Am einem 31. Oktober fragte ich die Schüler meines Geschichtskurses in der Gymnasialen Oberstufe eines Berliner Gymnasiums, ob sie wüssten, welchen Tag wir heute feierten. “Halloween” schallte es mir vielstimmig entgegen. An meiner Miene, die sich verfinsterte, sahen die Schüler, dass ihre Antwort nicht optimal ausgefallen war. Nach einigem Hin und Her fand schliesslich eine Schülerin, die in einer evangelischen Gemeinde aktiv ist, die richtige Antwort: Es war der Reformationstag. Was Luther damals wollte und worin seine bleibende geschichtliche Leistung besteht, wussten die Schüler spontan nicht zu sagen. Im Geschichtsunterricht war das sicher irgendwann einmal “dran gewesen”. Nur hängengeblieben ist nichts.
So sieht es auch mit anderen wichtigen historischen Ereignissen aus. Kaum ein Schüler weiss etwas über die wichtigsten römischen Kaiser der Deutschen im Mittelalter zu sagen, die Fragen nach den demokratischen Bestrebungen im 19. Jahrhundert, nach Wartburgfest, Hambacher Fest und Paulskirche, bleiben ohne Antwort. Selbst Ereignisse, die ihre Eltern oder Grosseltern noch selbst erlebt haben, wie der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR oder der Mauerfall 1989, sind im Gedächtnis der Schüler nicht präsent.
Turnvater Jahn entsorgt
Szenenwechsel: Im Frühjahr 2015 wurde die Turnvater-Jahn-Grundschule in Berlin-Prenzlauer Berg umgetauft. Der Name des Begründers des Massensports in Deutschland, Friedrich Ludwig Jahn, war als Namenspatron nicht mehr gefragt. Stattdessen erhielt die Grundschule den Namen des Bierbrauers Bötzow. Was war passiert? Einige Eltern und Lehrer hatten an Jahns Gesinnung Anstoss genommen. Der Turnvater sei als Namenspatron in der heutigen Zeit nur noch “schwer vermittelbar”, weil er “nationalistisch” gewesen sei und “gegen die ethnische Vermischung des Volkes” agitiert habe.
Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn gebildete Menschen historische Persönlichkeiten nicht mehr aus ihrer Zeit heraus verstehen können, sondern unhistorisch aus heutiger Sicht die Messlatte der politischen Korrektheit anlegen.
Solche Haltungen findet man bei so gut wie allen Geistesgrössen vergangener Jahrhunderte. Wer erinnert sich nicht an den fanatischen Judenhass von Martin Luther? Friedrich Ludwig Jahn “Nationalismus” vorzuwerfen, ist Ausdruck eines erschreckenden Unwissens über die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Für die einheitliche deutsche Nation einzutreten, war im Deutschen Bund mit seinen 39 Einzelstaaten durchaus fortschrittlich, man könnte sogar sagen, ein linkes Projekt, zumal das nationale Streben mit der Forderung nach einer demokratischen Verfassung einherging.
Mit derselben Berechtigung könnte man die Heinrich-Heine-Schulen umtaufen, weil Heine ebenfalls ein glühender Verfechter der nationalen Einheit Deutschlands war. Jahns Kampf um Freiheitsrechte brachte ihm immerhin sechs Jahre Kerkerhaft ein und danach 15 Jahre Polizeiaufsicht. Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn gebildete Menschen historische Persönlichkeiten nicht mehr aus ihrer Zeit heraus verstehen können, sondern unhistorisch aus heutiger Sicht die Messlatte der politischen Korrektheit anlegen.
Sozialdemokratischer Altkanzler im Putin-Sprech
Im Mai 2014 bestritt der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) in einem Zeitungsinterview, “dass es ein Volk der Ukrainer, eine nationale Identität” gebe. Drei Monate zuvor hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim militärisch besetzt und später durch ein Scheinreferendum der Russischen Föderation einverleibt. Historiker mit osteuropäischer Expertise warfen dem Altkanzler Unkenntnis der ukrainischen Geschichte vor.
