In seinem Kurzkommentar zur schrittweisen Entfernung unserer Bildung von humanistischen Idealen zieht Beat Kissling ein eindeutiges Fazit. Er stellt fest, dass in unseren Schulen nur dank dem gesunden Menschenverstand und der gereiften Intuition vieler Lehrkräfte doch noch vieles erstaunlich gut funktioniert. Die Aussage ist gewagt, aber für mich stimmt sie. Beat Kissling nimmt Bezug auf unseren Startbeitrag von Giuseppe Gracia, in welchem die propagierte Abkehr von der personalen Vermittlung des Schulstoffs scharf kritisiert wird. Coaches statt Lehrer, selbstorganisiertes Lernen statt dialogischem Gedankenaustausch und zu viel digitales Lernen erschüttern aus der Sicht des Autors das Fundament unserer Schule.
Ernüchterung bei gross angekündigten Reformen
In welchem Zustand wäre heute die Volksschule, wenn all die Reformen der letzten zwanzig Jahre nicht ohne kräftige Abstriche umgesetzt worden wären? Eine ganze Reihe umstrittener Neuerungen hat die interne Prüfung durch erfahrene Schulpraktiker nicht bestanden. So sind die fern jeder Praxis ausgebrüteten didaktischen Konzepte des Sprachbades krachend gescheitert und wurden auf Druck der Unterrichtenden durch bewährte Lehrmethoden abgelöst. Nicht besser geht es zurzeit dem didaktischen Modetrend, Lehrkräfte als Lernbegleiter zu deklarieren. Ernüchtert stellt man überall fest, dass das Unterrichten damit wesentlich aufwändiger und ineffizienter wird.
Die ganze Entwicklung ist aber letztlich ein Ärgernis. Wie konnte es nur dazu kommen, dass völlig untaugliche Leitbilder in der Lehrerbildung als pädagogische Wahrheiten verkündet wurden? Es ist doch ein Armutszeugnis für die führenden Bildungsinstitutionen, wenn nach der Ankündigung bahnbrechender Erkenntnisse ein deprimierender Kater in der Praxis folgt. Wohl das traurigste Beispiel dafür ist der Lehrplan 21, der als Jahrhundertwerk im Voraus gepriesen wurde. Doch nun zeigt es sich, dass das Fuder des Bildungsprogramms völlig überladen ist und die Lehrkräfte zu ihrem Schutz den Lehrplan einfach ignorieren. Dieser Lehrplan ist aber nicht irgendein kleiner Reformbaustein, sondern hat den Anspruch ein Leuchtturm für unsere Volksschule zu sein. Dass er diese Aufgabe nicht erfüllt, ist ernüchternd.
Die umstrittenste Idee ist zweifellos die Vorstellung, dass Lehrpersonen auf personale Stoffvermittlung verzichten und auf einen weitgehend digitalisierten Lernbetrieb umstellen sollten.
Viele Freiheiten im Lehrerberuf als Basis des Schulerfolgs
Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre erstaunt es schon, dass beim Haus des Lernens munter weiter an einem Totalumbau gearbeitet wird. Die umstrittenste Idee ist zweifellos die Vorstellung, dass Lehrpersonen auf personale Stoffvermittlung verzichten und auf einen weitgehend digitalisierten Lernbetrieb umstellen sollten. Lehrpersonen wären dann in erster Linie Ausführende einer voll planbaren Bildungssteuerung durch leitende Organe. Bedenken, dass eine bis ins Detail geregelte Steuerung ein äusserst gewagtes Vorgehen ist, scheint man keine zu haben. Dabei nimmt man in Kauf, dass dieser Krämergeist eines planbaren Bildungsoutputs dem pädagogischen Freiheitsgefühl der Lehrkräfte völlig zuwiderläuft und der Attraktivität des Lehrerberufs enorm schadet. Nur dort, wo Lehrerinnen und Lehrer ihre volle Verantwortung für ihre pädagogische Arbeit tragen, entwickeln sich Schulen kreativ und können den Jugendlichen Leistungsfreude vermitteln. Es ist unumgänglich, dass die unselige Vorstellung einer Lehrerin als grauer Maus im Grossraumbüro oder einem Lehrer als Tasten drückender digitaler Steuermann zurückgewiesen wird. Sehr viel näher an der Schulrealität wäre das Bild einer Dirigentin, die ihre Klasse kompetent und einfühlsam wie ein Orchester führt.
