Georg Geiger - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 12 Apr 2022 12:50:27 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Georg Geiger - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 «Bildung tat weh, hatte sie erfahren» – eine Buchbesprechung https://condorcet.ch/2022/04/bildung-tat-weh-hatte-sie-erfahren-eine-buchbesprechung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=bildung-tat-weh-hatte-sie-erfahren-eine-buchbesprechung https://condorcet.ch/2022/04/bildung-tat-weh-hatte-sie-erfahren-eine-buchbesprechung/#respond Tue, 12 Apr 2022 12:50:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=10799

Condorcet Autor Georg Geiger empfiehlt den Roman der ehemaligen Migrantin Nadire Biskin vor allem für angehende Lehrerinnen oder Lehrer (auch nicht deutscher Herkunftssprache). "Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie Gefühle haben. Oder wenn Sie Gefühle haben wollen. Lesen Sie einfach dieses Buch", meint auch Georg Geiger.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Doch sie wurde zur Spezialistin für die Türkei und den Islam.

Vor kurzem verschickte ein Lehrerkollege folgende Chat-Nachricht: «Hatte heute Gespräch mit M. und L. Ok, wir kämpfen gegen Femizid und Nuklearbombe. Aber diese alltägliche Ausgrenzung bringen wir nicht weg. Klartext: Die SchülerInnen aus Portugal und Kroatien erleben unser System als rassistisch und ausgrenzend.»

Wer besser verstehen will, wie diese Ausgrenzung zustande kommt und wie sie sich anfühlt, möge den zornigen Erstlingsroman der 1987 in Berlin-Wedding geborenen Nadire Biskin lesen. Er eignet sich auch als Klassenlektüre auf der Mittelstufe. Biskin hat Philosophie, Ethik und Spanisch studiert und mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit geforscht. Heute arbeitet sie als Lehrerin und schreibt journalistische Texte und Essays.

Dem Roman ist folgende Widmung vorangestellt:

«Für Schüler*innen (ndH) und für (angehende) Lehrer*innen (ndH), für 65»

Die Abkürzung «ndH» steht dabei für «nicht deutscher Herkunft» oder noch korrekter für «nicht deutscher Herkunftssprache». 65 steht für das Wedding-Quartier in Berlin.

Nadire Biskin wurde 1987 in Berlin-Wedding geboren. Sie hat Philosophie, Ethik und Spanisch an der Humboldt Universität zu Berlin und Universitat d’Alacant studiert und mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit geforscht.
Auch in der türkischen Kleinstadt gibt es Diskriminierung, nicht nur in Berlin.

Nadire Biskin widmet ihr Buch all den Jugendlichen, die auf ihre Art Urszenen von Entfremdung und sozialer Ausgrenzung erleben, wie sie die Protagonistin Huzur als Mädchen beim Einkaufen mit ihrer Mutter an der Kasse des Supermarktes schildert: «Alles war wie sonst, die Kassiererin grüsste nicht, sagte kein ‘das macht so und so viel, bitte, in bar oder mit Karte?’» Erstaunt beobachtet die Tochter, wie die nachfolgende Kundin gleich zu Beginn mit einem lauten ‘Guten Tag’ begrüsst wird: «Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Huzur bewusst, dass zwischen den Frauen ihrer Familie und der blonden, grossen Kundin Niemandsland lag, etwas Trennendes, über das man niemals laut sprach, obwohl es immer da war. Es ging um sichtbare Unterschiede zwischen zwei Welten, um Kleidung, Sprache und Aussehen, und um Unsichtbares, wie das, was man in einer bestimmten Anzahl von Schuljahren lernen kann.» Und die Tochter beschliesst in diesem Augenblick, dass sie nicht auffallen will wie ihre Mutter «und von den Kassierinnen dieser Welt ein Guten Tag, einen Betrag und ein Bitte hören» will. Dazu muss sie die soziale Leiter aufsteigen. Die spätere Ernüchterung der Endzwanzigerin aber ist beträchtlich: «Heute weiss sie, dass man in Deutsch und Sport keine Chance hat, wenn die Grosseltern aus der Türkei und man selbst aus der Unterschicht kommt. Von der behauptet wird, dass es sie nicht gibt. Aber damals gab sie sich nicht geschlagen und arbeitete so hart, bis sie auch in Deutsch und Sport ihre Zwei hatte. Sie kam vorwärts, auch wenn es ein Vorwärtskommen mit aufgeschürften Knien war. Doch die Kassierin im Penny grüsste sie immer noch nicht.»

 Biskin widmet ihren Roman auch allen angehenden Lehrer*innen nicht deutscher Herkunftssprache, denn in den Bibliotheken kann man viele Bücher entdecken, «wie man im Klassenzimmer überlebte, aber nicht, wie man im Lehrerzimmer überlebte.»

 Biskin widmet ihren Roman auch allen angehenden Lehrer*innen nicht deutscher Herkunftssprache, denn in den Bibliotheken kann man viele Bücher entdecken, «wie man im Klassenzimmer überlebte, aber nicht, wie man im Lehrerzimmer überlebte.» Die Referendarin  Huzur schafft den sozialen Aufstieg: «Bald schon war sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen, im Lehrendenzimmer, dem Limbus in der Mitte der Gesellschaft, bei den Lehrern, die Wächter waren, für die Schüler ‘Problemkinder’ oder ‘Chaoskinder’ waren.» Huzur fühlt sich von Anfang an nicht als Individuum wahrgenommen: «Sobald sie das Lehrendenzimmer betrat, schien sich ein roter Teppich mit Halbmonden und Sternen unter ihr auszurollen. Man fragte sie, wie sie zu Erdogan stünde. Wie sie zu Böhmermann stünde, ob sie Schweinefleisch esse, wo sie so gut Deutsch gelernt habe (…)» Sie wird nur als Kollektiv wahrgenommen: «Sie war in Deutschland geboren, lebte hier, war hier zur Schule gegangen. Doch sie wurde zur Spezialistin für die Türkei, den Islam, zu der Situation von türkischen und muslimischen Frauen, zu arabischen Clans in Neukölln, und die Medienereignisse erweiterten den Fragekatalog.»

Die mit ihr auf der Schule waren und es geschafft haben, sind mittlerweile nach Charlottenburg oder Tempelhof gezogen.

 Zum Dritten widmet die Autorin ihr Buch dem Wedding-Quartier, in dem sie und auch ihre Protagonistin Huzur aufgewachsen ist. Und wieder geht es dabei um die Themen Entfremdung und sozialer Aufstieg: «Die mit ihr auf der Schule waren und es geschafft haben, sind mittlerweile nach Charlottenburg oder Tempelhof gezogen, wer aus Wedding wegkonnte, hat es gemacht. Nur weg von hier, denn neben allem anderen macht sich Wedding auch im Lebenslauf nicht gut. Die Kinder der Väter und Grossväter, die noch am Band gestanden haben, arbeiten jetzt in Behörden und haben Handcreme in ihrer Schreibtischschublade, obwohl ihre Hände nichts mehr auszuhalten haben. Nur sie, Huzur, die nicht wie die anderen BWL oder Jura studiert hatte, ist zusammen mit denen, die eine Berufsausbildung gemacht haben, noch immer in Wedding.»

 Der Roman spielt an zwei Orten. Es beginnt in Bucak, einer Kleinstadt im Südwesten der Türkei, zur Zeit des Opferfestes. Huzur ist bei ihrer Cousine auf einem mehrwöchigen Zwangsurlaub, denn in Berlin hat man sie vorübergehend vom Referendariat suspendiert wegen der «Sache mit dem Kopftuch». Sie war aus Protest gegen Äusserungen einer Kollegin mit einem Kopftuch (notabene verziert mit rosaroten Schweineköpfen!) im Lehrendenzimmer erschienen und dabei kam es zum Eklat, dessen Bereinigung immer noch ansteht. Aber auch in der türkischen Kleinstadt gibt es Diskriminierung, nicht nur in Berlin. So etwa gegenüber der syrischen Flüchtlingsfamilie ,deren Tochter seit Tagen verschwunden ist. Oder der Heiratsdruck, der ihr von der eigenen Sippe entgegenkommt. Und im Umgang mit einer fremden Tante auf dem Rückflug nach Berlin verhält sich Huzur fast so wie die Kassierin im Supermarkt: «Huzur ging mit der Tante so um, wie deutsche Sachbearbeiterinnen auf der Ausländerbehörde mit ihr umgingen. Wenig Augenkontakt, Sätze im Imperativ, kein Körperkontakt. Die Wörter deutlich ausgesprochen, mit langen Pausen dazwischen.»

Zurück in Berlin überschlagen sich noch am Abend ihrer Ankunft die Ereignisse. Huzur liest bei einer Busstation die verwahrloste zehnjährige Hiba auf, ein syrisches Mädchen ohne Familie, bei dem man sofort an die verschwundene Tochter der syrischen Flüchtlingsfamilie in Bucan denken muss. Plötzlich muss sich Huzur nicht nur um sich, sondern auch noch um ein fremdes Kind kümmern.  Da bleibt auch kaum mehr Zeit für die Beziehung mit Raphael, dem Langzeitstudenten mit Eltern aus der französischen Schweiz, die im vornehmen Dahlemdorf wohnen: «Er ist da, wo sie hin will, in der Mitte der Gesellschaft, er stammt aus dem Randbezirk, wo die Menschen nicht aus Not leben, weil sie dorthin gedrängt worden sind, sondern weil sie die Mitte der Stadt satthaben. Will sie dahin? Und wenn ja, wird sie dort jemals ankommen?» So viel sei verraten: Das Buch endet mit dem unversöhnlich-radikalen Satz: «Ich mag nicht mehr.»

 

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Hommage an die Jugend https://condorcet.ch/2022/04/hommage-an-die-jugend/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=hommage-an-die-jugend https://condorcet.ch/2022/04/hommage-an-die-jugend/#comments Sat, 02 Apr 2022 15:03:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=10748

Der pensionierte Gymnasiallehrer und Condorcet-Autor Georg Geiger hat bei den Aufräumarbeiten einen Text eines ehemaligen Schülers gefunden, den er unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten will. Ein "document humain", wie die Redaktion findet.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Welch eine poetische Kraft und welche Lebensweisheit steckt doch in diesem Aufsatz!