In den Turbulenzen der Oktoberrevolution 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik aus den ukrainischen Gebieten, die bis dahin zum Russischen Kaiserreich gehört hatten, gegründet. Im russischen Bürgerkrieg eroberten die Bolschewiki Kiew und lösten den selbständigen ukrainischen Staat auf. Er wurde als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion eingegliedert. Weil Lenin nationalistische Aufstände befürchtete, gab er der Ukraine den Status einer eigenen Sowjetrepublik. Bei der Gründung der Vereinten Nationen 1946 wurde die Ukraine auf Betreiben Stalins sogar als eigener Staat aufgenommen.
Schmidts Leugnung historischer Fakten ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst demokratische Politiker versucht sind, wegen aktueller Opportunitäten die Geschichte zu verfälschen.
Als die Sowjetunion 1990 zerfiel, erklärte die Ukraine ihre Selbständigkeit. 1991 bestätigten 90 Prozent der Ukrainer bei einer Volksabstimmung den Status als unabhängige Nation. Schmidts Leugnung historischer Fakten ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst demokratische Politiker versucht sind, wegen aktueller Opportunitäten die Geschichte zu verfälschen. Schmidt wollte die Ostpolitik Willy Brandts verteidigen, der bei seinen Verhandlungen mit der Sowjetunion auch keine Rücksicht auf die Interessen der kleinen Staaten an der östlichen Peripherie Europas genommen hatte. Die Ukraine und Belarus kamen im Weltbild der Sozialdemokratie nicht vor, weil sie sich bei ihrer Ostpolitik immer nur mit Sowjet-Russland ins Benehmen setzte.
Die Sowjetunion und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
Seit der Entspannungspolitik von Willy Brandt in den 1970er Jahren gilt die SPD als die deutsche Partei mit einem besonderen Verhältnis zu Russland. Manche Historiker sprechen von einer irrationalen Russlandliebe. In den zahlreichen Reden, die deutsche Sozialdemokraten – allen voran Frank-Walter Steinmeier – auf die deutsch-russische Freundschaft hielten, liessen sie ein Faktum stets ausser Acht, das man in den Geschichtsbüchern leicht finden kann: Die Sowjetunion war über den Hitler-Stalin-Pakt von August 1939 an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs militärisch beteiligt.
Das geheime Zusatzprotokoll des Vertrags sah nämlich vor, dass die kleineren Staaten zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich in Einflusszonen aufgeteilt werden. Als Hitler am 1. September 1939 Polen überfiel, wartete Stalin noch 17 Tage, bis er seinerseits mit der Roten Armee von Osten her in Polen einmarschierte. An der Demarkationslinie der eroberten Gebiete feierten Wehrmacht und Rote Armee den gemeinsam errungenen Sieg.
Dieses Faktum wird in der russischen Geschichtsschreibung bis heute schamhaft verschwiegen. Wenn es westliche Historiker zur Sprache bringen, wird es von Russland bestritten. Das ist zwar töricht, weil die Dokumente jederzeit einsehbar sind. Die Geschichtslüge ist aber notwendig, um die Legende von der Friedensmacht Sowjetunion aufrechterhalten zu können. Als indirektes Eingeständnis der Beteiligung am Kriegsausbruch kann man deuten, dass in der russischen Geschichtsschreibung der Grosse Vaterländische Krieg erst mit dem Jahr 1941 beginnt.
Aussöhnungspolitik nicht beschädigen
Die SPD hat in Bezug auf die Verstrickung der SU in den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine merkwürdige Haltung eingenommen. Als gäbe es ein Schweigegebot, wird der 17. September 1939, ein Datum, das in Polen jedes Schulkind kennt, in Reden niemals erwähnt. Der Grund ist einfach. Die ganze Aussöhnungspolitik der SPD gegenüber Russland wäre beschädigt, wenn sie auch einem Aggressor gelten würde.
Es rächt sich, dass die SPD ihre Russlandpolitik bis heute nicht schonungslos aufgearbeitet hat. Dass in der Mitte Berlins am sowjetischen Ehrenmal zwei russische Panzer vom Typ T-34/76 stehen, hat, wenn man die Aggressionsgeschichte Russlands kennt, einen makabren Beigeschmack. Mit solchen Panzern hat die Rote Armee Polen und Finnland überfallen, sie werden heute auch noch im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt. Im sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park gibt es die Inschrift: “Im Juni 1941 überfiel Hitlerdeutschland wortbrüchig unser Land in brutaler und niederträchtiger Weise”. Historisch getreu müsste in den sowjetischen Gedenkstätten zugleich daran erinnert werden, dass sich Stalins Sowjetunion an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beteiligte: Am 17. September 1939 überfiel die Rote Armee Polen, am 30. November 1939 überfiel sie Finnland.
