29. März 2024

Fernunterricht ersetzt die Schule nicht

Wie ein Bergsturz überkam uns das Corona-Virus. Die Schulen sind seit einer Woche geschlossen; angesagt ist Fernunterricht. Das ist für viele gut, benachteiligt aber manche Kinder. Davon ist Condorcet-Autor Carl Bossard überzeugt.

Carl Bossard

Lehrer seien „nicht gerüstet, um die Schüler zuhause mit Lernstoff und Aufgaben zu versorgen“, wetterte die Luzerner Zeitung dieser Tage und zog mit einem Pauschalverriss über die Schulen her.[1] „Es kann nicht sein, dass Tausende von wissbegierigen Schülern für Wochen, vielleicht für Monate auf dem Trockenen sitzen“, schimpfte der erboste CH Media-Redaktor weiter.

Kinder im Homeoffice

Wie wenn dem so wäre! Wer nach dem unerwarteten bundesrätlichen Stopp des Präsenzunterrichts in Arbeitszimmer einzelner Schulen schaute, sah, wie intensiv sich Lehrerinnen und Lehrer um eine sinnvolle Fortsetzung des Unterrichts kümmerten. Sie informierten die Schülerinnen und Schüler, versandten Aufgaben übers Netz und verschickten gedruckte Unterlagen per Post – oft versehen mit persönlichen Notizen und guten Wünschen. So können die Kinder zu Hause lernen – digital und analog. Keine Spur von „Ratlosigkeit“, wie sie der Journalist den Lehrern unterstellte. Im Gegenteil!

Lernen erfordert positive Beziehungen

Die journalistische Brandrede verkennt, dass sich im Unterricht nicht alles an Digitalprogramme delegieren lässt, auch wenn die IT-Branche so tut als ob. Verdrängt da nicht wirtschaftliches Gewinnstreben die pädagogische Intention? Der Monitor allein ist ein ungeselliger Geselle – gerade für jüngere Kinder und auch für lernschwächere. Sie können sich nicht einfach hinsetzen und sagen: „Ich lern’ jetzt was!“ Hier liegen die Limite des „Teach yourself!“ und die Grenzen der digitalen Revolution. Es geht nicht alles selber; es braucht das angeregte Hirn. Und wer regt es an? Ein lebendig anregendes Vis-à-Vis. Schulisches Lernen hat neben dem Inhaltsaspekt eben immer auch einen Beziehungsaspekt.

Der Monitor allein ist ein ungeselliger Geselle – gerade für jüngere Kinder und auch für lernschwächere.

Gemeinsames Arbeiten unter Anleitung der Lehrkraft …
… versus einsames Lernen online vernetzt.

Medienberichte über Schülerinnen und Schüler im aktuellen Homeoffice zeigen sie meist zusammen mit animierenden Eltern.[2] Erwachsene ersetzen nun das, was Kinder in der Schule zwingend brauchen: die positive Beziehung zu einer verantwortungsbewussten Lehrerin, zu einem vital präsenten Lehrer, kurz: zu einem menschlichen Gegenüber, das ihnen Verbindlichkeit und Orientierung vermittelt. Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. „Im Andern zu sich selbst kommen“ – darin erkannte der deutsche Philosoph Hegel das Wesen von Bildung.

Vom Aufbau systematischen Wissens und Können

Kinder und Jugendliche müssen sich in allen Fächern intensiv mit dem Thema der Digitalisierung beschäftigen. Das steht ausser Zweifel. Die Schule ermöglicht dies stufen- und altersgerecht. Lernplattformen und Tabletts liefern für den Unterricht neue Möglichkeiten. Es gibt viele gute Ideen – beispielsweise aus den Naturwissenschaften, wo etwa die Smartphones unter pädagogischer Anleitung der Lehrperson als wissenschaftliche Messinstrumente genutzt werden. Für ihre Berufsbiografie brauchen junge Menschen auch auf diesem Gebiet Fertigkeiten und Fähigkeiten – verbunden allerdings mit der Einsicht in die Grenzen und Risiken dieser Technologie und der Fähigkeit, sich von ihrer Dominanz zu lösen.