Seit knapp einem Jahr bin ich pensioniert. Langsam mache ich mich daran, alle meine Plasticmäppchen meiner über 30-jährigen Unterrichtstätigkeit an Volksschule, Gymnasium und Universität zu entsorgen. Übrig bleiben Erinnerungen und eine Wehmut, nicht mehr täglich im Kontakt zu sein mit dem Power der Jugend, der mir so viel gegeben hat. Stellvertretend für alle diese jungen Leute, die ich die Ehre hatte, in Deutsch und Geschichte zu unterrichten, soll ein Text stehen, den ich zum Glück zur Seite gelegt habe: Welch eine poetische Kraft und welche Lebensweisheit steckt doch in diesem Aufsatz! Und ich will nichts weiter dazu sagen. Nicht, wer ihn geschrieben hat. Nicht, in welchen Lebensumständen er entstanden ist. Nicht, was ich für einen Kommentar dazu verfasst habe und schon gar nicht, welche Note ich dem Text gab. Einfach eine Hommage an die Jugend!

 

Wenn am Morgen die Sonnenstrahlen

der stark leuchtenden Sonne

in mein verträumtes Zimmer eintreffen,

so will ich der heutigen Welt

ein Stück Freude von mir geben.

Doch wenn es der heutigen Welt scheint,

dass mein Ich meint bedeutsamer zu sein,

dann trete ich zurück

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn am Mittag mir der Appetit

nach frisch Gekochtem grösser wird,

so will ich ihn teilen, meinen Appetit.

Der jetzigen Welt nahebringen,

wie gerne ich während dem Essen

«Ballaire-City-Jazz»

hören und dabei die Füsse tanzen lassen würde.

Doch wenn meine Worte in der jetzigen Welt

keine Aufmerksamkeit erhalten,

dann will ich die Musik sprechen lassen,

aber sie ist nicht laut genug

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn am Nachmittag das Clafoutis au Chocolat

von mir aufgegessen werden will,

ich den schönen Tag mir verschönern will,

so möcht ich teilen, mein Dessert.

Doch seh ich einen Jungen,

der stiehlt ein Gebäck,

läuft davon und wartet nicht auf mein

«nimm doch mein bezahltes Gebäck»

und die Angestellte nichts davon bemerkt,

dann will ich ihr von der untreuen Tat berichten,

doch Empfindsamkeit versetzt mich in die Sicht des Jungen,

wohl hatte er Hunger und kein Geld bekommen.

In Leere alleingelassen schaue ich dem Jungen nach

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn nach der Arbeit

die tägliche Feier am Abend erscheint,

so möchte ich geniessen meinen Abendwein.

Doch wenn an der Ampel eine ältere Dame

beim Angebot meiner Hilfe, ihre Tasche zu tragen,

meinen müsse, ich sei ein Dieb, der ihr die Tasche nimmt,

dann will ich mit meinem Mundwerk erklären, wer ich bin,

aber rechtfertigen muss ich mich nicht.

Und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

Nicht die Tasche, sondern das Reden über mich.

 

Wenn am Abend die Sonne stirbt

und das Dunkellicht vordringt,

so meine Seele die Ruhe sucht,

dann dem Sternenhimmel die Blicke zuwerfen will.

Doch seh ich auf der Sternenwiese den ganzen

Kummer, Schmerz und die ganze Last,

verdrängt in benutzten Nadeln und kleinen, leeren Tüten,

dann möcht ich nicht schweigen über aller Probleme.

Doch wenns niemanden gibt, der was unternehmen will

und keinen, der hinschaut,

dann vergeht das Licht in meinem Herzen

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn in der Nacht mein müd’ gewordnes Herz

Sich wieder in seine Hütte verkriecht,

so fragt es den Sternenhimmel im stillen Augenblick,

ob es das Gute noch gibt.

Doch fällt mein Körper kraftlos,

nicht wie am Morgen voller Energie, wieder in sein Schlafnest,

dann wird mir, wie in jener Nacht, wieder bewusst,

dass es kein Gut, kein Böse gibt.

Es lebt in Schwach und Stark,

doch zu welchem gehört das «Es» ?

Meine Nachtgedanken will ich aussprechen,

in diesem stillen Augenblick,

doch weil jeder für sich lebt,

lass ich mich und meine Gedanken still

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

Wenn ich vom Drang der Entleerung

aus meiner Welt der Träume erwach,

mit noch geschlossenen Augen mich ins Bad fortbeweg

und mit dem Lichtschalter die Dunkelkeit erhell’,

mit den Unterhosen bis zu den Knien runtergezogen

auf dem Klo sitz’,

in meinen Händen Zeitung von gestern halt’,

dann die Meldung seh’,

welche berichtet den Raub der Tasche einer älteren Dame,

den erwischten Täter, der kein Daheim hatte,

den Tod der Obdachlosen wegen Überdosierung,

so will ich reden,

doch erstarren meine müden Augen, mein müder Mund

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn meine Seele in der Nacht

zurück ins Schlafnest kehren will,

mein Haustelefon am Klingeln ist,

darauf eine unbekannte Nummer steht,

dann nimm ich den Hörer ab,

wobei mir eine Stimme sagt

«Hättest du was gemacht»

Und ich antworten will,

dass reden einfach, jedoch sich selbst teilen schwer ist.

Aber in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich.»

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Auf der rechten Suche nach der verloren gegangenen Selbstverständlichkeit https://condorcet.ch/2022/01/auf-der-rechten-suche-nach-der-verloren-gegangenen-selbstverstaendlichkeit/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=auf-der-rechten-suche-nach-der-verloren-gegangenen-selbstverstaendlichkeit https://condorcet.ch/2022/01/auf-der-rechten-suche-nach-der-verloren-gegangenen-selbstverstaendlichkeit/#comments Sun, 16 Jan 2022 10:42:44 +0000 https://condorcet.ch/?p=10343

Man kann es als Lesewarnung verstehen, die der Condorcet-Autor Georg Geiger hier ausspricht. Seine Buchbesprechung von Caroline Sommerfelds Erziehungsbuch «Wir erziehen – Zehn Grundsätze» setzt sich überaus kritisch mit dem Inhalt auseinander, den die Ikone der Neuen Rechten der Öffentlichkeit vermittelt. Dabei verkennt Georg Geiger nicht, dass hier durchaus relevante Fehlentwicklungen angesprochen werden. Den Rezepten von Frau Sommerfeld attestiert er aber viel Geschwätzigkeit und einen Hang zu rechtsnationalem Denken.

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Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt.: Für alles Negative sind letztlich die linksgrünen, urbanen Eliten mit ihren «Gleichheits- und Menschheitsbeglückungsutopien» verantwortlich.

Die rechtsintellektuelle Publizistin Caroline Sommerfeld, die sich selbst als «anthroposophische Katholikin» bezeichnet, macht sich auf die Suche nach dem «konservativ-revolutionären Geist» der Reformpädagogik von Maria Montessori, Peter Petersen und Rudolf Steiner, um Grundbegriffe wie «Führung», «Autorität», «Rasse», «Heimat» und «Grenze» neu zu entdecken und markant zu installieren. Ihr Anspruch ist es, wie sie in der Danksagung formuliert, «ein wegweisendes Erziehungsbuch» der Neuen Rechten im deutschsprachigen Raum vorzulegen, das helfen soll, «führungsunfähige» und «verweifelte» Eltern aus ihrem «postmodernen Schlummern» zu wecken und sie hinzuführen zur Wiederentdeckung einer verloren gegangenen Selbstverständlichkeit, die es dann wieder ermöglichen soll, «dass Deutschsein die lebendige Wesensform der Heranzubildenden» wird. Ihre Suche gestaltet sich zu Beginn akademisch belesen, oft geschwätzig und anekdotenhaft, zunehmend kalt und letztlich fanatisch, dass es einem bei der Lektüre graut.

Seit ihrem publikumswirksamen Auftreten an der Frankfurter Buchmesse 2017, als Sommerfeld ihr zusammen mit dem österreichischen Publizisten Martin Lichtmesz verfasstes Buch «Mit Linken leben» vorstellte und Björn Höcke hierzu die Einleitung gestaltete, wird Sommerfeld zu einer intellektuellen Ikone der Neuen Rechten heraufstilisiert. Besonders pikant an ihrer Biographie scheint zu sein, dass sie mit dem linksintellektuellen Germanisten Helmut Lethe liiert ist, mit dem sie drei Kinder hat. Sommerfeld kokettiert auch auf der ersten Seite ihres Erziehungsbuches in der Danksagung mit dieser Les-extrèmes-se-touchent-Beziehung: «Allen voran ist mein Mann zu nennen, der auch als 68er nie ein Antiautoritärer war und der sich stets nach Form sehnt wie ich.»

Besonders pikant an ihrer Biographie scheint zu sein, dass sie mit dem linksintellektuellen Germanisten Helmut Lethe liiert ist, mit dem sie drei Kinder hat.

Caroline Sommerfeld-Lethen (geb. Sommerfeld; * 1975 in Mölln)[1] ist eine deutsche Philosophin und Publizistin: Die Grenzen wiederentdecken.
Nun, nach welcher Erziehungsform sehnt sich Sommerfeld mit ihren zehn Grundsätzen in ihrem appellativen Erziehungsbuch «Wir erziehen»? Sie bezieht sich hauptsächlich auf die Reformpädagigik von Maria Montessori (1870-1952), Peter Petersen (1884-1952) und Rudolf Steiner (1861-1925): «Die seinerseits konservativ-revolutionäre, lebensphilosophische Kultur- und Modernekritik der im Grunde ‘rechten’ Reformpädagogik ist mit dicken Schichten linker Freiheits-, Gleichheits- und Grenzenlosigkeitsvorstellung überpinselt worden. Ich habe also an diesen Schichten zu kratzen begonnen. Hervor traten – kaum gebraucht, fast neu – Grundbegriffe wie Führung, Distanz zwischen Kind und Erwachsenen, Autorität, Gemeinschaft und Heimat sowie ein ausserordentlich inspirierender Zugriff hinauf in geistige Höherentwicklung, der die Selbsterziehung des Erwachsenen einbegreift. Am vorläufigen Ende meiner Grabungsarbeit trat mir das vor Augen, was uns seit der Jahrtausendwende fehlt: die Wiederentdeckung der Grenze und damit überhaupt erst die Möglichkeit der Erziehung.»

Sommerfeld: Wir erziehen: Das Übel sind die «68er Pädagogen».

