Die «Schule am Meer» auf der Nordseeinsel Juist ist ein beinah vergessenes reformpädagogisches Experiment der Zwischenkriegszeit. Die 1971 in Göttingen geborene Autorin Sandra Lüpkes verwebt darin Fiktion und Wirklichkeit zu einem breit angelegten Gesellschaftsroman, der sich als gut recherchierte Unterhaltungsliteratur erweist und es kurz nach Erscheinen im Frühjahr auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat. Das grosse Verdienst dieses rein literarisch nicht sehr überzeugenden Buches besteht darin, dass Lüpkes die Figur der jüdischen Lehrerin Anni Reiner ins Zentrum ihrer Recherche gestellt hat, die vom charismatischen und gleichzeitig problematischen Schulleiter Martin Luserke rückblickend beharrlich totgeschwiegen worden ist.
«Es macht keinen Sinn, das Holz mitten in der Nacht ins Lager zu schleppen, dafür ist es zu viel. Und der Weg ist uneben, dazu die Dunkelheit. Lu hat entschieden, die Bretter erst am nächsten Morgen zu bergen – und tut Marje und Moskito den Gefallen, sie solange als Wachpersonal einzusetzen, weil ein bisschen Abenteuer nicht schadet, solange keine wirkliche Gefahr besteht.»
Ein Schüler verschwindet
Es ist wohl kein Zufall, dass sich gerade diese Szene mit dem Treibholz leitmotivisch durch das ganze Buch zieht, denn die Bergung der gestrandeten Teak-Hölzer ist historisch verbrieft und sie wirkt als Handlungsmotiv und als Bild unglaublich stark. Nach etwa 100 Seiten erfährt man, dass der Schüler Gregor, der einen Konzertauftritt vor sich hat, verschwunden ist. Hat er sich das Leben genommen? Aus Lampenfieber vor dem Konzert oder «wegen dieser Sache damals mit dem Anfassen», dessentwegen er als einziger Schüler ein Einzelzimmer im Schulheim hat? Mit der nur angedeuteten Sache sind sexuelle Übergriffe gemeint, die in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf vorgefallen waren, deren Schulleiter Gustav Wyneke deshalb ins Gefängnis kam. Martin Luserke verliess zusammen mit einigen gleichgesinnten Pädagog*innen und einigen Schüler*innen dieses reformpädagogische Schulprojekt bei Saalfeld und gründete 1925 die Schule am Meer auf der rauhen Nordseeinsel Juist.
Der Gemeindediener Coordes verliert später seinen Job, weil er nicht verhindert hat, dass die misstrauisch beäugte «Judenschule» so viel Holz erwischt hat.
Gregor hat sich nicht umgebracht. Er steht vielmehr im kalten Wasser und versucht von der Strandung tausender wertvoller Teak-Bretter möglichst viele zu ergreifen, denn gemäss einer behördlichen Verordnung gehört das Strandgut dem Staat, doch so lange die Bretter noch schwimmen, darf man sie kostenlos in Besitz nehmen. Bald schon kommen auch Dutzende Dorfbewohner an den Strand und versuchen ebenfalls ihr Glück. Und so sitzen nun die ganze Nacht hindurch die Menschen auf ihren Bretterhaufen und die beiden Jugendlichen Moskito und Marje verteidigen zusammen mit der Gans Titicaca erfolgreich ihre Beute. Der Gemeindediener Coordes verliert später seinen Job, weil er nicht verhindert hat, dass die misstrauisch beäugte «Judenschule» so viel Holz erwischt hat.
Im Epilog freut sich Zuck, der vielseitig begabte Musikpädagoge Eduard Zuckmayer, Bruder des bekannten deutschen Schriftstellers Carl, über den Korkenzieher, dessen Griff aus eben diesem Treibholz geschnitzt ist, als er im Haus Casa Reiner am Ufer des Lago Maggiore für sich und Anni Reiners Tochter Karin ein Glas Wein einschenkt.
In eben dieses Haus ist die Autorin Sandra Lüpkes, die als Tochter des Inselpastors auf Juist aufwuchs, eingeladen worden, um der Familiengeschichte von Anni Reiners nachzuspüren, wie sie im erhellenden Nachwort erläutert. Ihre Recherche begann mit der Lektüre des sogenannten Logbuches, einem im Original knapp 760 Seiten umfassenden, handschriftlich geführten und mit allerlei Skizzen versehenen Tagebuches, das in erster Linie aus der Feder des Schulleiters Martin Luserke stammt. «Ich war erschüttert, weil daraus hervorging, dass der hochgelobte Pädagoge und Theatermann Luserke auf Juist seine vielleicht unrühmlichste Rolle spielte.» Denn er erwies sich in diesen neun Jahren des Schulexperimentes zwischen 1925 und 1934 mehr als nur politisch naiv. Einige Jahre nach der erzwungenen Schulschliessung «bekannte sich Luserke öffentlich zum nationalsozialistischen Gedanke und ging auf Distanz zum linken Pädagogen Paul Reiner und dessen jüdischer Frau Anni, die als Geldgeberin für die Schule fungiert hat.»
«Hunde und Juden haben hier keinen Zutritt!»
