Herr Lehrer, ich sass jetzt zwei Stunden in ihrem Französisch-Unterricht und bin hell begeistert. Da wurde aus 28 Kehlen mit Inbrunst «Sur le Pont d’Avignon» gesungen, auf Französisch Gemüse eingekauft und mit schauspielerischer Ernsthaftigkeit wurde eine Szene am Mittagstisch daheim gespielt. Von Neunjährigen notabene. Frühfranzösisch funktioniert offensichtlich …
Alain Pichard: Halt. Acht Schüler sind Französisch sprechend. Das ist fast ein Drittel der Klasse. Sie haben die Szene am Mittagstisch aufgeführt. Und Sie haben selber gesehen, wie viel die anderen davon verstanden haben.

Trotzdem: Auch die deutschsprachigen Schülerinnen und Schüler haben Einkäuferlis gespielt und damit Handlungskompetenz gezeigt. Das ist doch das, was der Lehrplan mit dem Frühfranzösisch erreichen will!
Ja, die viel zitierte Handlungskompetenz! Die bringt überhaupt nichts, wenn man das Angewendete nicht automatisiert. Morgen ist vieles wieder weg, weil es nicht seriös eingeübt wird, was in diesem Alter einfach nicht möglich ist. Sie können die komplexen grammatikalischen Regeln gar nicht kognitiv bearbeiten.
Sie übertreiben masslos. Sie sind das beste Beispiel: Der Fisch stinkt vom Kopf. Wenn der Lehrer gut ist, dann klappt auch Frühfranzösisch. Ich habe es ja selber vorhin gesehen.
Danke für das Kompliment, das ich gerne den Kids weitergebe. Das war nur eine schöne Momentaufnahme. Sicher, die Schüler waren motiviert und sie wollten Ihnen auch was zeigen …
Das Schlimmste ist, dass diese drei Lektionen fehlen, damit sie überhaupt Sprachkompetenz entwickeln, Lesen und Schreiben in einer Landessprache, und das heisst hier, Deutsch solid zu erlernen. 25% der Schüler können am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht richtig lesen.
Eben. Dann geht es doch, wenn Lehrer die Schüler genügend motivieren.
Nein. Wir haben nur lächerliche drei Lektionen Französisch pro Woche. Das ist für das Sprachbad viel zu wenig und nicht nachhaltig. Man hat die Lektionen insgesamt gar nicht erhöht sondern nur ausgedehnt und in die ineffizienteste Stufe platziert. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist?
Sagen Sie es mir.
Das Schlimmste ist, dass diese drei Lektionen fehlen, damit sie überhaupt Sprachkompetenz entwickeln, Lesen und Schreiben in einer Landessprache. Und das heisst hier, Deutsch solid zu erlernen. 25% der Schüler können am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht richtig lesen. Ich warte nur darauf, bis uns ein Schüler mal verklagt, weil wir es nicht geschafft haben, ihm in der obligatorischen Schulzeit diese Grundkompetenz zu vermitteln, Deutsch lesen und schreiben zu können. Und das müssen wir zuallererst vermitteln. Da bin ich ganz alte Schule: Erst wenn man die Mutter- oder Landessprache kann, darf die nächste Sprache vermittelt werden.
Aber die Französischsprachigen in Ihrer Klasse werden doch auch gleichzeitig Deutsch lernen. Warum soll Frühfranzösisch darum für Deutschsprachige falsch sein?
Sie reden hier nur von den beiden Landessprachen. Aber die Realität ist die Mehrsprachigkeit in den Klassen. Wir haben Kinder mit portugiesischer, englischer, italienischer und weiteren Muttersprachen. Die müssen in der Deutschschweiz Deutsch können. Sonst haben wir unseren Grundauftrag nicht erfüllt. Das Frühfranzösisch hat nur das Sprachenbabylon vergrössert.
Warum?
Frühfranzösisch wurde ja nur in den Passepartout-Kantonen in Nachbarschaft zur Westschweiz eingeführt. Weiter östlich wurde hingegen Frühenglisch eingeführt. Selbst innerhalb der Deutschschweiz herrscht jetzt ein Sprachenwirrwarr. Denn wenn ein Kind aus dem Kanton Zürich in den Kanton Bern kommt, kann es kein Wort Französisch und ist benachteiligt. Und umgekehrt ist es so, wenn ein Kind aus Pieterlen mit den Eltern nach Zürich zügelt. Statt der angestrebten Harmonisierung haben wir jetzt einen tieferen Graben. Ein Treppenwitz.
Trotzdem: Wenn am Ende der Schulzeit jeder zweite Jugendliche in der Deutschschweiz einen einfachen Text auf Französisch nicht versteht, müsste man da nicht vielmehr noch mehr Frühfranzösisch anbieten statt abschaffen?