Damit ist der grosse Bogen von der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum politischen Erweckungserlebnis der Identitären Rechten 2015 mit den offenen Grenzen der deutschen Asylpolitik geschlagen. Sieglinde Jornitz kommentiert in ihrer differenzierten Buchkritik «Form und Inhalt. Über Erziehungsvorstellungen in Sommerfelds Buch ‘Wir erziehen’» (Pädagogische Korrespondenz 61/20) diese historische Ausgrabung mit folgenden Worten: «Erziehungswissenschaftlich ist es von Interesse, dass sie sich vor allem auf drei Autoren stützt, deren Verwicklung mit dem Nationalsozialismus und italienischen Faschismus bzw. im Falle von Steiner: dessen rassentheoretischen Schriften sie zu problematischen, wenn nicht gar belasteten Autoren werden lassen.» Nun, mit dem Nationalsozialismus setzt sich Sommerfeld kaum auseinander. Sie distanziert sich zwar in einem einzigen (!) Satz davon, wie der deutsche Faschismus «äusserliche Führerschaft» oktroyierte, doch für Sommerfeld liegt der politische und pädagogische Sündenfall des 20. Jahrhunderts ganz woanders, und dem ist ihr Buch obsessiv und wirklich grenzenlos gewidmet: Das Übel sind die «68er Pädagogen», die «akademische Neue Linke», die «Linken Pädagogen», die «Linksintellektuellen», «die sowjetischen Kinderheimerzieher und ihre 68er Adepten», die «Gesellschaftsplaner», die «Kuschelpädagogik», kurz: «die linke Elite»!

Der Trick der linken Elite ist es ihrer Ansicht nach, die Geschichte durch die Konstruktion falscher Gegensätze zu kontrollieren und planmässig zu steuern.

Und dieser Machelite unterstellt sie einen geheimen Plan der Zerstörung: «Ich bin versucht, anzunehmen, dass diese Grossangelegtheit, Planmässigkeit, Steigerung, Überdrehung, Unfassbarkeit der Bewegung zwischen Grenze und Entgrenzung System hat.» Der Trick der linken Elite ist es ihrer Ansicht nach, die Geschichte durch die Konstruktion falscher Gegensätze zu kontrollieren und planmässig zu steuern: «Die heutige gruselige Melange in der pädagogischen Avantgarde besteht aus vom Marxismus zur politischen Korrektheit  übergegangenen Linken, die uns eine globale, digitalisierte und demokratische Weltgesellschaft verheissen und gleichzeitig mit naturwissenschaftlichen Begründungen der traditionellen Erziehung politisch den Garaus machen will.» Und diese linke Elite will auch, dass die Öffentlichkeit und die Elternhäuser «uniform denken». Mit dem Aufoktroyieren von Begriffen wie ‘Freiheit’ und ‘Selbstbestimmung’ lastet dann ein sozialer Druck «als ideologischer Machtapparat auf den Eltern und Lehrern und hat natürlich auch die Kinder angesteckt.»

Den linken Gesellschaftsplanern schiebt Sommerfeld nun alles in die Schuhe, was zu  ihrem Unbehagen in der Kultur gehört: Die Hirnforschung, der Kompetenzbegriff, der übersteigerte Individualismus, die Ökonomisierung aller Lebenszusammengänge, die Säkularisierung, der Konstruktivismus, das neoliberale Konzept der Selbstoptimierung und natürlich die Globalisierung mit all ihren Folgen.

Immanuel Kant: Hin zu deutscher Tradition.

Den linken Gesellschaftsplanern schiebt Sommerfeld nun alles in die Schuhe, was zu  ihrem Unbehagen in der Kultur gehört: Die Hirnforschung, der Kompetenzbegriff, der übersteigerte Individualismus, die Ökonomisierung aller Lebenszusammengänge, die Säkularisierung, der Konstruktivismus, das neoliberale Konzept der Selbstoptimierung und natürlich die Globalisierung mit all ihren Folgen. Für alles Negative sind letztlich die linksgrünen, urbanen Eliten mit ihren «Gleichheits- und Menschheitsbeglückungsutopien» verantwortlich. Was bleibt da noch Positives und Widerständiges, auf das sie als identitäre Rechte zurückgreifen kann? Es ist der Rückgriff auf das, «was früher (…) einfach war, was jedermann konnte, nämlich seine Kinder ordentlich erziehen …» Das steckt auch im Titel des Buches: «Wir erziehen – Zehn Grundsätze» In alttestamentarischer Art bemüht sich Sommerfeld, auf eine Ordnung zurückzugreifen, die es schon immer gegeben haben soll: Weg vom pädagogischen Rattenfänger-Utopisten Rousseau hin zu Vater Kant und damit zu einer «alten deutschen Tradition», wonach «das Kleinkind von Natur aus als Triebwesen» mit einem zu überwindenden Willen angesehen wird, um dann gelenkt und geführt zu werden.  Das ergibt dann den «guten und gesunden sozialen Normalfall», wo wir wehmütig auf «die Zeit vor der digitalen Zeit» zurückblicken, wo wir das «Deutschsein» als die «lebendige Wesensform der Heranzubildenden» wiederentdecken, wo die «bäuerliche Selbstversorgerwirtschaft» das grosse Vorbild ist, wo Eltern besser erziehen, weil sie wieder gläubig sind, und wo es Tischgebete und freitags immer Fisch gibt.

Je länger sich das Buch mit seiner geschwätzigen Kritik («Ich kenne Eltern, die….») den alltäglichen pädagogischen Erfahrungen hingibt, um so mehr verliert es an intellektuellem Bemühen und verfällt am Schluss dem, was der deutsche Philosoph Ernst Bloch 1935 in seinem Buch «Erbschaft dieser Zeit» als Kern des deutschen Nationalsozialismus» nennt: dem «Blutmythos». Bei Sommerfeld heisst das dann «Rasse», «Lebensraum und Seelenraum», wo eine «höhere Macht die Menschenwelt in der Geschichte nach Rassen und Völker ordnet». So finden dann «wir» – im Unterschied zu den anderen – zu unserem  «in der volklichen Eigenart verwurzelten Volkstum und Volk-Sein». Dies ist der Weg, den Sommerfeld den «Völkern Europas» vorschlägt, um dem drohenden  Aussterben durch den «grossen Austausch» zu entkommen.

Es ist höchste Zeit, diese Besprechung hier abzubrechen. Das «Rechtssein als Lebensform», wie es der Erziehungswissenschaftler Christian Niemeyer in seinem bissigen Kommentar vom 17. August vergangenen Jahres  (www.hagalil.com) beschreibt, endet in «Fanatismus und Kälte» und artet zu einem rauschhaften Bekenntnis zu Blut und Boden aus, dass einem angst und bang wird.

Georg Geiger

Caroline Sommerfeld: Wir erziehen – Zehn Grundsätze. Schnellroda 2020. 2.Auflage

ISBN: 978-3-944422-78-7

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«Das 20. Jahrhundert ist überall, egal wo ich gehe» https://condorcet.ch/2021/09/das-20-jahrhundert-ist-ueberall-egal-wo-ich-gehe/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=das-20-jahrhundert-ist-ueberall-egal-wo-ich-gehe https://condorcet.ch/2021/09/das-20-jahrhundert-ist-ueberall-egal-wo-ich-gehe/#respond Wed, 08 Sep 2021 09:54:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=9274

Die 2020 im Rotpunktverlag erschienene Familiengeschichte «Du weisst mich jetzt in Raum und Zeit zu finden – Zwei Frauen zwischen Basel und Moskau» ist ein eindrückliches literarisches Geschichtsbuch an der Schnittstelle zwischen Literatur und Sachbuch und es eignet sich hervorragend für Lehrkräfte, die im Unterricht die Erforschung der eigenen Familiengeschichte zum Thema machen wollen. Condorcet-Autor Georg Geiger stellt es vor!

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Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt: Die Rekonstruktion der eigenen familiären Herkunft ist anspruchsvoll.

Es gehörte zu den Highlights meines Geschichtsunterrichtes, wenn jeweils im Lehrplan das Thema «Portrait meiner eigenen Familiengeschichte» auftauchte. Die Schüler*innen gingen meist mit grosser Neugier daran, in Erfahrung zu bringen, woher ihre Familie eigentlich kam und wie weit es sich rekonstruieren liess, wo die Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern überall gelebt, was sie beruflich gemacht hatten, weshalb sie nun gerade in Basel gelandet waren und wie ihr Leben von den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten geprägt worden war. Man konnte bei jeder Klasse sicher sein, dass das gesamte 20. Jahrhundert sich in diesen familiären Migrationsgeschichten wiederfand: Da war etwa der Vater, der, aus Italien kommend, ohne jegliches Geld zu Fuss in die Stadt St. Gallen wanderte auf der Suche nach Arbeit. Oder der Grossonkel, der als Lokomotivführer in Hitlerdeutschland Menschentransporte durchführen musste. Oder die Grossmutter, die vor den Russen aus Ungarn flüchtete. Manchmal stiessen die Jugendlichen auch auf eine Mauer des Schweigens, die es zu respektieren galt, tauchten doch durch die ungestüm gestellten Fragen plötzlich schwere familiäre Schicksale und Traumatas wieder auf. Und der Austausch über die Familiengeschichten war meist von grossem Respekt vor der Wucht der Geschichte geprägt, von der auch die eigene Familie erfasst wurde.

Die Autorin leistet mit ihrem Buch auf anschauliche und gut nachvollziehbare Weise einen wertvollen Beitrag zur Frage, was es konkret heisst, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren, Quellenmaterial kritisch einzuordnen und ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz zu entwickeln.

Nicht Rekonstruktion, aber Konstruktion

Über vier Jahre lang ihren Spuren durchs 20. Jahrhundert gefolgt.

«Das 20. Jahrhundert ist überall, egal wo ich gehe.» Mit diesem Satz beendet die 48-jährige Baslerin Beatrice Schmid, die als Gymnasiallehrerin in Lausanne Deutsch und Geschichte unterrichtet, ihre eigene Familiengeschichte. Ihr Buch macht deutlich, wie anspruchsvoll die Rekonstruktion der eigenen familiären Herkunft sein kann, wie schnell man dabei an Grenzen stösst (Schieden etwa in den 30er Jahren in der ACV-Bäckerei in Basel Frauen mit der Heirat automatisch aus dem Arbeitsverhältnis aus?) und wie schwierig es ist, wenn man das Denken und Handeln der eigenen Vorfahren nur noch beschränkt verstehen und nachvollziehen kann oder sogar den Kopf schüttelt über gewisse Handlungen und Denkweisen. Die Autorin leistet mit ihrem Buch auf anschauliche und gut nachvollziehbare Weise einen wertvollen Beitrag zur Frage, was es konkret heisst, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren, Quellenmaterial kritisch einzuordnen und ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz zu entwickeln.