Der grösste Schatz waren für Sandra Lüpkes neben dem umfangreichen Bildarchiv die über hundert Briefe, die zwischen 1931 und 1933 Anni Reiner an ihre älteste Tochter Renate geschrieben hatte. Mit der fiktiven Romanfigur Gustav Wenninger, der als Klischee-Nazi wenig überzeugt, erhält die Veranschaulichung des Schulprojektes im Kontext des erstarkenden Faschismus eine Schlagseite, die dazu führt, dass man als Leser leider über das Schulprojekt weniger erfährt als über die Karriere des Aufsteigers Wenninger, der die Tochter des Hotelier Gerker heiratet, die schon im Juli des Jahres 1925 der Mutter von Anni Reiner den Zutritt zum Hotel mit dem Verweis auf ein Schild verweigert, auf dem steht: «Hunde und Juden haben hier keinen Zutritt!»
Die Schule war kein Paradies
Nun, was erfährt man denn konkret über die Schule am Meer? Dass sie nicht einfach ein Paradies war. Auf Gedeih und Verderb waren hier gegen 100 Jugendliche und Erwachsene auf engstem Raum zusammengepfercht. Privatsphäre gab es kaum, existenzielle Finanznöte aber sehr wohl. 38 Jungs und 12 Mädchen wurden, was für das Wilhelminische Zeitalter eine Revolution bedeutete, gleichberechtigt unterrichtet. Frontalunterricht gab es kaum. Mit den LehrerInnen war man per Du. Im Schulrat verhandelten LehrerInnen und SchülerInnen ab der zehnten Klasse gleichberechtigt über die Fragen des Zusammenlebens. Der Tag begann mit einem Sprung in die kalte Nordsee. Danach gab es im Speisesaal Bachs Wohltemperiertes Klavier zu hören. Am Vormittag wurden die Pflichtfächer in Lerngruppen von max. 10 Schüler*innen zwangslos an runden Tischen unterrichtet. Nach dem Mittagessen gab es das Tobsuchts-Ritual, bei dem die Jugendlichen an den Strand geschickt wurden, um sich auszutoben. Sport, Musik und Kunst waren auf den Nachmittag gelegt. Musik- und Theaterprojekte bildeten die Höhepunkte des Schullebens. Im Laufe des letzten Schuljahres gab es eine Abschlussarbeit. Der Gartenbau, der auf Selbstversorgung angelegt war, zählte zu den handwerklichen Schwerpunkten. Segeln war eine weitere praxisorientierte Disziplin. Martin Luserkes Hunger nach Ganzheitlichkeit
versuchte eine Synthese von Körper, Seele und Geist. Es ging um das Erlebnis aus erster Hand, die Natur und insbesondere das Meer spielten dabei eine zentrale Rolle: «Erziehung durch die See» war Luserkes Motto. Fertigkeiten und Kenntnisse wurden, wenn immer möglich, praktisch vermittelt. Und SchülerInnen und LehrerInnen waren gemeinsam in sogenannten «Kameradschaften» organisiert. Unter den «Bären», «Pinguinen», «Wölfen», «Nixen», «Delfinen» und «Wildgänsen» entbrannten immer wieder heftige und langatmig beschriebene Kämpfe um Flaggen und Wimpel.
Gib unserer Schule noch Zeit
Der während des Schulexperimentes unerwartet früh verstorbene Paul Reiner sagt an einer Stelle zu seiner besorgten Frau: «Gib unserer Schule noch etwas Zeit, Anni. Irgendwann werden die Schüler von sich aus wollen, was gut für alle ist.» In diesem Satz liegt die ganze Widersprüchlichkeit des damaligen reformpädagogischen Grundverständnisses: Es soll auf ein noch verborgenes Ganzes gesetzt werden, das sich irgendwann als das Gute und Richtige von selbst durchsetzen wird. Wie schwer zugänglich und dunkel diese pädagogische Weltsicht daherkam, vermittelt etwa das Gedicht «Die Hüter des Vorhofs» von Stefan George, das wohl zur Richtschnur von Paul Reiners Pädagogik wurde. Ganz dem Zeitgeist verwandt, verortete vor allem der Schulleiter Luserke diesen geheimnisvollen Kern im Nordischen und Germanischen. Gemeinschaftsbildende Aktivitäten und das fesselnde Erzählen mystischer Prosa waren seine Spezialität. Dabei rückte sein Weltbild arg in die Nähe der völkischen Ideologie. Dieser Grauzone der Reformpädagogik hätte sich Lüpkes gerne noch etwas intensiver widmen können, wohl wissend, dass dies kein einfaches Unterfangen ist!
Das Porträtfoto zeigt den niederländischen Lehrer Jaap Kool, der an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf unterrichtete und sie teils auch leitete. Paul Reiner sah anders aus. Vielleicht schaut der Autor mal bei Wikipedia nach?
Der genaue Beobachter hat Recht. Das Bild zeigt einen anderen und nicht Paul Reiner. Wir haben das bereinigt. Herzlichen Dank für die Rückmeldung. Der Autor hat allerdings mit diesem Lapsus nichts zu tun. Das geht auf die Kappe desjenigen, der den Artikel bearbeitet und aufgeschaltet hat, also auf die meinige!