Deutschland - Personalmisere an Schulen

Jetzt droht in Berlin die Stundenplan-Kürzung wegen Lehrermangels

Erstmals erlaubt die Berliner Bildungsverwaltung infolge des eklatanten Lehrermangels auch sogenannte Pflichtstunden für Schüler zu kürzen. Bildungsgewerkschafter sehen es als Eingeständnis an die Realität, die in der Praxis längst eingetreten ist. Wir bringen einen Beitrag der Welt-Korrespondentin Sabine Menkens.

Die Lage an den Berliner Schulen wird immer prekärer. Eine Rekordzahl von 353’320 Schülern und der akute Lehrkräftemangel könnten jetzt sogar dazu führen, dass im Notfall sogar die von der Verwaltung festgelegte Stundentafel, die die Mindeststundenzahl für alle Fächer festlegt, nicht mehr eingehalten werden muss: In einem vor den Sommerferien verschickten Schreiben der Verwaltung von Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) an die Schulaufsicht wird neben vielen anderen Maßnahmen die vorübergehende Kürzung von Pflichtstunden ins Spiel gebracht.

Gastautorin Sabine Menkens

Auf Anfrage von WELT bemühte sich die Senatsverwaltung für Bildung zwar, einen entsprechenden Bericht des Berliner “Tagesspiegel” zu relativieren. In dem Schreiben sei es lediglich darum gegangen, den Schulaufsichten ein “Instrumentarium an die Hand zu geben”, um trotz Lehrkräfteknappheit das Schuljahr gut organisieren zu können, etwa durch Umwandlung von unbesetzten Lehrkräftestellen in Stellen für Logopäden, Erzieher oder Psychologen.

Keine generelle Kürzung der Pflichtstundenzahl

“Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, wurde in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, wie in einzelnen Fällen möglicherweise und gegebenenfalls eine Reduzierung der Stundentafel temporär und verhältnismäßig organisiert werden könnte”, teilte ein Sprecher mit. Von einer generellen Kürzung der Pflichtstundenzahl könne keine Rede sein. Zudem sollen Kernfächer wie Deutsch, Mathe und Englisch davon nicht betroffen sein.

Dennoch hat die Bildungsverwaltung damit erstmals ausgesprochen, was an vielen Berliner Schulen längst bittere Realität ist: dass angesichts von zuletzt rund 1400 fehlenden Lehrkräften nicht mehr überall regulärer Unterricht abgehalten werden kann. Er habe von mehreren Schulen gehört, dass sie ihre Stundentafel nicht mehr abdecken können, sagt Tom Erdmann, Vorsitzender der Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Vor allem an Sekundarschulen in benachteiligten Gebieten sei der Lehrermangel eklatant. “Es ist eine Möglichkeit für die Schulen, sich ein Stück weit ehrlich zu machen.”

“Die Schüler mit Förderbedarf erleben seit Jahren, dass bei ihrem Anspruch zuallererst gekürzt wird.”

Gewerkschafter Tom Erdmann

 

Bislang habe die Bildungsverwaltung stets eisern an den Pflichtstunden festgehalten. Stattdessen sei bei den Förderstunden für Kinder mit Inklusionsbedarf gekürzt worden. “Wir haben immer kritisiert, dass die heilige Kuh Stundentafel in Zeiten des absoluten Lehrkräftemangels völlig unangemessen ist”, sagt Erdmann. Die Kürzungen dürften aber nicht einseitig zulasten der Inklusion gehen. “Die Schüler mit Förderbedarf erleben seit Jahren, dass bei ihrem Anspruch zuallererst gekürzt wird.”

Eine Einschätzung, die auch von der Schulleiter-Vereinigung der Integrierten Sekundarschulen geteilt wird. “Jetzt wurde von der Senatsverwaltung einmal ausgesprochen, was in der Praxis bisweilen notwendig ist”, sagt Vorstand Sven Zimmerschied. “Es gibt manchmal Schuljahre, wo man ein besonderes Fach nicht oder nicht für alle Klassen anbieten kann. Wenn Sie partout keinen Physiklehrer haben, können Sie eben keine Physik anbieten.” Meist handele es sich hier aber um Übergangsphasen, schränkt Zimmerschied ein. Zudem seien nicht alle Schulen in gleichem Maße betroffen.

Auch für den Landeselternausschuss sind Pflichtstundenkürzungen nach den Worten ihres Vorsitzenden Norman Heise “nicht unbedingt ein Tabubruch”. “Wir fordern, dass zu dem Thema ein Runder Tisch mit Schulleitungen, Schülervertretern und Eltern einberufen wird, der sich gemeinsam darauf verständigt, wo gekürzt werden darf – und wo auf keinen Fall”, sagt Heise. „Anderenfalls befürchten wir ein individuelles Vorgehen der Schulen, was zu Ungerechtigkeiten führen kann.“

Gemeinsame Verständigung gegen Ungerechtigkeiten

Er fürchtet, dass es vor allem unterbesetzte Schulen in sozial schwieriger Lage sein werden, denen es nicht mehr gelingt, die Stundentafel abzudecken. “Daher ist es so wichtig, dass es eine gemeinsame Verständigung gibt, damit es nicht zu solchen Ungerechtigkeiten kommt.”

Ein Anliegen, das auch die SPD-Fraktion umtreibt. “So, wie es jetzt vorgesehen ist, dürfen Schulen, die ein Defizit haben, Pflichtstunden kürzen. Das führt dazu, dass die ohnehin benachteiligten Schulen jetzt auch qualitativ ihrer Unterrichtsverpflichtung nicht nachkommen können”, sagt Bildungsexpertin Maja Lasic. “Das Gefälle zwischen den Schulen wird dadurch noch weiter verstärkt.”

“Eine abgespeckte, aber verlässliche Stundentafel ist besser als dauernder Ausfall und fachfremde Vertretung.”

Louis Krüger, Bildungsexperte

 

Besser wäre es aus Lasics Sicht, wenn die Senatsverwaltung die Steuerung in die Hand nehmen und die Stundentafel auf gesamtstädtischer Ebene verschlanken würde. Die so eingesparten Lehrerstunden könnten dann anders verteilt werden. “Es können dann eben nicht alle Lehrkräfte an Gymnasien in gutbürgerlicher Lage kommen. Dadurch verschieben sich Lehrkräfte in benachteiligte Gebiete.”

Systematisch weniger Unterricht für zukünftige Generationen

Ein Weg, den auch Grünen-Bildungsexperte Louis Krüger unterstützt. “Eine abgespeckte, aber verlässliche Stundentafel ist besser als dauernder Ausfall und fachfremde Vertretung”, sagt Krüger. “Auch im Sinne der Bildungsgerechtigkeit ist das richtig, denn eine geregelte Stundenreduzierung ist gerechter als Förderstunden zulasten der Schwächsten zu streichen.” Um die Folgen des Unterrichtsausfalls abzufedern, müsse der Senat alternative Bildungsangebote schaffen. “So kann aus einer ausfallenden Kunst-Stunde ein Besuch in der Jugendkunstschule werden.”

Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, bezeichnete eine mögliche Pflichtstundenkürzung als “Überschreiten einer roten Linie”. Es sei “erschütternd, wohin uns die Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte geführt hat”. Gekürzte Unterrichtsstunden würden auch zukünftige Schüler nicht zurückbekommen. “Es bedeutet systematisch weniger Unterricht für zukünftige Generationen. Dem können wir nicht zustimmen.”

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