Ihr Buch liegt an der Schnittstelle zwischen Literatur  und Sachbuch und eignet sich deshalb sowohl für den Deutsch- als auch den Geschichtsunterricht. In einem Brief an die Fachschaften Deutsch und Geschichte meiner Schule umschrieb Beatrice Schmid ihr Vorhaben folgendermassen: «Meine Grosstante Paula verliess als 19-Jährige 1921 ihre Heimatstadt Basel, um am Aufbau der Sowjetunion teilzunehmen. 1937 wurde ihr Mann erschossen, ihre zweijährige Tochter in ein Heim gesteckt und sie in den Gulag verbannt.  Ihre Schwägerin Marie blieb in Basel, engagierte sich für das Frauenstimmrecht und unterstützte eine deutsche Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg. In Form einer Familienrecherche gehe ich den Spuren meiner Vorfahrinnen nach und frage mich, wie es zu deren Engagement kam und was davon geblieben ist.»

Anhand der Dokumente, die vor mir liegen und mithilfe der Angaben, die ich über Paula und Marie finde. Sie werden ‘meine Paula’ und ‘meine Marie’ werden.

Béatrice Schmid, Gymnasiallehrerin: Briefe, Fotos und Dokumente der Grossmutter auf dem Dachboden.

An Weihnachten 2015 hatte Beatrice Schmid Briefe, Fotos und Dokumente ihrer Grossmutter Marie und ihrer Grosstante Paula auf dem Dachboden ihres Elternhauses in Basel gefunden: «Über vier Jahre lang bin ich ihren Spuren durchs 20. Jahrhundert gefolgt, in Maries und Paulas Leben eingetaucht und mir neu begegnet», schreibt sie im Prolog. Dabei wird ihr schnell klar, dass der historischen Rekonstruktion enge Grenzen gesetzt sind: «Ein Haufen Dokumente bleibt von einem gelebten Leben. Meine Kenntnisse über die Orte und Geschehnisse sind zu beschränkt, um Paulas und Maries Leben auch nur ansatzweise rekonstruieren zu können.(…) Rekonstruieren eines Lebens geht nicht, doch konstruieren kann ich es. Anhand der Dokumente, die vor mir liegen und mithilfe der Angaben, die ich über Paula und Marie finde. Sie werden ‘meine Paula’ und ‘meine Marie’ werden.»

Und so konstruiert die Autorin und Enkelin etwa ein Gespräch zwischen Paula und ihren Freundinnen und Freunden 1920 bei einer Rheinüberquerung auf der «Schlachthoffähre» darüber, ob man der neu gegründeten Dritten Internationale beitreten soll oder nicht, und kommentiert es mit folgenden Worten: «Ich weiss nicht genau, was diese jungen Leute in jener Zeit umgetrieben hat, was sie dachten und sich erträumten, ob sie für oder gegen den Beitritt der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zur Dritten Internationale waren.»  Sie bietet mit ihrer expliziten Konstruktion eine mögliche Variante, wie ein solches Gespräch wohl hätte verlaufen können. Denn sie will verstehen lernen, weshalb ihre Grosstante Paula 1920 beschloss, in die Sowjetunion auszuwandern: «Paula hat während des Ersten Weltkriegs in Basel gehungert, und nun geht sie freiwillig in ein Gebiet, wo eine richtige Hungersnot herrscht, bei der Tausende sterben? Ich habe das Gefühl, sie entgleitet mir. Ich kann ihre Entscheidungen immer weniger nachvollziehen.»

Ihr erster Mann Waldi Brubacher gilt als verschollen, ihr zweiter Mann Ferenc Hustzi wurde erschossen, ihre kleine Tochter wurde ihr weggenommen und wuchs vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr in Kinderheimen und Waisenhäusern auf. Und doch trat Paula 1958 wieder der Kommunistischen Partei bei.

Das Fremde im Eigenen

 

Ehemann erschossen, Kind weggenommen, Gulag

Noch schwieriger wird es, ihre Grosstante zu verstehen, als diese in den frühen 30er Jahren mit ihrem ersten Mann Ferenc in Moskau ein privilegiertes Leben als Teil des Parteiapparates zu leben schien. Doch schlussendlich wurden die beiden auch Opfer des stalinistischen Terrors. Ferenc wurde am 10. Dezember 1937 als Verräter zum Tode verurteilt: «Das Urteil wurde unmittelbar vollzogen. Paula wird das Jahrzehnte lang verheimlicht.» Ihr selbst wird wegen der Teilnahme an regelmässigen Zusammenkünften von Schweizer Kommunisten in Moskau eine konspirative Absicht unterstellt. Im Juni 1937 wird Bertha Zimmermann verhaftet und im selben Jahr erschossen. Auch ihr Mann Fritz Platten, der 1917 Lenin von Zürich nach St. Petersburg begleitete und ihm so das Leben gerettet haben soll, wird 1938 verhaftet und nach 4 Jahren Lagerhaft an Lenins Geburtstag erschossen. Paula wird am 8. Januar 1938 verhaftet. Ihre zweijährige Tochter Solveigh wird ihr weggenommen und sie verschwindet für mehrere Jahre im Gulag, den sie nur überlebt, weil sie sich dort als medizinische Assistentin habe weiterbilden können. Sie verbrachte 8 Jahre in einem sibirischen Arbeitslager und lebte weitere 10 Jahre dort in der Verbannung. Ihr erster Mann Waldi Brubacher gilt als verschollen, ihr zweiter Mann Ferenc Hustzi wurde erschossen, ihre kleine Tochter wurde ihr weggenommen und wuchs vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr in Kinderheimen und Waisenhäusern auf. Und doch trat Paula 1958 wieder der Kommunistischen Partei bei und sie kam im Austausch mit ihren Verwandten in der Schweiz bis zu ihrem Tod 1973 nie auf dieses erlittene Unrecht und die Jahre im Gulag zu sprechen. Nein, sie betonte im Gegenteil immer wieder die Vorteile der Sowjetunion auf den unterschiedlichsten Gebieten. Nur ein geringer Teil der Gulag-Überlebenden hat mit der kommunistischen Bewegung gebrochen. Die Historikerin Ulla Plener erklärt dieses verstörende Verhalten folgendermassen: «Da war das wärmende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer grossen weltumspannenden Gemeinschaft und ihre Solidarität. (…) Für viele war diese Partei die ‘Inkarnation des Willens der Geschichte selbst’; es war undenkbar, freiwillig aus ihr auszutreten, und der Gedanke erschreckend, aus ihr ausgeschlossen (‘exkommuniziert’) zu werden.»

Marie und ihr Mann Hans dagegen traten nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Oktober 1956 aus der Basler PdA aus. Danach hatte Marie aufgehört, in der «Welt der Frau» Artikel zu veröffentlichen. «Wollte sie für das Organ nicht mehr schreiben? Hat sie nach der verlorenen Abstimmung für das Frauenstimmrecht resigniert?» Auch diese Fragen bleiben unbeantwortet. Der letzte Blick, den die Enkelin Beatrice Schmid auf ihre Grossmutter Marie wirft, berührt durch seine Poesie und Zärtlichkeit: «Über diese Erinnerungen an meine Grossmutter haben sich nun Bilder von Marie gelegt – wie sie nach Oberwil kommt, wie sie mit rotem Faden das Alphabet stickt, wie sie in weisser Schürze in der ACV-Bäckerei arbeitet; wie sie mit Hans Ski fährt, auf dem Schiff vor Jugoslawien die Delfine bewundert, Peterli, meinen Vater, auf dem Schoss hält, im Keller in einem dampfenden Kessel Kleider wäscht, in der Stube einen Brief liest, sich Notizen macht, Artikel schreibt. Ich stelle sie mir vor, wie sie mit sich ringt, kämpft, wie sie einsteht für das, was sie für richtig hält. Und ich denke jedes Mal an sie, wenn ich abstimme oder wähle.»

Georg Geiger

Nachtrag: Beatrice Schmid steht für Lesungen zur Verfügung und kann über den Rotpunktverlag info@rotpunktverlag.ch kontaktiert werden.

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Die neoliberalen Gutmenschen – eine Glosse https://condorcet.ch/2021/01/die-neoliberalen-gutmenschen-eine-glosse/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-neoliberalen-gutmenschen-eine-glosse https://condorcet.ch/2021/01/die-neoliberalen-gutmenschen-eine-glosse/#comments Tue, 12 Jan 2021 04:54:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=7473

Condorcet-Autor Georg Geiger über einen peinlichen Alibi-Akt seines Bildungsdirektors.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel

Festtagsgrüsse des Regierungsrates Conradin Cramer, Vorsteher des Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt

Nein, wirklich, daran kann man nichts kritisieren. Mutig ist es, und echt menschlich: Da tritt doch der Basler Regierungsrat Conradin Cramer die Hälfte seiner Redezeit beim Überbringen der Festtagsgrüsse an Chellal Hayat ab. Wer ist Chellal Hayat? Sie ist als Reinigungskraft tätig. Sie putzt frühmorgens und spätabends die Schulzimmer der Basler Gewerbeschule. Sie darf die Ansprache beginnen. Sie steht links vorne im Bild, CC (= Conrdin Cramer) rechts hinten mit Maske, offenbar gefilmt in historischen Räumlichkeiten. Und sie erhält von den 184 Sekunden mit 85 Sekunden fast die Hälfte der Redezeit! Da zeigt sich eben der Respekt, den CC vor dieser Frau und ihrer Arbeit hat. «J’aime mon traivail et je pense c’est un metier très noble.»Mit diesen Worten beginnt Frau Hayat von ihrer Arbeit zu erzählen, die in der Coronazeit so wichtig geworden sei, denn es gehe um den Schutz der Kinder und Jugendlichen. Und sie schliesst mit den Worten: «Je vous souhaite des journées agréables et reposantes.» Dann gibt’s einen Schnitt.

J’aime mon traivail et je pense c’est un metier très noble.

Conradin Cramer, Vorsteher des Erziehungsdepartmenents Basel-Stadt lobt die Lehrkräfte.

Nun steht CC links vorne und Chellal Hayat mit Maske im Hintergrund. Und der Regierungsrat spricht vom «grossartigen Job», den die Lehrerinnen und Lehrer in diesem schwierigen Jahr gemacht haben. Er spricht vom beeindruckenden Einsatz der Eltern für ihre Kinder. Und am meisten freuen ihn die Kinder und Jugendlichen mit ihrer Vergnügtheit und ihrer unbändigen Lebenslust. Seltsamerweise nimmt er in keiner Weise Kontakt auf mit Frau Hayat und es gibt auch kein Dankeschön ans Putzpersonal. Die hatten ja ihren Auftritt, ein Dankeschön wäre wohl des Guten zu viel.

