Erkenntnistheorie und Politik

Missbrauch von Wissenschaft

Im Wissenschaftsbetrieb wird vermehrt darauf geachtet, dass die angestrebten Resultate von Forschungsarbeiten nicht dem politischen Mainstream widersprechen. Umso wichtiger ist es daher, nach den Grundlagen des Wissens zu fragen. Wir bringen einen Beitrag von Dieter Köhler und Andreas F. Rothenberger, der im Cicero erschienen ist.

Auch wenn das Wort “Wissenschaft” aus etymologischer Sicht nichts mit dem “Schaffen von Wissen” zu tun hat, sondern die Beschaffenheit bzw. Ordnung des Wissens zum Gegenstand hat, so ist es dennoch passend, wenn man das Schaffen von neuem Wissen als Ziel der Wissenschaft betrachtet. Doch was zeichnet “Wissen” aus? Und woher weiss man, dass man etwas weiss?

Co-Gastautor Dieter Köhler

Politische Beschlüsse, die immanente gesellschaftliche Auswirkungen haben, sollten so gut wie nur menschenmöglich auf Fakten basieren. Dafür sollte die Politik auf seriös gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen. Denn dadurch lassen sich die besten Vorgehensweisen festlegen, um politische Ziele zu erreichen.

Fatalerweise ist es in letzter Zeit jedoch vermehrt dazu gekommen, dass Politikerinnen und Politiker reine Beobachtungsstudien oder noch zu überprüfende Hypothesen dazu missbraucht haben, die von ihnen vorgeschlagenen Vorgehensweisen oder gar die politischen Ziele an sich als wissenschaftliche Fakten darzustellen. So wurden beispielsweise die Impfstoffe gegen Covid-19 fälschlicherweise von vielen Politikerinnen und Politikern als geeignet dargestellt, um Ansteckungen zu verhindern, oder dass diese keine ernsthaften Nebenwirkungen haben würden.

Es kommt im Wissenschaftsbetrieb nun vermehrt dazu, dass bei Forschungsarbeiten darauf geachtet wird, dass deren angestrebte Resultate nicht dem politischen Mainstream widersprechen.

 

Die negativen Auswirkungen für die Gesellschaft im Allgemeinen und die wissenschaftliche Gemeinschaft im Besonderen wurden dann noch dadurch verschärft, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nicht in das Horn dieser Politikerinnen und Politiker stiessen, öffentlich diskreditiert wurden und um ihr Ansehen sowie ihre Karriere in der akademischen Wissenschaft fürchten mussten. Es kommt im Wissenschaftsbetrieb nun vermehrt dazu, dass bei Forschungsarbeiten darauf geachtet wird, dass deren angestrebte Resultate nicht dem politischen Mainstream widersprechen. Oder dass dem Mainstream zuwiderlaufende Resultate lieber erst gar nicht publiziert werden, um die eigene Karriere nicht zu gefährden.

“Ich denke, also bin ich”

In dieser für die Gesellschaft wie für die freie Wissenschaft bedrohlichen Gemengelage ist es daher umso wichtiger, noch einmal nach den Grundlagen des Wissens zu fragen: Was also können Menschen über sich und die sie umgebende Welt wirklich wissen? Seit jeher treibt diese Fragestellung Philosophen um und führte zu der bekannten Aussage “cogito ergo sum” von René Descartes; ich denke, also bin ich.

René Descartes, Philosoph, Mathematiker, Naturwissenschaftler 1596-1670: Zog alles in Zweifel.

Descartes zog konsequent alles in Zweifel und kam dadurch zu dem Schluss, dass jede Wahrnehmung auch ein Trugbild sein könne, und man nicht einmal sicher wissen könne, ob man träume oder nicht. Das Einzige, was man jedoch nicht sinnvoll in Zweifel ziehen könne, und deswegen das einzig sichere Wissen über die sinnlich erfahrbare Welt darstelle, sei die Tatsache, dass man zweifle. Und weil das Zweifeln eine Verstandestätigkeit sei, bedarf es zwingend eines Tätigen bzw. Denkenden, und dieser Denkende sei man selbst. Daher sei es gewiss, dass man selber existiere: “Ich denke, also bin ich.”

Politik auf der Grundlage von Beobachtungsstudien oder noch zu überprüfenden Hypothesen, wie wir sie in den zurückliegenden Jahren immer wieder erlebt haben, ist fatal.