Christliches Kreuz abgehängt
Beim Aussenministertreffen der G7-Staaten im November 2022 in Münster hängten die Beamten der grünen Aussenministerin Annalena Baerbock im Friedenssaal des Rathauses das Ratskreuz ab, weil sie den Teilnehmern, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen, nicht zumuten wollten, unter dem Kreuz zu tagen. Im Friedenssaal wurde 1648 der Friedensvertrag unterzeichnet, der dem 30-jährigen Gemetzel des Glaubenskrieges ein Ende setzte. Historiker bewerten den Westfälischen Frieden als historischen Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten.
Der Vertrag habe eine Entwicklung in Gang gesetzt, die zur Herausbildung des modernen Völkerrechts geführt habe. Der ausgerufene Religionsfriede sah zudem vor, dass die christlichen Stände beider Konfessionen künftig auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele verzichten. Die Trennung von Staat und Religion, die zu unserer heutigen Staatsverfassung gehört, wurde damals auf den Weg gebracht.
Es ist geschichtsvergessen, zu leugnen, dass der Westfälische Frieden unter dem christlichen Kreuz geschlossen wurde. Es gemahnt die Nachfahren bis heute, den kostbaren Frieden zu bewahren. “Das christliche Kreuz ist ein Zeichen der Versöhnung”, unterstrich der Münsteraner Oberbürgermeister Marcus Lewe, der damals auf die Entfernung des Kreuzes mit Unverständnis reagierte.
Eine Pointe des Kreuz-Streites von Münster liegt darin, dass die beiden christlichen Konfessionen mit ihrem Gewaltverzicht schon im 17. Jahrhundert einen Schritt getan haben, auf den wir beim Islam immer noch warten. In den meisten islamischen Staaten gilt der Islam als Staatsreligion, was eine Trennung von Staat und Gesellschaft unmöglich macht.
Bismarck gecancelt
Im Aussenministerium ließ Baerbock das Bismarck-Zimmer in “Saal der Deutschen Einheit” umbenennen. Auch das Portrait des Kanzlers des (zweiten) Deutschen Reiches wurde abgehängt. Die Umbenennung trage “der Tatsache Rechnung, dass das Auswärtige Amt seine Traditionslinie massgeblich in der demokratischen Geschichte Deutschlands verankert sieht”. Ohne Geschichtsvergessenheit geht es bei der grünen Aussenministerin nicht ab. Bismarck hat nicht nur die deutsche Einheit 1870/71 bewirkt. Er ist auch der Schöpfer der modernen Sozialgesetzgebung. Durch seine Bündnispolitik hat er Deutschland in Europa so verortet, dass es maximal abgesichert war. Eine so einseitige Abhängigkeit von einer Macht, wie es die BRD vom Energielieferanten Russland war, hätte er nie zugelassen.
Die Apologeten der Cancel Culture legen an Herrscher vergangener Zeiten die Messlatte heutiger Moral an, womit sie mit dem zentralen Axiom der Geschichtswissenschaft brechen, wonach man historische Ereignisse und Persönlichkeiten nur aus ihrer Zeit heraus verstehen kann.
Das Deutsche Reich geriet erst auf die schiefe Bahn, als Bismarck von Kaiser Wilhelm II. entlassen wurde. Danach bestimmten Imponiergehabe und die Fahrlässigkeit eines Dilettanten die Aussenpolitik. Vielleicht liegt Baerbocks Aversion gegenüber Bismarck darin, dass seine Aussenpolitik strikte Interessenpolitik war, während die grüne Aussenministerin einer “feministischen Außenpolitik” den Vorzug gibt.
Identitätspolitik verhindert historische Einsichten
Woher kommen solche Anflüge von Geschichtsvergessenheit? Die Parteien des linken Spektrums sind beeinflusst von der Identitätspolitik, die in den letzten Jahren den Weg aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland gefunden hat. Deren zentrale These besagt, dass es in den Gesellschaften der demokratischen Staaten einen “strukturellen Rassismus” gebe, der dazu diene, die kulturelle Hegemonie der weissen, patriarchalen Eliten aufrechtzuerhalten. Um die weisse Dominanz zu brechen, sei es legitim, die Opfergruppen gegenüber dem Mainstream der Gesellschaft zu bevorzugen.