Ich erinnere mich, wie vor 20 Jahren die Schule geputzt wurde, an der ich immer noch arbeite. (Um welche es sich handelt, darf ich leider nicht sagen!) Das war eine Putzequipe von selbstbewussten Italienerinnen und Spanierinnen. Sie kamen in der Pause am späten Nachmittag jeweils in unser Raucherzimmer, tranken einen Kaffee, rauchten eine Zigi und tratschten mit uns.

Die Jugendlichen wissen nicht mehr, wie die Menschen heissen, die täglich ihren Dreck wegräumen. Und sie wissen auch nicht, wie miserabel diese Leute bezahlt werden.

Sie hatten Namen und man kannte sich. Nun, das ist lange her. In der Zwischenzeit sind die Putzinstitute mehrmals ausgewechselt worden. Aus Spargründen vermeidet der Staat die Nachtzulagen. Deshalb huschen nun frühmorgens namenlose junge Frauen und Männer gestresst durch die Gänge. Sie kommen wohl aus Sri Lanka, aus Afrika und dem Balkan. Sie haben keine Namen mehr. Sie verschwinden lautlos, bevor die Schüler*innen auftauchen. Die Jugendlichen wissen nicht mehr, wie die Menschen heissen, die täglich ihren Dreck wegräumen. Und sie wissen auch nicht, wie miserabel diese Leute bezahlt werden.

Seit Jahren wird im Leitmedium des Schweizer Bürgertums, der NZZ,  der «linke Gutmensch» abschätzig und penetrant lächerlich gemacht. Wenn man sich diesen peinlichen Auftritt des noblen liberalen Regierungsrates CC anschaut, dann muss man feststellen, dass es auch so etwas wie den neoliberalen Gutmenschen geben muss.

Aber bitte, bilden Sie sich selbst ein Urteil!

https://www.youtube.com/watch?v=h8BKcZUX5c0&feature=youtu.be

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«Streulicht» von Deniz Ohde – Eine Buchbesprechung https://condorcet.ch/2021/01/streulicht-von-deniz-ohde-eine-buchbesprechung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=streulicht-von-deniz-ohde-eine-buchbesprechung https://condorcet.ch/2021/01/streulicht-von-deniz-ohde-eine-buchbesprechung/#respond Fri, 01 Jan 2021 14:57:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=7393

Condorcet-Autor Georg Geiger beginnt das Jahr 21 mit einem Lesevorschlag! Das Buch von Deniz Ohde: Streulicht kann fast als Romanform der soziologischen Analyse von Aladin El-Mafaalani gelesen werden, ein Buch, das unser Georg Geiger bereits im Juli vergangenen Jahres in unserem Blog vorstellte (https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/).

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel

Das deutsche Pendant zum französischen Tandem Didier Eribon und Annie Ernaux heisst Aladin El-Mafaalani und Deniz Ohde. Wer die eher trockene soziologische Analyse der ungerechten Gesellschaft und der Rolle des deutschen Bildungssystems des Erziehungswissenschaftlers El-Mafaalani, wie er sie in seinem neusten Buch «Mythos Bildung» veröffentlicht  hat, literarisch eindrücklich veranschaulicht haben möchte, dem oder der sei der ebenfalls im Jahre 2020 erschienene Roman «Streulicht» dringend empfohlen, mit dem es die 32-jährige Autorin verdientermassen auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Am 6. Juli 2020 ist auf dem Condorcet-Blog meine Besprechung des Buches «Mythos Bildung» erschienen: Mit seinem nüchternen soziologischen Blick stellt El-Mafaalani die soziale Herkunft von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt seiner Analyse. Er geht dabei von drei Voraussetzungen aus: Die heutige Gesellschaft produziert soziale Ungleichheiten, die ohne die Schule noch viel grösser wären. Mit dem Vorwurf «Du hast leider Deine Chance nicht genutzt!» wird paradoxerweise soziale Ungleichheit durch eben dieses Bildungssystem überhaupt erst legitimiert. Aber leider gibt es neben der Bildung keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, der diesen Kreislauf durchbrechen könnte.

Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt.

Kinder aus sozialen Unterschichten entwickeln intuitiv Denk- und Handlungsmuster, um den Mangel zu managen. Diese verinnerlichte Grundhaltung nennt er den «Habitus», der schon sehr früh im Menschen gebildet wird. Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt. Man orientiert sich auf Grund der finanziellen Knappheit an Kurzfristigkeit und Funktionslogik. Alles ist nutzenorientiert, Umgang mit Optionen gibt es kaum und der Zeithorizont ist sehr kurz. Bei Kindern mit Migrationshintergrund kommt noch dazu, dass sie einerseits von den Eltern geschubst werden, schulisch erfolgreich zu sein und sozial aufzusteigen, andererseits gezogen werden, der eigenen Herkunft treu zu bleiben. Die Lehrer*innen, mit denen sie es zu tun haben, stammen mehrheitlich aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht, die oft ohne böse Absicht die Potenziale der Kinder schichtspezifisch verzerrt einschätzen.

Ein Arbeiterkind kommt zurück

Der Roman «Streulicht» von Deniz Ohde beginnt mit der Beschreibung des Ortes, an dem sie aufgewachsen ist: «Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Strassen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.» So ist es nicht verwunderlich, dass die Ich-Erzählerin in dem Roman keinen Namen hat. Das Arbeiterkind kommt zurück an den Ort, wo es aufgewachsen ist, um an der Hochzeit ihrer Kindheitsfreunde Sophia und Pikka teilzunehmen. Und während es die alten Wege geht, erinnert es sich an den Vater, der 40 Jahre Aluminiumbleche in Laugen legte, an den Grossvater, der wie sein Sohn nichts wegwerfen konnte, an die Mutter, die ihre anatolische Herkunft verdrängte, Mann und Kind verliess und früh starb. Und an den Schulabbruch und die Scham und die Angst, nicht zu bestehen und als Aufsteigerin nicht dazu zu gehören.

Nicht einfach eine Autobiographie

Deniz Ohde, Autorin: Ich muss dieses Haus verteidigen.

Orte sind der Autorin im Zusammenhang mit der sozialen Herkunft wichtig, wie sie in der Sendung «52 beste Bücher» von Radio SRF2 vom 13.November 2020 erläutert. Im Roman wird sie vom Gefühl überfallen, «dass jemand hereinkommt, dass jemand den Schlüssel in der Wohnungstür dreht und ich dieses Haus verteidigen muss, aber gegen was, gegen den Druck von aussen gegen die Scheiben, gegen die tiefhängenden sauren Wolken, gegen Besuch, der sich nicht angekündigt hat, gegen die Fremden im Ort.» Der Frankfurter Industrieplatz Höchst mit seinem angrenzenden Stadtteil Sindlingen  schimmert hier wohl durch, aber es wäre schade, dieses Buch einfach auf eine autobiographische Verarbeitung zu reduzieren denn zu präzise, zu unerbittlich und zu treffend sind diese Orte, diese Menschen und diese Institutionen, um nicht ein hohes Mass an beklemmender Verallgemeinerung in sich zu tragen.

Wünsche waren eine Sache der anderen, der Sentimentalen (der Frauen) oder derer, die es sich leisten konnten

Möglichst einfach durchkommen

Ihr Vater, dessen ganzes Leben die Ich-Erzählerin als «eine einzige Ersatzhandlung» beurteilt, hatte mit 16 angefangen zu arbeiten, «etwas anderes, ein eigenes Wollen, war für ihn nicht denkbar gewesen.» Das Wünschen war verboten, gehörte in die Welt der Groschenromane. «Wünsche waren eine Sache der anderen, der Sentimentalen (der Frauen) oder derer, die es sich leisten konnten.» Und er benahm sich auch als erwachsener Vater, «als wäre man immer noch gefangen in einer Zeit, in der Selbstbeschränkung notwendig gewesen war;» Er war gnadenlos im Umgang mit dem eigenen Körper und er war davon überzeugt, «man müsse seinen Unterhalt aus eigener Kraft bestreiten und dürfe nichts für sich in Anspruch nehmen, schon gar keine Staatsgelder; auch nicht, wenn man ein Recht auf sie hatte.» Dies alles führte dazu, dass er seiner Tochter sogar das Lösen freiwilliger Zusatzaufgaben mit folgender Begründung auszureden versucht: «Das Wichtigste im Leben ist, möglichst einfach durchzukommen.» Sich anstrengen führe zu nichts, davon war er überzeugt. Und so lebte er im Gefühl, seine Tochter durch ihr Abitur, ihr Studium und ihren Umzug in eine andere Stadt an eine Welt verloren zu haben, zu der er nicht gehörte. Sinnigerweise hört das Buch mit einem väterlichen Ratschlag für seine Tochter auf, der da lautet: «Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim.»

Er war gnadenlos im Umgang mit dem eigenen Körper und er war davon überzeugt, «man müsse seinen Unterhalt aus eigener Kraft bestreiten und dürfe nichts für sich in Anspruch nehmen, schon gar keine Staatsgelder; auch nicht, wenn man ein Recht auf sie hatte.»

Die Mutter der Protagonistin machte aus ihrer anatolischen Herkunft ein verbrämtes Märchen und sie kaschierte ihre Unterwerfung unter den Ehemann und dessen Kultur mit vordergründiger Härte und Ungerührtsein. Die Befreiung gelang nur mit der Trennung. Im Kontrast mit dem kleinbürgerlichen Paradies der selbstsicheren Mutter der Freundin Sophie wird schmerzhaft deutlich, wie deren Arglosigkeit auf die Tochter abgefärbt hatte und wie bei der Ich-Erzählerin stattdessen ein Gefühl einer «tiefsitzenden Verunsicherung» sich breitgemacht hatte.

Lehrkräfte kommen schlecht weg

Die Lehrerinnen und Lehrer und die Schule als Institution kommen in diesem Roman ganz schlecht weg. Das muss man nüchtern zur Kenntnis nehmen, auch gerade, wenn man selbst Lehrer ist. Da ist der Herr Kaiser, «der eigentlich Wissenschaftler werden wollte», sich aber nicht getraute und wohl glaubte, «dass Lehrersein der einfachere und sicherere Weg sei.»

«Orientierungsphase. Danach wird ausgesiebt, wenn klar ist, wer der Sache gewachsen ist. Abitur, das ist kein Spass.»