 

Ausser dieser Aussage über unsere empirischen Wahrnehmungen gibt es kein sicheres Wissen über empirische Sachverhalte, weswegen man in den empirischen Naturwissenschaften vor Irrtümern nie gefeit ist. Selbst lang existierende Paradigmen wie z.B. das geozentrische Weltbild oder die Newtonsche Mechanik können sich aufgrund neuer wissenschaftlicher Arbeiten plötzlich als falsch oder nicht allgemeingültig erweisen. Der Philosoph Karl Popper entwickelte aus dieser Erkenntnis den sogenannten “kritischen Rationalismus”, welcher die Existenz einer Welt annimmt, zu der Menschen nur einen durch ihren Wahrnehmungsapparat vermittelten Zugang haben.

Co-Gastautor Andreas F. Rothenberger

Die Kausalität dieser Welt wird von (Natur-)Gesetzen strukturiert, die uns Menschen zwar nicht direkt zugänglich, aber aus Erfahrungen bzw. Beobachtungen ableitbar sind. Da die Schlussfolgerungen aus Beobachtungen jedoch stets vernünftig anzweifelbar sind, hat er die Methodik der “Falsifikation” entwickelt, die Imre Lakatos zum raffinierten Falsifikationismus erweiterte: Eine auf Beobachtungen basierende Annahme eines kausalen Zusammenhangs wird als Hypothese aufgestellt, die durch Experimente widerlegbar sein muss, und nur solange die experimentelle Widerlegung nicht gelingt, gilt eine Hypothese als wahr bzw. darf man sie zur Bildung von Theorien über die Welt verwenden.

Seriöse wissenschaftliche Arbeit

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Es wird die Hypothese aufgestellt, dass das Aufspannen von 100 Regenschirmen innerhalb von 10’000 Quadratmetern die Ursache dafür ist, dass es in diesem Gebiet regnet, weil die Beobachtung besteht, dass dem sehr häufig der Fall ist, oder anders ausgedrückt: Es besteht eine starke Korrelation zwischen aufgespannten Regenschirmen und Regenfall. Experimente bei Sonnenschein ergeben jedoch das Resultat, dass dem nicht so ist, also wird diese Hypothese ad acta gelegt und es wird nach einer neuen hypothetischen Ursache für die Wirkung Regenfall gesucht.

Seriöse wissenschaftliche Arbeit beginnt eigentlich erst nach einer Beobachtungsstudie!

 

Beobachtete Korrelationen sind also kein Beleg für Kausalität, sondern dienen ausschliesslich dem Aufstellen von Hypothesen, die dann experimentell bezüglich ihrer Gültigkeit überprüft werden müssen. Nur solange eine derart gewonnene Hypothese Bestand hat, darf man davon ausgehen, dass die ihr zugrunde liegende Korrelation einen Kausalzusammenhang darstellt. Es kann aber jederzeit zu einem neuen Experiment kommen, die ihre Gültigkeit widerlegt, weswegen man sich nie sicher sein kann, dass eine Hypothese tatsächlich einen naturgesetzlichen Kausalzusammenhang widerspiegelt. Das ist die Funktionsweise seriöser empirischer Wissenschaft. Oder anders ausgedrückt: Seriöse wissenschaftliche Arbeit beginnt eigentlich erst nach einer Beobachtungsstudie!

Der aktuelle Stand der Wissenschaft

Wie oben dargelegt, kann es in der Wissenschaft also stets passieren, dass bestehende Hypothesen widerlegt werden, weil seriös aufgestellte Hypothesen widerlegbar sein müssen. Ist eine Hypothese derartig formuliert, dass sie nicht in einem Experiment überprüft – also falsifiziert – werden kann, oder ist sie mit passenden Experimenten noch nicht überprüft worden, dann darf sie nicht als aktueller Stand der Wissenschaft dargestellt werden; erst recht nicht in der Öffentlichkeit!

Politik auf der Grundlage von Beobachtungsstudien oder noch zu überprüfenden Hypothesen, wie wir sie in den zurückliegenden Jahren immer wieder erlebt haben, ist somit fatal. So darf es nicht weitergehen, ansonsten wird seriöses wissenschaftliches Arbeiten immer seltener und die Wahrscheinlichkeit für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse und auf ihnen fussende Paradigmenwechsel wird stetig kleiner. Und gerade diese übrigens werden in der Regel von den wissenschaftlichen Aussenseitern herbeigeführt!

 

Der Text ist ein Auszug aus dem erkenntnistheoretischen Papier “Das zunehmende Verschwinden der erkenntnistheoretischen Methoden aus der Wissenschaft – Ursache vieler politischer Probleme”, das das Forum Sokrates veröffentlicht hat.

 

Dieter Köhler ist Mediziner und Ingenieur. Von 1989 bis 2014 war er Präsident des Verbandes Pneumologischer Kliniken.

Co-Autor Andreas F. Rothenberger  ist Unternehmer und Mitglied des Sokrates-Forums.

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