22. November 2024

Schulen in Zeiten von Corona: Das Leben ist wichtiger als der Lehrplan

Stefan Hopmann, Professor für historische und vergleichende Schul- und Bildungsforschung an der Universität Wien, plädiert für eine Fernschulung mit Mass und mit dem Blick auf die sozialen Verhältnisse der Betroffenen.

Heinz Fassmann, Bildungsminister in Österreich: Keine grossen Probleme mit Fernschulung.

„Sie werden sehen, das wird ein relativ geringes Problem werden“, sagte Österreichs Unterrichtsminister Heinz Faßmann (ÖVP) an dem Tag, an dem die Schulschließungen und die Umstellung auf E-Learning im Gefolge der Ausbreitung des Corona-Virus bekannt gegeben wurden. Was folgte, waren Tage, in denen zahllose Lehrkräfte Engagement und Einfallsreichtum bewiesen. Eine Woche später zeigte sich der Minister in einem erneuten Interview bestätigt: „Das Lernen zu Hause hat gut begonnen, auch die Kommunikation zwischen den Lehrern und den Schülern funktioniert gut. Die Schüler haben genügend Material, manche, glaube ich, mehr als genug. Und wir müssen dann wahrscheinlich eher schauen, wie man einen ganz normalen Schulalltag simulieren kann.“ Er stellt sich darunter vor, dass Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler morgens zeitgleich vor dem Computer sitzen und in munteren Wechselschaltungen den Unterricht durchführen.

Hurra-Optimismus der Politik

E-Learning: Nutzen hängt massiv von den daneben verfügbaren Ressourcen ab.

Also: Kein Grund zur Sorge? Ganz im Gegenteil! Nur lässt der Hurra-Optimismus der politisch Verantwortlichen befürchten, dass sie nicht wissen, welchen pädagogischen Flurschaden sie in einer ohnehin schwer gebeutelten Gesellschaft anrichten. Fangen wir an mit der durch Forschung sehr gut belegten Tatsache, dass der Nutzen von E-Learning massiv von den daneben verfügbaren Ressourcen abhängt. Es ist leicht zu verstehen, dass man mehr davon hat, wenn jemand in der Familie die schulischen Aufgaben beherrscht und einem helfen kann. Aber das fängt schon bei viel elementareren Voraussetzungen an: Nicht alle Schülerinnen und Schüler haben zuhause einen geeigneten Arbeitsplatz, geschweige denn unbegrenzten Zugang zum Internet.

Nicht alle Schülerinnen und Schüler haben zuhause einen geeigneten Arbeitsplatz, geschweige denn unbegrenzten Zugang zum Internet.

Nicht alle haben die Materialien und Hilfsmittel zur Verfügung, die für viele Aufgaben erforderlich sind. Nicht alle sind fähig, aus eigener Kraft ihren Lerneinsatz zu regulieren. Die Ergebnisse der E-Learning-Forschung sind eindeutig: Einige lernen unter diesen Bedingungen mehr, einige ungefähr genauso viel wie im normalen Schulbetrieb, aber viele deutlich weniger, ja manche fallen gegenüber dem Leistungsstand zurück, den sie vor der Umstellung erreicht hatten.

Niemand wird behaupten können, drei Prozent des Unterrichts seien bedeutsamer als alle Anstrengungen, Kinder und Jugendliche physisch und psychisch gesund zu erhalten.

Corona-Schulhausschliessung: Schüler holen gestaffelt ihr Material ab.

Hinzu kommt, dass es sich bei alldem nicht einfach um ein wohl berechnetes Flächenexperiment zur Umstellung des Schulbetriebes auf E-Learning handelt, sondern sich alles im Schatten einer Pandemie vollzieht, die Alltag und Gesellschaft in einem seit Kriegstagen nicht mehr erlebten Ausmaß aus den Angeln hebt. Manche Eltern müssen von Zuhause aus arbeiten. Andere haben ihre Arbeit gleich ganz verloren. Manchen droht der Ruin. In manche Familien ist die Krankheit bereits eingedrungen, andere leben in der täglichen Furcht vor der Ansteckung: Angst um die Großeltern, erschreckende Nachrichten von entfernten Verwandten oder nahen Freunden, die unvermeidliche Frage nach der eigenen Sterblichkeit.

Selbst in Familien, die vom Schlimmsten verschont sind, machen die Kinder und Jugendlichen eine oft traumatisierende Erfahrung, in der ihr Vertrauen in Gott und die Welt, in ihre Eltern und in ihre eigene Zukunft nachhaltig gestört wird. Wir wissen aus der Forschung über Lernen unter Katastrophenbedingungen (vom Krieg bis Tschernobyl), dass auch diejenigen, die keine auffällige Symptomatik zeigen, durch diese Erfahrung in ihrer Lernbereitschaft eingeschränkt werden. Auch dies wird geprägt durch die unterschiedlichen psychischen, sozialen, ökonomischen usw. Ressourcen, die Familien zum Einsatz bringen können, um ihren Nachwuchs zu schützen.