Oder die Musiklehrerin, die sich überschwänglich verbeugte, «als stünde sie in einem Konzertsaal. Vielleicht hatte sie Dirigentin werden wollen», ganz so, wie es auch der ursprüngliche Wunsch des Sportlehrers gewesen war, Leichtathlet zu werden. Und da ist der Schulleiter, der am Elternabend stolz erklärte: «Orientierungsphase. Danach wird ausgesiebt, wenn klar ist, wer der Sache gewachsen ist. Abitur, das ist kein Spass.» Wenn im Gymnasium  die Lehrer scheinbar zusammenhangslos durch den Raum riefen «Ihr seid die Elite!», so handelte es sich für die Ich-Erzählerin um eine implizite Aufforderung, «aber welches Verhalten genau von mir verlangt wurde, was genau damit zusammenhing, dass ich zur Elite gehören sollte, verstand ich nicht, und es war auch keine Frage, die ich mir bewusst stellte, sondern vielmehr eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich daraus ergab.» Und es erstaunt, nicht, dass diese Schulkarriere nicht gradlinig verlief und dass hier eher Identität entzogen statt gebildet wurde. Die Ich-Erzählerin, war nicht «schaumgeboren, sondern staubgeboren; russgeboren, geboren aus Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einen Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt.»

 

Deniz Ohde: Streulicht. Roman Berlin 2020 Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-518-42963-1

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Zum Tode von Remo Largo: Gelobt und konsequent ignoriert. https://condorcet.ch/2020/11/zum-tode-von-remo-largo-gelobt-und-konsequent-ignoriert/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=zum-tode-von-remo-largo-gelobt-und-konsequent-ignoriert https://condorcet.ch/2020/11/zum-tode-von-remo-largo-gelobt-und-konsequent-ignoriert/#respond Fri, 13 Nov 2020 10:22:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=6930

Condorcet-Autor Georg Geiger gedenkt dem bekannten Kinderarzt Remo Largo, der uns dieser Tage verlassen hat. Und er mahnt uns daran, dass viele, die ihn heute loben, ihn in der Praxis konsequent ignoriert haben.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor

„Die Individualität ist ein Ausdruck dieser grossen Vielfalt unter den Kindern. Die Vielfalt nimmt im Verlauf der Kindheit immer mehr zu. Wenn eine Lehrerin eine Klasse mit 20 7-jährigen Kindern vor sich hat, dann unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre. Es gibt Kinder, die mit 7 Jahren ein Entwicklungsalter von 8 bis 9 Jahren haben und bereits lesen können. Andere mit einem Entwicklungsaltervon 5 bis 6 Jahren sind noch weit davon entfernt. Bis zur Oberstufe nehmen die Unterschiede
zwischen den Kindern noch einmal deutlich zu. Mit 13 Jahren variiert das Entwicklungsalter um mindestens 6 Jahre zwischen den am weitesten entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln. Hinzu kommt, dass die Jungen als Gruppe im Mittel um
eineinhalb Jahre in ihrer Entwicklung hinter den Mädchen zurückliegen. Der Umgang mit dieser sogenannten interindividuellen Variabilität ist für Eltern und Lehrkräfte sehr anspruchsvoll.“ (aus: Remo H. Largo und Martin Beglinger: Schülerjahre – Wie Kinder besser lernen. München 2009)

Gelobt, aber konsequent ignoriert

Nun wird der eben verstorbene Kinderarzt und Buchautor Remo Largo von allen Seiten gelobt.
Aber das konkrete Zitat aus seinem Buch „Schülerjahre“ macht deutlich, dass die Bildungsbürokratie,
Teile der Bildungsforschung und die Mehrheit der Bildungspolitiker*innen die Ergebnisse der drei Longitudinalstudien von Largo bis heute konsequent ignoriert haben, denn im Lehrplan 21 hat man aus der Bandbreite von 3 Jahren doch tatsächlich eine Bandbreite von 3 Monaten gemacht! Largos Erkenntnisse sind fundamental und bahnbrechend, doch leider werden sie in unserem Land bei der Ausgestaltung unserer Schulen in keiner Weise weder beachtet noch umgesetzt.

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Erziehung durch die See https://condorcet.ch/2020/10/erziehung-durch-die-see/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=erziehung-durch-die-see https://condorcet.ch/2020/10/erziehung-durch-die-see/#comments Wed, 21 Oct 2020 13:50:56 +0000 https://condorcet.ch/?p=6732

Endlich darf der Condorcet-Blog wieder eine Buchrezension von Georg Geiger aufschalten. Dieses Mal stellt er das Buch von Sandra Lüpke vor, das sich mit einer nahezu unbekannten Reformschule an der Nordsee beschäftigt. Die "Schule am Meer" schaffte es auf die Spiegelbestseller-Liste.

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Die «Schule am Meer» auf der Nordseeinsel Juist ist ein beinah vergessenes reformpädagogisches Experiment der Zwischenkriegszeit. Die 1971 in Göttingen geborene Autorin Sandra Lüpkes verwebt darin Fiktion und Wirklichkeit zu einem breit angelegten Gesellschaftsroman, der sich als gut recherchierte Unterhaltungsliteratur erweist und es kurz nach Erscheinen im Frühjahr auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat. Das grosse Verdienst dieses rein literarisch nicht sehr überzeugenden Buches besteht darin, dass Lüpkes die Figur der jüdischen Lehrerin Anni Reiner ins Zentrum ihrer Recherche gestellt hat, die vom charismatischen und gleichzeitig problematischen Schulleiter Martin Luserke rückblickend beharrlich totgeschwiegen worden ist.

 

«Es macht keinen Sinn, das Holz mitten in der Nacht ins Lager zu schleppen, dafür ist es zu viel. Und der Weg ist uneben, dazu die Dunkelheit. Lu hat entschieden, die Bretter erst am nächsten Morgen zu bergen – und tut Marje und Moskito den Gefallen, sie solange als Wachpersonal einzusetzen, weil ein bisschen Abenteuer nicht schadet, solange keine wirkliche Gefahr besteht.»

Ein Schüler verschwindet

Sandra Lüpke: Autorin

Es ist wohl kein Zufall, dass sich gerade diese Szene mit dem Treibholz leitmotivisch durch das ganze Buch zieht, denn die Bergung der gestrandeten Teak-Hölzer ist historisch verbrieft und sie wirkt als Handlungsmotiv und als Bild unglaublich stark. Nach etwa 100 Seiten erfährt man, dass der Schüler Gregor, der einen Konzertauftritt vor sich hat, verschwunden ist. Hat er sich das Leben genommen? Aus Lampenfieber vor dem Konzert oder «wegen dieser Sache damals mit dem Anfassen», dessentwegen er als einziger Schüler ein Einzelzimmer im Schulheim hat? Mit der nur angedeuteten Sache sind sexuelle Übergriffe gemeint, die in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf vorgefallen waren, deren Schulleiter Gustav Wyneke deshalb ins Gefängnis kam. Martin Luserke verliess zusammen mit einigen gleichgesinnten Pädagog*innen und einigen Schüler*innen dieses reformpädagogische Schulprojekt bei Saalfeld und gründete 1925 die Schule am Meer auf der rauhen Nordseeinsel Juist.

Der Gemeindediener Coordes verliert später seinen Job, weil er nicht verhindert hat, dass die misstrauisch beäugte «Judenschule» so viel Holz erwischt hat.

Gregor hat sich nicht umgebracht. Er steht vielmehr im kalten Wasser und versucht von der Strandung tausender wertvoller Teak-Bretter möglichst viele zu ergreifen, denn gemäss einer behördlichen Verordnung gehört das Strandgut dem Staat, doch so lange die Bretter noch schwimmen, darf man sie kostenlos in Besitz nehmen. Bald schon kommen auch Dutzende Dorfbewohner an den Strand und versuchen ebenfalls ihr Glück. Und so sitzen nun die ganze Nacht hindurch die Menschen auf ihren Bretterhaufen und die beiden Jugendlichen Moskito und Marje verteidigen zusammen mit der Gans Titicaca erfolgreich ihre Beute. Der Gemeindediener Coordes verliert später seinen Job, weil er nicht verhindert hat, dass die misstrauisch beäugte «Judenschule» so viel Holz erwischt hat.

 

Im Epilog freut sich Zuck, der vielseitig begabte Musikpädagoge Eduard Zuckmayer, Bruder des bekannten deutschen Schriftstellers Carl, über den Korkenzieher, dessen Griff aus eben diesem Treibholz geschnitzt ist, als er im Haus Casa Reiner am Ufer des Lago Maggiore für sich und Anni Reiners Tochter Karin ein Glas Wein einschenkt.

In eben dieses Haus ist die Autorin Sandra Lüpkes, die als Tochter des Inselpastors auf Juist aufwuchs, eingeladen worden, um der Familiengeschichte von Anni Reiners nachzuspüren, wie sie im erhellenden Nachwort erläutert. Ihre Recherche begann mit der Lektüre des sogenannten Logbuches, einem im Original knapp 760 Seiten umfassenden, handschriftlich geführten und mit allerlei Skizzen versehenen Tagebuches, das in  erster Linie aus der Feder des Schulleiters Martin Luserke stammt. «Ich war erschüttert, weil daraus hervorging, dass der hochgelobte Pädagoge und Theatermann Luserke auf Juist seine vielleicht unrühmlichste Rolle spielte.» Denn er erwies sich in diesen neun Jahren des Schulexperimentes zwischen 1925 und 1934 mehr als nur politisch naiv. Einige Jahre nach der erzwungenen Schulschliessung «bekannte sich Luserke öffentlich zum nationalsozialistischen Gedanke und ging auf Distanz zum linken Pädagogen Paul Reiner und dessen jüdischer Frau Anni, die als Geldgeberin für die Schule fungiert hat.»

«Hunde und Juden haben hier keinen Zutritt!»

Der grösste Schatz waren für Sandra Lüpkes neben dem umfangreichen Bildarchiv die über hundert Briefe, die zwischen 1931 und 1933 Anni Reiner an ihre älteste Tochter Renate geschrieben hatte. Mit der fiktiven Romanfigur Gustav Wenninger, der als Klischee-Nazi wenig überzeugt, erhält die Veranschaulichung des Schulprojektes im Kontext des erstarkenden Faschismus eine Schlagseite, die dazu führt, dass man als Leser leider über das Schulprojekt weniger erfährt als über die Karriere des Aufsteigers Wenninger, der die Tochter des Hotelier Gerker heiratet, die schon im Juli des Jahres 1925 der Mutter von Anni Reiner den Zutritt zum Hotel mit dem Verweis auf ein Schild verweigert, auf dem steht: «Hunde und Juden haben hier keinen Zutritt!»

Die Schule war kein Paradies

Die “Schule am Meer”: Knaben und Mädchen waren gleichberechtigt.