Die Identitätspolitik macht auch vor historischen Persönlichkeiten nicht halt. Sie sollen aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, ihre Denkmale aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Die Apologeten der Cancel Culture legen an Herrscher vergangener Zeiten die Messlatte heutiger Moral an, womit sie mit dem zentralen Axiom der Geschichtswissenschaft brechen, wonach man historische Ereignisse und Persönlichkeiten nur aus ihrer Zeit heraus verstehen kann.
Gefährdung unserer Erinnerungskultur
Rechtsextremisten bekämpften immer schon das in Deutschland gepflegte Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten, vor allem an die Millionen Juden, die im Holocaust fabrikmässig ermordet wurden. Sie sprechen von einem “irren Schuld-Kult”, dem die Deutschen in masochistischer Manier verfallen seien. Sie möchten stattdessen die Glanztaten der Deutschen, gerne auch die Heldengeschichten aus ihren Kriegen, ins Zentrum rücken, um den Heranwachsenden Stolz auf ihr Deutschsein einzuimpfen.
Die Turbulenzen nach dem Terrorüberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, die sich in Deutschland entluden, haben gezeigt, dass es in unserem Land noch weitere Gegner unserer Erinnerungskultur gibt: radikale Muslime und Linksextremisten.
Islamisten bekämpfen das Holocaust-Gedenken, weil der Holocaust für die Deutschen eine wichtige Begründung für die Existenz des Staates Israel darstellt. Linksextremisten demonstrieren mit der Parole “Free Palestine from German Guilt”. Die Palästinenser sollen – so die Logik der Losung – nicht durch die deutsche Schuld am Holocaust in ihrem “gerechten Befreiungskampf” behindert werden. Untermauert wird diese Forderung durch die Theorie des Postkolonialismus, derzufolge Israel mit seiner Staatsgründung den Status als Opfer verloren habe und als “Kolonialstaat” selbst zum Unterdrücker geworden sei. Der Terrorakt der Hamas am 7. Oktober 2023 wird zum Widerstandsakt einer unterdrückten Gesellschaft gegen eine weisse Kolonialmacht verklärt.
Diese Täter-Opfer-Umkehr ist bei jungen Menschen, die sich dem linken politischen Spektrum zuordnen, beliebt, weil sie psychische Entlastung bietet für die Verstrickung der Grosseltern in das Menschheitsverbrechen der Schoa. Dass AfD-Politiker ähnliche Parolen verkünden (“Schluss mit dem Schuld-Kult”), stört die linken Intellektuellen nicht.
Antisemitismus resultiert auch aus Unwissen
Der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat in Deutschland viele Muslime zu Freudenbekundungen veranlasst. Im Politik- und Geschichtsunterricht sahen sich Lehrkräfte einer massiven Stimmungsmache arabischer und türkischer Schüler gegenüber, die das Massaker an Zivilisten als “Notwehr” bezeichneten und Israel als “Kindermörderland” verunglimpften.
In keinem Geschichtsbuch wird unmissverständlich dargestellt, dass die Palästinenser ihr Schicksal selbst verschuldet haben, indem sie den ihnen 1947 von den Vereinten Nationen zugestandenen Staat abgelehnt haben.
Dass Lehrer bei der Besprechung des Nahostkonflikts so sehr in die Defensive geraten sind, hat auch etwas damit zu tun, dass in der öffentlichen Meinung und in Schulbüchern eine merkwürdige Äquidistanz zu Israel und den Palästinensern herrscht, die sich um die historischen Tatsachen herumdrückt. In keinem Geschichtsbuch wird unmissverständlich dargestellt, dass die Palästinenser ihr Schicksal selbst verschuldet haben, indem sie den ihnen 1947 von den Vereinten Nationen zugestandenen Staat abgelehnt haben. Stattdessen überfielen die Armeen Jordaniens, Syriens, des Irak, Ägyptens und Jordaniens den frisch gegründeten Staat Israel, um ihn – wie die arabischen Herrscher offen zugaben – von der Landkarte zu tilgen.