 

Im Übrigen aber brauchen Kinder das, was sie immer brauchten: fachliches Wissen, kulturelle Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, dazu Urteilskraft und Selbsterkenntnis. Diese Kompetenzen kommen nicht von alleine. Darum wohl hat der renommierte Lernpsychologe Franz E. Weinert, Vater der ganzen Kompetenzdiskussion, darauf verwiesen, dass bei anspruchsvollen Lernaufgaben die gezielte und gekonnte Unterstützung durch die Lehrkraft notwendig ist. Nur so könne es zum Aufbau systematischen und fehlerfreien Wissens kommen, betonte er. Beim Lernen gehe es immer um Verstehen, Durcharbeiten und Anwenden des Stoffes durch Schüler – also um zunehmendes Können oder um kontinuierlich verbesserte Kompetenz. Das lässt sich nicht an Digitalprogramme delegieren; Algorithmen allein können diese Aufgabe nicht übernehmen.

 

Big brother is teaching you?

Viele Studien bestätigen diesen Befund. Diejenigen, die in der Schule häufig mit Laptops oder digitalen Geräten arbeiteten, schlossen „bei den meisten Lernergebnissen viel schlechter ab, auch nach Berücksichtigung sozialer Aspekte.“ Dies wies eine Analyse mit Millionen von Schülern in den 36 Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD nach.[3]

 

Eine andere Studie belegte beispielsweise, dass Achtklässler, die Algebra I online belegten, deutlich schlechter abschnitten als ihre Kolleginnen und Kollegen, die den Kurs persönlich besuchten.[4] Digitales Lernen brachte keinen Mehrwert. Im Gegenteil! Solche wissenschaftlichen Befunde führten auch zu einer (Wieder-)Entdeckung des Lehrens.[5]

 

Bildung vermitteln, nicht einfach Lernen begleiten

Wer alles algorithmisch regeln will, nimmt dem Bildungssystem das Humane. Schulen haben den Auftrag, Bildung zu vermitteln und nicht einfach Lernen zu begleiten. Das hat der Redaktor bei seinem feurigen Mantra für die Digitalisierung der Schulen zu wenig bedacht.

Das ist kein Plädoyer gegen digitale Medien.

Damit ist kein Plädoyer gegen digitale Medien formuliert; das wäre so dumm wie aussichtslos. Ihr schulischer Einsatz ist zu begrüssen. Doch es gilt, die Natur der Lern- und Bildungsprozesse zu respektieren – und damit die anthropologischen Konstanten: Die menschliche Evolution ist nicht einfach eine Kaskade technischer Revolutionen. Eine solche Einsicht hätten uns auch Johann Heinrich Pestalozzi oder Jean Piaget in einem Chatroom eröffnet. Sie ist nicht neu. Neu ist bloss die unsinnige Idee, dass die digitalen Medien das Lernen revolutionieren und erleichtern würden oder eine App die Lehrperson ersetzten könnte. Gerade für lernschwächere Kinder wäre das nicht zu verantworten.

Bildung ist an Personen gebunden

Verantwortungsbewusste Lehrpersonen haben darum ihren Schülerinnen und Schülern fürs coronabedingte Homeoffice den persönlichen Kontakt via Telefon angeboten – und nicht nur über digitale Kanäle. Sie wissen: Bildung ist immer und notwendig an eine Person gebunden. Das unterstreicht auch die Mail einer Mutter, die der Viertklass-Lehrerin ihres Sohnes geschrieben hat: „Tobias vermisst den Unterricht.“ Und dies schon nach drei Tagen!

Tobias: Ich vermisse die Schule.

Die kleine Nachricht zeigt, wie wichtig die Lehrperson und ihr Unterricht sind. Sie sind einer der stärksten Faktoren für den Lernerfolg. Das Digitale kann das Pädagogische nicht ersetzen.

 

[1] François Schmid-Bechtel, Krise deckt unsere Versäumnisse auf, in: Luzerner Zeitung, 16.02.2020, S. 1.

[2] Vgl. u.a. Katja Fischer De Santi, Zu Hause unterrichten – so geht’s, in: Zuger Zeitung, S. 15.

[3] How classroom technology is holding students back, MIT Technology Review, 19. 12. 2019, von Natalie Wexler, übersetzt ins Deutsche von Urs Kalberer. Der Originaltext ist abrufbar unter https://www.technologyreview.com/s/614893/classroom-technology-holding-students-back-edtech-kids-education/

[4] Ebd.

[5] Vgl. Gert J.J. Biesta (2017), The Rediscovery of Teaching. Ney York and London: Routledge.

 

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