Nun, was erfährt man denn konkret über die Schule am Meer? Dass sie nicht einfach ein Paradies war. Auf Gedeih und Verderb waren hier gegen 100 Jugendliche und Erwachsene auf engstem Raum zusammengepfercht. Privatsphäre gab es kaum, existenzielle Finanznöte aber sehr wohl. 38 Jungs und 12 Mädchen wurden, was für das Wilhelminische Zeitalter eine Revolution bedeutete, gleichberechtigt unterrichtet. Frontalunterricht gab es kaum. Mit den LehrerInnen war man per Du. Im Schulrat verhandelten LehrerInnen und SchülerInnen ab der zehnten Klasse gleichberechtigt über die Fragen des Zusammenlebens. Der Tag begann mit einem Sprung in die kalte Nordsee. Danach gab es im Speisesaal Bachs Wohltemperiertes Klavier zu hören. Am Vormittag wurden die Pflichtfächer in Lerngruppen von max. 10 Schüler*innen zwangslos an runden Tischen unterrichtet. Nach dem Mittagessen gab es das Tobsuchts-Ritual, bei dem die Jugendlichen an den Strand geschickt wurden, um sich auszutoben. Sport, Musik und Kunst waren auf den Nachmittag gelegt. Musik- und Theaterprojekte bildeten die Höhepunkte des Schullebens. Im Laufe des letzten Schuljahres gab es eine Abschlussarbeit. Der Gartenbau, der auf Selbstversorgung angelegt war,  zählte zu den handwerklichen Schwerpunkten. Segeln war eine weitere praxisorientierte Disziplin. Martin Luserkes Hunger nach Ganzheitlichkeit

Schule am Meer: Synthese von Körper, Seele und Geist.

versuchte eine Synthese von Körper, Seele und Geist. Es ging um das Erlebnis aus erster Hand, die Natur und insbesondere das Meer spielten dabei eine zentrale Rolle: «Erziehung durch die See» war Luserkes Motto. Fertigkeiten und Kenntnisse wurden, wenn immer möglich, praktisch vermittelt. Und SchülerInnen und LehrerInnen waren gemeinsam in sogenannten «Kameradschaften» organisiert. Unter den «Bären», «Pinguinen», «Wölfen», «Nixen», «Delfinen» und «Wildgänsen» entbrannten immer wieder heftige und langatmig beschriebene Kämpfe um Flaggen und Wimpel.

Gib unserer Schule noch Zeit

Der während des Schulexperimentes unerwartet früh verstorbene Paul Reiner sagt an einer Stelle zu seiner besorgten Frau: «Gib unserer Schule noch etwas Zeit, Anni. Irgendwann werden die Schüler von sich aus wollen, was gut für alle ist.» In diesem Satz liegt die ganze Widersprüchlichkeit des damaligen reformpädagogischen Grundverständnisses: Es soll auf ein noch verborgenes Ganzes gesetzt werden, das sich irgendwann als das Gute und Richtige von selbst durchsetzen wird. Wie schwer zugänglich und dunkel diese pädagogische Weltsicht daherkam, vermittelt etwa das Gedicht «Die Hüter des Vorhofs» von Stefan George, das wohl zur Richtschnur von Paul Reiners Pädagogik wurde. Ganz dem Zeitgeist verwandt, verortete vor allem der Schulleiter Luserke diesen geheimnisvollen Kern im Nordischen und Germanischen. Gemeinschaftsbildende Aktivitäten und das fesselnde Erzählen mystischer Prosa waren seine Spezialität. Dabei rückte sein Weltbild arg in die Nähe der völkischen Ideologie. Dieser Grauzone der Reformpädagogik hätte sich Lüpkes gerne noch etwas intensiver widmen können, wohl wissend, dass dies kein einfaches Unterfangen ist!

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«Mythos Bildung» – Eine Buchbesprechung https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=mythos-bildung-eine-buchbesprechung https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/#comments Mon, 06 Jul 2020 19:02:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=5602

Aladin Al-Mafaalani ist eine wohltuende und mahnende Stimme aus Deutschland, welche in der Bildungsdebatte regelmässig an das Schicksal der unterprivilegierten Kinder in unserem Bildungssystem erinnert. Sein neustes Buch wird von Georg Geiger vorgestellt.

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Georg Geiger Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

«Der ganzen Gesellschaft ist in den letzten Wochen bewusst geworden, wie wichtig unsere Schulen als sozialer Ort sind. Unterricht in den Klassenzimmern mit direktem Kontakt von Mensch zu Mensch bleibt unersetzlich. Nur so kann die Schule soziale Ungleichheiten verringern und die Chancengerechtigkeit vergrössern.»

Mit diesen Worten bedankt sich der Vorsteher des Basler Erziehungsdepartementes in einem Brief bei den Lehrerinnen und Lehrern. Wir alle kennen solche Sätze. Die sind wohl gut gemeint, aber sie laufen immer Gefahr, zu viel zu versprechen. El-Mafaalani würde dazu sagen: «Wenn man nicht mehr weiterweiss, wird Bildung als Zauberformel und Allheilmittel, als Lückenfüller oder als Totschlagargument ins Spiel gebracht. Bildung ist ein Mythos, ein kaum bestimmbarer Begriff, den man über jedes gesellschaftliche Problem stülpen kann. Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.»

«Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.» El-Mafaalani

Der Autor kennt das deutsche Bildungssystem aus praktisch jeder Perspektive, ob als Schüler, Student, Lehrer, Bildungsforscher, Hochschuldozent oder als Vater. Entsprechend nüchtern, pragmatisch, kritisch und umfassend zugleich ist sein Blick darauf.

In der Zeit des Homeschooling während der Corona-Pandemie drängten sich Fragen nach der sozialen Realität der Schülerinnen und Schüler auf, wenn man als Lehrer versuchte, mit seinen SchülerInnen digital in Kontakt zu treten: Auf wie vielen Quadratmetern lebt mein Schüler? Mit wie vielen anderen Familienmitgliedern? Wie viele Computer stehen ihnen zur Verfügung? Hat er überhaupt ein eigenes Zimmer? Sind die Eltern von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen? Kann sich der Jugendliche schulische Unterstützung bei seinen Eltern oder seinen Geschwistern holen? In welchem Quartier wohnt er überhaupt?

Soziale Verhältnisse werden chronisch vernachlässigt

Wie wohnen meine Schüler?

Normalerweise werden in Deutschland und in der Schweiz solche Fragen nach den sozialen Verhältnissen chronisch vernachlässigt. Wir selektionieren früh und das Bildungswesen reproduziert die sozialen Ungerechtigkeiten gnadenlos. Soziale Aspekte sind so lange aktuell, bis jeder Schüler und jede Schülerin im digitalen Netz erfasst ist. Danach wird wohl das Thema von Arm und Reich schnell wieder in Vergessenheit geraten.

 

Die Frage der sozialen Herlunft steht im Mittelpunkt

Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani: ein zutiefst ungerechtes Bildungssystem

Mit seinem nüchternen soziologischen Blick plädiert El-Mafaalani dafür, das Bildungssystem nicht auf Lehrkräfte und ihren Unterricht oder abstrakte Schulsystemfragen zu reduzieren. Im ganzen Buch steht die soziale Herkunft von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt. Der Umgang mit Migrationshintergrund sowie mit Kindern mit Behinderungen wird zwar thematisiert, stellt aber nicht den Schwerpunkt der Analyse dar. Der Autor geht, wie er im Vorwort klarmacht, von drei Grundproblemen aus: «Erstens ist es die Gesellschaft, die Ungleichheiten zulässt und produziert, die ohne das Bildungssystem, insbesondere die Schule, noch viel grösser wären.» Zweitens wird durch die Bildungsinstitutionen, die die Ungleichheiten nicht restlos ausgleichen, paradoxerweise soziale Ungleicheit überhaupt erst legitimiert: Du hast leider die Chance nicht genutzt!  Und drittens gibt es aber bedauerlicherweise keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, in dem dieser Kreislauf durchbrochen werden könnte.

Der Habitus als Bindeglied

Das meiner Ansicht nach zentralste Kapitel in diesem etwa 300-seitigen Buch ist das Kapitel vier mit dem Titel «In Armut aufwachsen – und zur Schule gehen».  Eine wichtige Rolle spielt hier der soziologische Begriff des Habitus: «Der Habitus ist das Bindeglied sowohl für alle Vorstellungen davon, was Bildung ist oder sein kann, als auch für alle genannten Ursachen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem.» Der soziale Habitus «beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln. Diese Grundhaltung wird bereits früh im jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen – auch in der sozialen Schicht beziehungsweise im Milieu – ausgebildet und hilft ihm, sich daran zu orientieren.» Es geht dabei um «das Hineinwachsen in ein Milieu, in dem man dann imstande ist, intuitiv zu handeln. Dabei geht es aber nicht nur um Gewohnheiten und Routinen, sondern auch um Geschmack, Ästhetik und Stil bis hin zu einer bestimmten Weltsicht.»

Wie wachsen arme Kinder auf, wie reiche? Sind die Eltern arbeitslos, arm und bildungsfern?

Potenziale von Unterschichtkindern werden regelmässig und ohne böse Absicht verzerrt eingeschätzt.

Existiert ein unterstützendes Netzwerk? Kinder aus der sozialen Unterschicht entwickeln intuitiv ein Denk- und Handlungsmuster, «den Mangel zu managen». Die finanzielle Knappheit begünstigt die Entwicklung eines an Kurzfristigkeit und Funktionslogik orientierten Denk- und Handlungsmusters. Der Zeithorizont ist also kurz, weil alles andere irrational wäre. Alles ist nutzenorientiert, es gibt kaum einen Umgang mit Optionen. Offene Entscheidungssituationen verunsichern schnell und werden möglichst vermieden. Und die permanente Finanzknappheit ermöglicht es auch nicht, sich in Selbstdisziplin zu üben, «denn die Rahmenbedingungen disziplinieren bereits umfassend.» Man kann gar nicht selbstbestimmt verzichten, wie das in reichen Haushalten aufwachsende Kinder oft können, bei denen «jeden Tag mehr möglich wäre, als machbar ist.» Bei den privilegierten Kindern gehören Langzeitorientierung, ein Denken in Alternativen, Experimentier- und Risikofreudigkeit zur habituellen Prägung.

Bei den privilegierten Kindern gehören Langzeitorientierung, ein Denken in Alternativen, Experimentier- und Risikofreudigkeit zur habituellen Prägung.