Eben nicht. Denn die jüngste Überprüfung der Grundkompetenzen zeigt, dass am Ende der Schulzeit fast jeder fünfte Schüler nur ungenügend Deutsch kann. Das ist verheerend. Das muss zuerst korrigiert werden. Die drei Lektionen Frühfranzösisch verstärken nur das Wirrwarr. Dazu kommt, dass wir gar nicht genug Lehrerinnen und Lehrer haben, die Französisch unterrichten können oder wollen.
Also doch. Das Problem sind die Lehrer, nicht die Schüler. Was läuft an den Pädagogischen Hochschulen falsch, dass niemand dort noch richtig Französisch kann?

Das Problem ist, dass Französisch durch diese stümperhafte Einführung des Frühfranzösischen so richtig zum Hassfach wurde – für Schüler wie Lehrkräfte. Französisch ist nicht einfach. Buchstabieren Sie doch mit einem Drittklässler mal das Wort Bestätigung. Das ist schon schwer genug. Und dann muss er wenig später das Wort cahier lesen, und dann das Wort cinq. Einmal muss er das c als k lesen und dann wieder als s. Und beim Wort ça hat es plötzlich noch ein Cedille. Der Walliser Bildungsdirektor Christophe Darbelley hat recht, wenn er sagt, die französische Rechtschreibung sei horrible.
Mathematik wird ja auch nicht abgeschafft, weil es schwierig ist und für viele Schülerinnen und Schüler horrible. Ihre Forderung nach Abschaffung des Frühfranzösisch ist doch eine Kapitulation.
Nein. Mit dem Frühfranzösisch wurde ja gleichzeitig der Stundenplan im dritten Zyklus ausgedünnt. Insgesamt gibt es also nicht mehr Stunden Französisch als früher. Ich will, dass die Deutschschweizer am Ende der Schulzeit besser Französisch können als heute.
Was ist denn Ihr Plan?
Vier Lektionen Französisch ab der 5. Klasse
Damit ist noch nicht sichergestellt, dass Französisch kein Hassfach mehr ist.
Wir brauchen erstens mehr Lehrerinnen und Lehrer, die wirklich Französisch können. Die Schnellbleiche, die angesichts des Lehrermangels heute akzeptiert ist, genügt nicht. Und wir brauchen zweitens mehr Lehrerinnen und Lehrer, die Lust auf die französische Kultur und Sprache machen. Ich hatte damals genau so einen Lehrer. Er war Franzose. Vielleicht braucht es tatsächlich auch mehr Lehrer aus Frankreich und der Romandie. Es braucht aber drittens auch zwingend mehr Austausch. Deutschschweizer Klassen, die mal eine Woche in die Westschweiz gehen und umgekehrt. Aber auch dies ist heute schwierig geworden.
Warum denn das?
Heute melden immer mehr Eltern ihre Schüler von solchen Aktionswochen ab, weil sie nicht von zu Hause weg sein können. Sei es wegen der Ernährung, der Religion, aus psychischen oder welchen Gründen auch immer.
Man redet zwar heute mehr über Gewalt in der Schule, aber die Schulen sind heute insgesamt viel gewaltfreier geworden.
Zurück zu Ihrer Klasse. Wenn fast ein Drittel französischsprachig ist, kann man doch nicht länger so unterrichten als sei Pieterlen ein rein deutschsprachiges Dorf wie früher?
Bis heute haben im Kanton Bern nur Biel, Leubringen und Magglingen einen offiziell zweisprachigen Status. Das entspricht nicht mehr der demografischen Realität im Seeland. In Pieterlen wie auch in immer mehr Seeländer Gemeinden wächst der Anteil der Französischsprachigen stark an. Darum denke ich über einen Vorstoss im Grossen Rat nach, der es Gemeinden wie Nidau, Ins oder Lyss ermöglicht, wie in Biel Filières Bilingues anzubieten. Also dass man dort auch einen zweisprachigen Unterricht besuchen kann.
Sie gelten als der prominenteste Schulkritiker der Schweiz, stehen schon seit 47 Jahren im Klassenzimmer. Gibt es irgendwas, das heute besser geworden ist im Vergleich zu früher?
Man redet zwar heute mehr über Gewalt in der Schule, aber die Schulen sind heute insgesamt viel gewaltfreier geworden. Zu meiner Zeit verprügelten wir uns in der Pause, wurden von den Lehrern verprügelt und erhielten auch zu Hause noch unsere Ohrfeigen. Das ist zum Glück nicht mehr so. Auch die Arbeitshaltung der Absolventinnen und Absolventen der Pädagogischen Hochschulen ist viel professioneller geworden. Früher kamen die Lehrer zu spät aus der Pause, gingen mal rauchen und so weiter. Auch die Assistenzkräfte, die mir heute zur Seite stehen, sind ein echter Mehrwert. Sie machen einen Superjob. Die kontrollieren wirklich die Lernfortschritte, schauen den Schülerinnen und Schülern auf die Finger und helfen ihnen. Das könnte ich allein gar nicht mit meinen derzeit 28 Schülerinnen und Schülern.
Französisch ab der Sekundarstufe 1. Oder allenfalls ab der 6. Klasse. Vorher nicht!