Da Israel den Unabhängigkeitskrieg gewann, versuchten es die arabischen Staaten noch weitere Male: im Suezkrieg 1956, im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973. Bis heute haben die palästinensischen Führer das Existenzrecht Israels nicht anerkannt, bis heute träumen sie davon, “alle Juden ins Meer zu treiben”, wie es der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser 1967 formulierte. Wenn Deutschland immer wieder betont, Israels Existenzrecht gehöre zur deutschen Staatsräson, muss sich dieses Bekenntnis auch darin niederschlagen, dass wir in den Schulen und Hochschulen viel entschiedener als bisher über die historischen Tatsachen aufklären. Nur so können wir den Geschichtslügen der palästinensischen Führer, die alle keine Demokraten sind, entgegentreten.
Geschichtsunterricht in der Krise
Dass der Geschichtsunterricht in der Krise ist, lässt sich an den vielen Reformversuchen ablesen, die dieses wichtige Schulfach in den letzten Jahren hat über sich ergehen lassen müssen. Als zu Beginn der 2000er Jahre die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts eingeführt wurde, zeigte sich bald, dass dieses Fach, das wie kein anderes auf die Vermittlung von Faktenwissen angewiesen ist, unter dem Vorrang der Kompetenzen besonders litt. Viele Geschichtslehrer hielten die didaktischen Vorgaben für verfehlt und unterliefen sie in der Praxis.
Fragwürdig ist auch die Mode, in der Unterstufe der weiterführenden Schulen Geschichte nur noch im Verbund mit den benachbarten Fächern Sozialkunde (Politik) und Geografie zu unterrichten. Das neue Label heisst “Gesellschaftswissenschaften”. Eine Folge ist, dass Geschichte als das schwierigste der drei Fächer unter dem Zusammenschluss besonders leidet, zumal es oft von fachfremden Lehrkräften unterrichtet wird.
Einen Sturm der Entrüstung unter den Geschichtslehrern rief die Entscheidung der Berliner Schulverwaltung hervor, im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I das chronologisch-genetische Strukturierungsprinzip zugunsten von thematischen Längsschnitten aufzugeben. Die Längsschnitte sollten von heutigen, lebensweltlich wichtigen Fragestellungen ausgehen. Kritiker sahen die Gefahr darin, dass bei einem solchen Ansatz erst gar nicht versucht werde, geschichtliche Epochen aus sich selbst heraus zu verstehen.
Mittelalterliche Lebensformen kann man nur verstehen, wenn man sich auf eine intensive Beschäftigung mit der damaligen Gesellschaft einlässt. Der Unterricht in Längsschnitten lässt eine solche Intensität gar nicht zu.
Ich habe nach diesem Prinzip die Themen “Migration” und “Armut und Reichtum” unterrichtet und feststellen müssen, dass das von den Schulbuchverlagen angebotene Material dem Übel Vorschub leistet, historische Ereignisse mit der Elle heutiger Moral zu messen, was zu absurden Kurzschlüssen führt. Aber natürlich waren Bettelmönche nicht deshalb arm, weil es im Mittelalter das Bürgergeld noch nicht gab, sondern weil sie diese Lebensform freiwillig gewählt hatten, um frei von weltlichen Gütern Gott näher zu sein. Mittelalterliche Lebensformen kann man nur verstehen, wenn man sich auf eine intensive Beschäftigung mit der damaligen Gesellschaft einlässt. Der Unterricht in Längsschnitten lässt eine solche Intensität gar nicht zu.
Nötig ist eine nationale Geschichtserzählung
Alle aktuellen Lehrpläne vermeiden die Entscheidung, ob der Geschichtsunterricht einen Kanon von Wissensbeständen vermitteln soll, der für Heranwachsende unverzichtbar ist. Die politischen Eliten unseres Landes schrecken davor zurück, eine nationale Geschichtserzählung zu etablieren, wie sie in anderen Ländern selbstverständlich ist. Zu gross ist die Angst, das Narrativ könnte ins Nationalistische abgleiten und die bösen Geister der Vergangenheit heraufbeschwören. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung hält sich hier vornehm zurück, obwohl die Vermittlung historischen Wissens zu ihrem Bildungsauftrag gehört, der vor allem darin besteht, das demokratische Bewusstsein zu festigen.