Diese unterschiedlichen Mentalitäten wirken sich dann auch wieder spürbar auf die Schule aus: Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt. Offene Lernarrangements führen zu Unsicherheit. Für Unterschichtenkinder steht die Statusverbesserung im Zentrum, während für Kinder der Mittel- und Oberschicht auch die Gesellschaft als solche in den Blick geraten kann, um möglicherweise auch grundsätzlich in Frage gestellt zu werden.

Selbständiges, projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen und Arbeiten wäre im Fernunterricht eigentlich vermehrt angesagt. Aber damit werden viele Jugendliche, die im Management des Mangels gross geworden sind, überfordert. Bei Kindern mit Migrationshintergrund kommt noch dazu, dass diese von ihren Eltern geschubst werden, schulisch erfolgreich zu sein und sozial aufzusteigen, und gleichzeitig gezogen, der eigenen Herkunft treu zu bleiben. Kommt dazu, dass die LehrerInnen mehrheitlich aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht stammen, was dazu führt, dass die Potenziale von Kindern regelmässig und ohne böse Absicht schichtspezifisch verzerrt eingeschätzt werden.

Beseitung von sozialen Ungerechtigkeiten energischer angehen

Was El-Mafaalani gegen Ende seines Buches präsentiert, sind einige pragmatische und gleichermassen umfassende Reformideen: Man soll trotz allem die Beseitigung von Ungerechtigkeiten, mit Blick auf soziale Herkunft und Bildungserfolg, energisch in Angriff nehmen, vor allem in der Grundschule. Man solle die Lehrkräfte entlasten und von den Eltern nicht zu viel erwarten. Das Bildungssystem müsse übersichtlicher werden und das duale Bildungssystem solle geschützt werden. Und von zentraler Bedeutung sei das Mikrosystem jeder einzelnen Schule.

 

Aladin El-Mafaalani: MYTHOS BILDUNG – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln 2020. Kiepenheuer&Witsch. 23 Franken.

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Schulreisen, die (leider!) nicht in die Tiefe führen https://condorcet.ch/2020/04/schulreisen-die-leider-nicht-in-die-tiefe-fuehren/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=schulreisen-die-leider-nicht-in-die-tiefe-fuehren https://condorcet.ch/2020/04/schulreisen-die-leider-nicht-in-die-tiefe-fuehren/#comments Wed, 29 Apr 2020 04:16:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=4775

Nur dank des Hinweises einer Kollegin hat sich Condorcet-Autor Georg Geiger das Schwerpunktthema „Bergbau“ in der März-Nummer des LCH-Organs „Bildung Schweiz“ genauer angeschaut. Dabei ist er auf erstaunliche historische Verdunkelungen gestossen.

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LCH-Hochglanzbroschüre: Es waren nicht alle Aspekte vermittelt.

Das Titelblatt der März-Ausgabe von „Bildung Schweiz“ zeigt drei Schüler, die mit roten Helmen in einem Bergwerkstollen Gesteinsproben betrachten. Dazu der Titel „Schulreisen, die in die Tiefe führen“. Im Editorial wird erläutert, weshalb sich die Redaktion diesem Schwerpunktthema widmet: „Zahlreiche der stillgelegten Bergwerke bieten nämlich die Möglichkeit, sie zu erkunden und dabei einiges über ihre Geschichte zu erfahren.“ Es werden nach einem Überblick über die Geschichte der Bergwerke in der Schweiz Reportagen aus den Eisenbergwerken Herznach und Gonzen sowie Berichte über das Salzbergwerk in Bex und die Goldmine in Gondo angekündigt.

 

Salzminen in Bex: Beliebtes Ausflugsziel.

Im geschichtlichen Überblick erfährt man, dass in der Schweiz bereits vor 3500 Jahren Erze und andere mineralische Rohstoffe im Bergbau gewonnen wurden und dass Eisenerz eines der am häufigsten abgebauten Erze in der Schweiz war. Im Mittelalter entwickelte sich die Eisenverarbeitung zu einem blühenden Wirtschaftszweig. Doch der enorme Holzbedarf und die Entwaldung führten in der Folge zu einem Rückgang des Abbaus von Eisenerz und der Verhüttungsanlagen. Die älteste schriftliche Erwähnung des Bergbaus im oberen Fricktal stammt aus dem Jahre 1207, doch bis zum Ende des 18.Jahrhunderts verlor der Eisenabbau enorm an Bedeutung. „Erst die Weltkriege zeigten, wie wichtig einheimische Rohstoffe waren. Um nicht völlig vom Ausland abhängig zu sein, erweckte man in dieser Zeit einige der früheren Bergwerke wieder zum Leben, so auch die alten Abbaugebiete im oberen Fricktal. 1920 wurde ein Versuchsstollen in Herznach angelegt und 1937 nahm das Bergwerk seinen Betrieb auf.“ Die Eisenerzgewinnung dauerte dann bis 1967. Weiter schreibt die Autorin Doris Fischer dazu in ihrem Text auf Seite 11: „Im Jahre 1941 förderten 139 Beschäftigte im Dreischichtbetrieb 211 783 Tonnen Erz, was die grösste Abbaumenge in der Geschichte der Mine war. Insgesamt lieferte das Bergwerk Herznach in den 30 Betriebsjahren etwa 1.7 Millionen Tonnen Erz, rund die Hälfte davon während des Zweiten Weltkrieges. Der grösste Teil des Eisenerzes konnte jedoch nicht in der Schweiz verhüttet werden, weshalb unser Land auf den Import von Eisen angewiesen war. Ein Abkommen mit Deutschland, gemäss dem die Schweiz den Rohstoff Eisenerz ins Ruhrgebiet schaffte und im Gegenzug vom grossen Nachbarn Rohstahl und andere Güter wie Braunkohle bezog, sicherte den Bedarf.“

Wer war der “grosse Nachbar”

Und da unterbreche ich als interessierter Geschichtslehrer die vielfarbige Reportage und ich werde stutzig. „Der grosse Nachbar“, damit ist doch das Naziregime von Hitler gemeint, mit dem die Schweiz offensichtlich auch im Handel mit Rohstoffen enge Verbindungen einging. Oder nicht? Doch dieser Aspekt wird so harmlos vermittelt, dass er kaum auffällt.

„Blütezeit“ des Bergwerkes Herznach während des Zweiten Weltkrieges

Auch in der anschliessenden Reportage über den Klassenausflug zum Eisenbergwerk Herznach erfährt man dazu kaum etwas Substantielles. Also gehe ich auf die Homepage www.bergwerkherznach.ch und stelle fest, dass auch dort nichts Genaueres über den Aspekt der wirtschaftlichen Kollaboration mit Hitler-Deutschland zu erfahren ist. Auch dort wird betont, dass die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg die Suche nach einheimischen Rohstoffen verstärkte, „um die Abhängigkeit vom Ausland zu mildern.“ Und so kam es dann zu dieser „Blütezeit“ des Bergwerkes Herznach während des Zweiten Weltkrieges. Ähnlich ist der Tonfall im Originalkommentar der aufgeschalteten Wochenschau vom 30.April 1943: „1937 wird das Bergwerk in Herznach eröffnet. Seine Blütezeit erlebte es während des Zweiten Weltkrieges. Im Jahre 1941 arbeiten rund 140 Männer in den Stollen, verstärkt durch 40 internierte Polen. Die Schweiz will sich selber mit Eisenerz versorgen.“ Die bewegten Bilder der Bergarbeiter, die in den Stollen fahren, werden mit rhetorischem Pathos unterlegt, wenn es heisst: „Ihre mühselige Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zum Gedeihen unseres Landes.“

So also liegen die Dinge: Aus der wirtschaftlichen Kollaboration mit Nazi-Deutschland wird ein wichtiger Beitrag zum „Gedeihen unseres Landes“!

Die Schweizer Kollaboration mit dem Naziregime wird nicht thematisiert.

So also liegen die Dinge: Aus der wirtschaftlichen Kollaboration mit Nazi-Deutschland wird ein wichtiger Beitrag zum „Gedeihen unseres Landes“! In Ermangelung eigener Hochöfen begann eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem oberen Fricktal und dem Ruhrgebiet, die aber weder auf der Homepage noch im Artikel von Doris Fischer thematisiert wird.

 

Wer sich über die Aspekte der aussenwirtschaftlichen Verflechtungen der Schweiz im Zweiten Weltkrieg“ informieren will, dem empfehle ich als Einstieg, einen Blick in den Bergier-Bericht zu werfen, jenem „Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg“, veröffentlicht im Pendo-Verlag im Jahre 2002. Dort kann man im 4. Kapitel zum Verlauf der schweizerischen Wirtschaftsverhandlungen etwa erfahren, dass die Schweiz ihre wirtschaftlichen Beziehungen wie im Ersten Weltkrieg mit allen Ländern aufrechtzuerhalten versuchte. „Die Realität sah dann aber anders aus: Es kam zu einer massiven Verlagerung der Exporte nach Frankreich und Grossbritannien (etwas geringer bei den USA) zugunsten der Achsenmächte. Zwischen Juli 1940 und Juli 1944 waren Deutschland (und bis Mitte 1943 Italien) die mit Abstand wichtigsten Abnehmer schweizerischer Waren.“ Unter den Bedingungen des Weltkrieges wurde die Aussenwirtschaft zur Aussenwirtschaftspolitik und die Aussenpolitik zur Aussenwirtschaftspolitik.“

Der Bericht der Bergier-Kommission belegte die enge Kooperation der Schweiz mit den Achsenmächten.

Die Schweizer Behörden führten während des Krieges Verhandlungen, „die primär auf die Sicherstellung der Landesversorgung abzielten und gerade dadurch auch deutsche Forderungen erfüllen und den helvetischen Unternehmen entgegenkommen konnten.“ Doch der Bericht schwächt diese Aussage gleich  wieder etwas ab: „Die Tatsache, dass sich die schweizerischen Firmen bemühten, mit den neuen Herren Europas ins Geschäft zu kommen, darf nicht mit nationalsozialistischer Gesinnung gleichgesetzt werden. Ein Teil der schweizerischen Wirtschaftselite wies ideologische Affinitäten zum Ordnungsdenken sowie zum Antikommunismus des nationalsozialistischen Deutschland auf. Jedoch drücken sich in der Intensität des wirtschaftlichen Austausches nicht derartige Sympathien aus.“

Schaler Nachgeschmack

Was bleibt nach der Lektüre dieser Hochglanzbroschüre des LCH? Ein schaler Nachgeschmack, der von einer erstaunlichen Verharmlosung zeugt, die dazu führt, dass diese empfohlene Schulreise leider nur in die physischen, nicht aber in die historischen Tiefen der Schweizer Bergwerksgeschichte führt.

 

Georg Geiger

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