Vor gut einem Jahr, am 16. März 2020, ist alles anders geworden. Das bisherige Leben verschwand für uns alle. Die Schweiz ging erstmals in den Lockdown, alle Schulen, Hochschulen, Berufsfachschulen und anderen Institutionen mussten schliessen und auf Fernunterricht umstellen. Mehrheitlich unverhofft wurden sie in die digitalisierte Bildungswelt hineinkatapultiert. Schon im Sommer schien aufgrund mehrerer Studien klar, dass die Pandemie manche Schwächen und Ungerechtigkeiten in den Schulen offenlegt. Fehlende Laptops, schwaches W-Lan und deshalb abgehängte Schülerinnen und Schüler, die kein eigenes Zimmer zum Arbeiten haben oder Eltern, die nicht als Aushilfslehrer funktionieren konnten. Der Begriff «Lost» wurde geboren, dazu gehören etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen.
Disziplin, Gewissenhaftigkeit oder Selbstkontrolle? Das sind die Tugenden unserer Kindheit, welche die moderne Gesellschaft überwinden möchte.
Heute zeigt sich allerdings, dass auch Disziplin, Gewissenhaftigkeit oder Selbstkontrolle eine Rolle spielen. Das sind die Tugenden unserer Kindheit, welche die moderne Gesellschaft überwinden möchte. Doch die Corona-Krise rehabilitiert sie und haucht ihnen neues Leben ein. Als überfachliche Kompetenzen – so heissen sie im Lehrplan 21 – bekommen sie eine neue Bedeutung. Die WHO verwendet hierfür den prägnanteren Begriff «Lebenskompetenzen» Zwar wissen wir schon länger, dass Lebenskompetenzen Intelligenz schlagen. Doch eine neue deutsche Studie belegt noch viel mehr: Lebenskompetenzen sind entscheidend, ob junge Menschen vom Fernunterricht profitieren können oder ob sie abdriften, und dies jenseits der sozialen Herkunft. Für den Schul-, Berufs- und Lebenserfolg dürften Lebenskompetenzen entscheidend sein.
Hartnäckig an etwas Unangenehmem dranzubleiben, wenn es bei einer Aufgabe nicht so wie erhofft vorwärtsgehen will, lernt man nicht durch eine optimal fürsorgliche Erziehung, in der Kinder wie zerbrechliche Porzellanpuppen behandelt werden, sondern durch Selbstorganisation und Frustrationstoleranz.
Somit liegt das Problem auch anderswo. Den Anschluss verlieren manche jungen Menschen nicht bloss wegen ihrer bescheidenen Herkunft, der schlechten technischen Ausstattung oder der mangelnden Elternunterstützung, sondern weil ihnen etwas grundlegend anderes fehlt: die Fähigkeit, sich in Fernunterricht oder Quarantäne aus eigenem Antrieb und ohne externen Druck schon am Morgen zu motivieren, den Tag zu strukturieren und sich nicht durch tausend andere Dinge ablenken zu lassen. Solche Kompetenzen sind wichtiger als ein grosser Bildschirm oder präsente Eltern als Stresscoachs. Hartnäckig an etwas Unangenehmem dranzubleiben, wenn es bei einer Aufgabe nicht so wie erhofft vorwärtsgehen will, lernt man nicht durch eine optimal fürsorgliche Erziehung, in der Kinder wie zerbrechliche Porzellanpuppen behandelt werden, sondern durch Selbstorganisation und Frustrationstoleranz. Junge Menschen, die zu Autonomie und Selbstständigkeit erzogen werden und zugleich Fehler machen dürfen, dabei aber nicht demotiviert werden, entwickeln mehr Selbstvertrauen und werfen die Flinte nicht zu schnell ins Korn.
Solche Erkenntnisse sind keine Trivialitäten. Sie machen uns bewusst, wie sträflich wir in der Pandemie soziale und persönliche Merkmale vernachlässigen. Bereits nach dem ersten Lockdown hätten wir über die Bücher gehen können. Schulschliessungen und Fernunterricht haben die äussere Orientierung durch Stundenpläne, Schul- oder Betriebskulturen oder den physischen Austausch mit Lehrkräften, Freunden oder Trainerinnen im Verein gebremst. Das wäre Anlass gewesen, stärker auf die Unterstützung der inneren Orientierung, der Lebenskompetenzen, zu setzen.
Bilder des Gelingens
Wir alle hoffen, dass sich die Pandemie dem Ende zuneigt. Doch das fatalste wäre, dass wir Scheuklappen aufsetzen und uns nur auf die grosse Rettung einspuren. Wenn der Impfstoff da ist und wir alle, die es wollen, gepiekst sind, haben wirs geschafft. Dann lassen wir es krachen und alles kann weitergehen wie vorher. Doch mit dieser Einstellung werfen wir all das, was uns die Pandemie als Lebensschule gelehrt hat, über Bord. Und damit auch die jungen Menschen der «Generation Corona», welche ein neues Erbe antreten muss. Diese Generation ist unsere Zukunft. Sie braucht Bilder des Gelingens. Diese entstehen nicht in einem auf Hochleistung ausgerichteten Bildungssystem, das oft nur ein Ziel kennt: Gute Noten, höchste Bildungsabschlüsse, möglichst frühe Karriere, Optimierung und Hochleistung um jeden Preis. Erfolgreiche und vor allem sinnstiftende Berufs- und Lebenswege brauchen ein tragfähiges Fundament: entwickelte Lebenskompetenzen. Deshalb ist Corona eine Chance für unsere Gesellschaft – ganz besonders auch für die junge Generation.