen des Unterrichts soll durch Lehrbücher, die auf die Auffassungsgabe der Kinder zugeschnitten sind, sowie durch Handbücher für den Lehrer gewährleistet werden, die Hinweise zur schülergerechten Vermittlung des Lehrstoffs geben.
Rousseau: “Männer und Frauen sind nicht und sollten nicht vom gleichen Charakter oder Temperament gebildet sein, daher sollten sie nicht die gleiche Erziehung haben.”
Lerntheoretisch vertrat er ein Konzept, dass sehr stark auf einem fortschrittsoptimistischen Erkenntnisprozess – im Sinne unbegrenzter Erkenntnismöglichkeiten – ausgerichtet war. Damit wandte er sich auch gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit eines Jean-Jacques Rousseaus, der mahnte: «Völker, wisset einmal für alle, dass die Natur euch vor der Wissenschaft bewahren wollte, wie eine Mutter dem Kind die gefährliche Waffe den Händen entreisst!»

In einem weiteren wesentlichen Teil seines Bildungsplans wandte er sich vehement gegen Rousseau, der sagte: “Männer und Frauen sind nicht und sollten nicht vom gleichen Charakter oder Temperament gebildet sein, daher sollten sie nicht die gleiche Erziehung haben.” Condorcet hingegen vertrat, sicher auch von Sophie inspiriert, die Ansicht: Es ist nicht die Natur, es ist die Bildung, es ist die soziale Existenz, die den Unterschied zwischen Mann und Frau verursacht. Es ist inakzeptabel, Frauen weiterhin den Genuss ihrer natürlichen Rechte zu verweigern!»

Obwohl in Frankreich Jean-Jacques Rousseau ungleich bekannter und wohl auch populärer ist als Jean-Marie de Condorcet, ist dessen Bildungssystem stark von Condorcets Bildungsplan geprägt. Und man ist sich sowohl in der Deutschschweiz (ganz anders als in der französischen Schweiz) nicht bewusst, dass auch unser Schulsystem auf den Ideen von Condorcet beruht. Condorcets Bildungskonzept hatte einen erheblichen Einfluss auf die Helvetische Republik (1798–1803) und damit auch auf die langfristige Entwicklung des modernen Bildungswesens in der Schweiz.
Eine zentrale Rolle spielte dabei Philipp Albert Stapfer (1766–1840). Der Aargauer war ein Freund und politischer Verbündeter von Johann Heinrich Pestalozzi und wurde 1798 Bildungsminister (Innenminister) der Helvetischen Republik. Er stand in enger Verbindung zu den französischen Aufklärern und Philosophen. Er war tief beeindruckt von Condorcets Bildungsplan, den die Jakobiner einst so verschmähten. Er versuchte Condorcets Bildungsplan in der Helvetischen Republik umzusetzen, was aber nicht vollständig gelang, weil die Helvetische Republik nach 5 Jahren aufgehoben wurde und deren Errungenschaften anschliessend durch die Restauration grösstenteils abgeschafft wurden. Dennoch hielten sich gerade im Bildungswesen viele Elemente des Condorcetschen Bildungsplans und prägten unser modernes Schweizer Schulsystem bis heute. Und auch in Deutschland setzten sich die Condorcets Bildungsvorstellungen zumindest in seinen Strukturen und Grundwerten durch.


Warum sind wir uns eigentlich so sicher, daß Bildung eine staatliche Aufgabe ist? Wenn wir doch mit bloßem Auge sehen, daß der (demokratisch verfaßte?) Staat auf diesem Gebiet grandios versagt?