Anschlag auf familiäre Fürsorge

Eltern sollen ganz Eltern sein dürfen.

In Krisenzeiten wie diesen ist das Kindeswohl die erste Bürgerpflicht. Das Wichtigste, was Familien in dieser Situation geben können, ist ein Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit, dem nichts wichtiger ist, als den Kindern und Jugendlichen bei der Bewältigung dieser ungeheuren seelischen Belastung zu helfen. Dies setzt voraus, dass Eltern ganz Eltern sein dürfen, und verträgt sich schlecht mit der Erwartung, Eltern sollten als verlängerter Arm des Schulbetriebes gegenüber ihren Kindern Anforderungen durchsetzen, die nicht die ihren sind. Wie die Forschung seit Garfinkels Krisenexperimenten zeigt, kann die Vermischung solcher Rollen schon im normalen Alltag zu Frustrationen und Aggressionen führen. Die Erwartung, Familien sollten ihren Alltag am Stundenplan und den Leistungsforderungen der Schule ausrichten, ist in diesem Sinne ein massiver Anschlag auf die Bedingungen familiärer Fürsorge.

USA und Grossbritannien verzichten auf Prüfungen

Was folgt daraus? Bislang scheinen die Regierungen dieser Welt sehr unterschiedliche Auffassungen davon zu haben, was unter diesen Bedingungen machbar sein sollte. Manche tun wie die österreichische so, als könne man durch E-Learning den Verlust des normalen Schulbetriebs beinah ausgleichen. Andere sind schon längst soweit wie in England oder den USA, für das verbleibende Schuljahr auf zentrale Prüfungen und verbindliche Tests aller Art zu verzichten. Pädagogisch scheinen mindestens die folgenden Konsequenzen unausweichlich:

  1. Es ist gut, wenn Schulen und Lehrkräfte weiterhin Lernmaterial und andere Online-Angebote zur Verfügung stellen. Das verhilft vielen zu sinnvollen Beschäftigungen. Art und Umfang der Teilnahme dürfen nicht verpflichtend sein.
  2. Daraus folgt auch: Niemand darf durch Leistungen oder deren Ausbleiben nach Übergang zum E-Learning ein Nachteil entstehen, keine Note verschlechtert und keine Versetzung gefährdet werden.
  3. Insbesondere ist eine sozial und pädagogisch faire Vorbereitung auf Schularbeiten, Tests und Abschlussprüfungen wie die Zentralmatura (derzeit ab 19. Mai geplant) bis auf Weiteres nicht möglich. Deswegen sollte auf deren Durchführung bis zum Schuljahresende verzichtet und die allfällige Note anhand bis zur Schulschließung erbrachter Vorleistungen vergeben werden.

Alle drei Punkte sollten unverzüglich rechtsverbindlich werden, um Angst und Druck abzubauen. Wer das, wie das Ministerium zurzeit, verweigert, handelt vorsätzlich sozial ungerecht und pädagogisch unverantwortlich.

Normaler Unterricht vor den Ferien?

Niemand kann im Moment sagen, wie lange die Schulschließungen andauern werden. Die einschlägige Forschung lässt vermuten, dass das wenigstens bis Ende April, vielerorts aber noch lange darüber hinaus der Fall sein wird. Nach Wiederbeginn wird der Unterricht auch nicht zügig zur Tagesordnung übergehen können, sondern sich erst einmal die Zeit nehmen müssen, die Erfahrungen gemeinsam aufzuarbeiten und dort anzuknüpfen, wo man vor der Schulschließung stehen geblieben war. Das wird mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Kurz gesagt: Normalen Unterricht sollte es diesseits der Sommerferien nicht mehr geben.

Eine durchschnittliche Schullaufbahn umfasst rund 100 Monate Schulunterricht. Der mögliche Ausfall betrifft also ungefähr drei Prozent des Gesamtvolumens.

Aber ist das wirklich so schlimm? Eine durchschnittliche Schullaufbahn umfasst rund 100 Monate Schulunterricht. Der mögliche Ausfall betrifft also ungefähr drei Prozent des Gesamtvolumens. Niemand wird ernsthaft behaupten können, diese drei Prozent seien für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen bedeutsamer als alle Anstrengungen, sie physisch und psychisch so gesund wie möglich zu erhalten. Kinder brauchen jetzt Geborgenheit, Anerkennung, Vertrauen und keinen Schulstress. Niemand hat das Recht, unter Verweis auf eine ungewisse Zukunft die gelebte Gegenwart eines Kindes zu opfern.

Der Autor ist Professor für Bildungswissenschaften an der Universität Wien und Ehrendoktor der Universität Göteborg.

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