Eine patriotische Einstellung der Deutschen ist auch 79 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nach Holocaust und Krieg, noch keinesfalls selbstverständlich. Nur im Sport gönnen wir uns eine kurzfristige patriotische Aufwallung, die nach dem Ende des Ereignisses schnell wieder verfliegt und einer affektiven Nüchternheit Platz macht. Schwarz-rot-goldene Perücken und Fähnchen am Auto statt patriotischer Haltung.
Verfassungspatriotismus als identifikatorische Magerkost
Gerne wird darauf verwiesen, dass das von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas entwickelte Konzept des Verfassungspatriotismus ausreiche, um Deutsche und Zuwanderer mit unserem Gemeinwesen zu versöhnen. Der erste Artikel des Grundgesetzes ist zwar eine Perle, vor allem auch in seiner sprachlichen Prägnanz (“Die Würde des Menschen ist unantastbar”), zur Identifikation mit einem Staatswesen tragen jedoch vor allem Narrative bei, die man emotional besetzen kann.
Nur im Sport gönnen wir uns eine kurzfristige patriotische Aufwallung, die nach dem Ende des Ereignisses schnell wieder verfliegt und einer affektiven Nüchternheit Platz macht. Schwarz-rot-goldene Perücken und Fähnchen am Auto statt patriotischer Haltung.
Autoritäre Staaten dieser Welt wissen um die Wirkung “nationaler Erzählungen” und nutzen sie intensiv zur Indoktrination ihrer Völker. Sie scheuen auch vor Geschichtsklitterung oder vor offenem Revisionismus nicht zurück, wie das Beispiel Russlands lehrt. Einer Demokratie wäre ein solches Verfahren natürlich unwürdig. Einen aufgeklärten Patriotismus hingegen könnte unser Land gerade dann, wenn es in seiner Zusammensetzung immer heterogener wird, gut vertragen.
Angesichts der vielen Fremden, die in unser Land kommen, weil sie es schätzen, könnten wir uns guten Gewissens von der bei vielen kritischen Geistern verbreiteten “negativen Identifikation” mit Deutschland, die der Philosoph Hermann Lübbe “Sündenstolz” genannt hat, verabschieden und zu einer positiven Identifikation finden. Abiturientinnen, die als Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe tätig waren, erzählten mir, dass sie während der Willkommenskultur zum ersten Mal erlebt hätten, wie es sich anfühlt, “stolz auf unser Land zu sein”.
Echter Patriotismus verträgt sich immer mit einer weltbürgerlichen Gesinnung. Goethe schuf das Wort “Weltliteratur”. Als Kosmopolit war er stets offen für andere Kulturen, er lernte mehrere Sprachen und öffnete sich in seinem Lyrik-Zyklus “West-östlicher Divan” der damals fremden orientalischen Kultur. Gleichzeitig war er tief verwurzelt in der Geschichte deutscher Sprache und Kultur.
Stationen der demokratischen Entwicklung als Orientierung
Welche Geschichtserzählung wäre in unseren Schulen angebracht? In einer Zeit, in der die Demokratie immer aggressiver von autokratischen Herrschern und diktatorischen Staaten herausgefordert wird, böte es sich an, die Ereignisse unserer Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken, die die demokratische Identität unserer Nation begründeten. Jeder Schüler, der die Schule verlässt, sollte wissen, was sich 1813, 1817, 1832, 1848, 1918, 1944, 1948, 1953 und 1989 ereignet hat. Ein Geschichtsunterricht der Beliebigkeit und der vordergründigen Aktualisierung wird dazu führen, dass das geschichtliche Bewusstsein der Schüler noch weiter verkümmert. Ein guter Geschichtsunterricht ist aber ein wichtiger Beitrag zur Festigung unserer Demokratie.
In Zukunft werden Schüler die Schule verlassen, denen ein fragwürdiges Unterrichtskonzept den historischen Kompass für ihr Leben vorenthält. Man kann nur hoffen, dass ihnen ähnlich schmerzliche Lernprozesse wie den Generationen vor uns erspart bleiben.
Von dem amerikanischen Philosophen spanischer Herkunft George Santayana (1863–1952) stammt der Satz “Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen”. In Zukunft werden Schüler die Schule verlassen, denen ein fragwürdiges Unterrichtskonzept den historischen Kompass für ihr Leben vorenthält. Man kann nur hoffen, dass ihnen ähnlich schmerzliche Lernprozesse wie den Generationen vor uns erspart bleiben.