Gute Erinnerungen an engagierte Lehrerinnen und Lehrer
Ein lebendiges Bild ihrer früheren Mittelstufenlehrerin mit Ecken und Kanten zeichnet Condorcet-Autorin Claudia Wirz in ihrem Beitrag über die Sehnsucht nach der ganz normalen Schule. Ihre Lehrerin war im Unterricht voll präsent und forderte auf beste Weise die Schülerinnen und Schüler heraus. Sie führte die Klasse wie eine Kapitänin und alle in der Klasse wussten, worauf es in ihrem Unterricht ankam. Auch der Lehrer in der nachfolgenden Klasse war auf ermutigende Weise streng. Wenn er etwas kritisierte, geschah dies ohne falsche Rücksichtnahme in aller Offenheit, aber stets mit dem Ziel, jeden Schüler wirklich zu fördern. Die Zeugnisnoten hat die Autorin als fair und motivierend empfunden. Sie wundert sich deshalb, dass in der abgehobenen aktuellen Diskussion über eine Abschaffung der Noten nur das Negative zur Sprache kommt. Trotz grosser Schülerzahl und knapper individueller Betreuung waren Absenzen damals selten, da das Schuleschwänzen absolut verpönt war. Dies ganz im Gegensatz zu heute, wo die Absenzen in manchen Schulen längst einen Alarmwert erreicht haben.
Blinder Fleck bei der Bekämpfung des akuten Lehrermangels
In der Bildungspolitik sind Hinweise auf grosse Freiheiten im Lehrerberuf längst kein Thema mehr, um das Lehrerbild attraktiv zu machen. Man weiss nur zu gut, dass sich unternehmerische Initiative mit gewissen methodischen Vorgaben nur schwer vereinbaren lässt. Vielmehr wird gerne darauf hingewiesen, dass mit Investitionen in die Digitalisierung und flexiblen Teilzeitmodellen beste Arbeitsbedingungen angeboten werden können. Trotzdem gelingt es in keiner Weise, den dramatischen Lehrermangel endlich zu reduzieren. Notlösungen mit rasch wechselnden Stellvertretungen gefährden die Schulqualität in vielen Klassen. Bis in sechs Jahren werden in unserem Land über 10000 Lehrpersonen an der Volksschule fehlen, falls keine Trendwende erfolgt.
Ein blinder Fleck in der Bildungspolitik verhindert eine Auseinandersetzung mit der Frage, weshalb sich kaum noch Lehrer für die Primarschule zur Verfügung stellen.
Absolut blauäugig wäre es zu glauben, mit der Durchführung von einigen Einführungskursen für Personen mit ausländischem Lehrdiplom könnte der Lehrermangel behoben werden. Wenn es nicht gelingt, das brach liegende pädagogische Potenzial auf der männlichen Seite besser auszuschöpfen, kommen wir nicht weiter. Ein blinder Fleck in der Bildungspolitik verhindert eine Auseinandersetzung mit der Frage, weshalb sich kaum noch Lehrer für die Primarschule zur Verfügung stellen. Dass der Lehrerberuf offenbar für die meisten Männer nicht mehr als spannende Führungsaufgabe wahrgenommen wird, muss zu denken geben.
Praxisverbundene Fachdidaktiker finden richtigen Weg
Zu den schönsten Aufgaben des Lehrerberufs gehört die Vermittlung von kulturellem Wissen im Realienunterricht. Mit dem historischen Lehrpfad im Grenzgebiet der Kantone Luzern und Aargau entlang der Reuss ist es gelungen, für Schulklassen eine attraktive Aufarbeitung der Zeit des Sonderbundskriegs zu schaffen. Carl Bossard deckt eindrücklich auf, was eine gute Zusammenarbeit zwischen praxisverbundenen Fachdidaktikern und Lehrkräften bewirken kann, wenn die Begeisterung für eine Sache vorhanden ist.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre. Und vergessen Sie nicht, unsere Förderklassen-Initiative zu unterstützen, sofern Sie dies nicht schon getan haben.
Hanspeter Amstutz
Nein – tut sie nicht (mehr).