24. November 2024

Unzureichender Leseunterricht

Nach den PISA-Ergebnissen fordert Condorcet-Autor Urs Kalberer die Verantwortlichen auf, endlich mit fragwürdigen Schulexperimenten aufzuhören und den Leseunterricht zu verbessern.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer und Linguist, wies schon früh nach: “Besser spät und konzentriert als früh und verzettelt.”

Kurz nach Bekanntgabe der PISA-Leseleistung der Schweizer Schüler wurden schon die ersten Spekulationen über die Ursachen des Debakels herumgeboten: Es fehle an Frühförderung beklagte sich Dagmar Rösler vom LCH, EDK-Präsidentin Steiner identifizierte die Eltern, welche nicht mehr mit den Kindern lesen, als Hauptgrund, die vornehmlich weibliche Lehrerschaft könne die Buben nicht zum Lesen motivieren, sagten andere. Wieder andere kritisierten den PISA-Test selbst und forderten gar einen Ausstieg. Die grundsätzliche Kritik an PISA ist sicher gerechtfertigt, denn PISA misst nur das, was man messen kann, und zwar normiert und vereinheitlicht für alle Teilnehmer. Dabei nimmt PISA keine Rücksicht auf nationale Lehrpläne, wichtig ist nur, was auch gemessen und getestet werden kann.

Lesen und das Leseverständnis bilden zusammen mit dem Schreiben und Rechnen einen der Grundpfeiler der schulischen Bildung.

Lesen und das Leseverständnis bilden zusammen mit dem Schreiben und Rechnen einen der Grundpfeiler der schulischen Bildung. Lesen ist also nicht irgendeine Kompetenz wie Hunderte anderer, wir erwarten, dass die Schüler bei Schulaustritt lesen können. Ausserdem lässt sich verlässlich feststellen, ob ein Text verstanden wurde. Die Fähigkeit, Geschriebenes zu verstehen, ist zentral für die persönliche Entwicklung der Menschen, für die wirtschaftliche Potenz unseres Landes und für das Funktionieren unseres politischen Systems.

Es wäre fahrlässig, auf diese Daten zu verzichten

Wenn wir die PISA-Aufgaben mit den im Lehrplan 21 aufgelisteten Kompetenzen vergleichen, stellen wir weitgehende Übereinstimmung im Bereich von 80 Prozent der verlangten Fähigkeiten fest. Diese hohe Kongruenz lässt Aussagen zum Schweizer Leseunterricht zu. Auf diese Daten zu verzichten, wäre also fahrlässig.

Die Resultate zeigen, dass 24 Prozent (2015: 20 Prozent) der Schweizer Schulabgänger im sechsteiligen Kompetenzniveau-Raster unterhalb des Niveaus 2 liegen. Diese Jugendlichen verstehen die wörtliche Bedeutung von Sätzen nicht. Sie verstehen auch die Hauptaussage oder den Zweck eines Textes nicht. Wenn wir zur Gruppe dieser Schüler noch diejenigen mit dem Leistungsniveau 2 dazunehmen, erreichen wir 47 Prozent aller getesteten Schweizer Schüler. Das heisst also, dass knapp die Hälfte der Schulabgänger weit entfernt von den auch im Lehrplan 21 verlangten Kompetenzen liegt.

Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Knaben wurden grösser

Ebenfalls vergrössert hat sich der Unterschied zwischen Mädchen und Buben. Dieser beträgt nun 31 Punkte (2015: 25 Punkte). Hätten nur Mädchen den Lesetest absolviert, läge die Schweiz vor Norwegen auf Platz 19. Wären nur Buben zum Test gegangen, läge die Schweiz knapp vor der Türkei auf Platz 39. Bei solch markanten geschlechterspezifischen Unterschieden stellen sich natürlich Fragen zum Unterricht und zur Chancengerechtigkeit.

Der Unterschied zwischen Mädchen und Knaben bei den Leseleistungen hat sich vergrössert.

Die Begründungen, mit denen uns die Bildungselite das Debakel erklären will, gehen dem Offensichtlichen aus dem Weg: Der hiesige Leseunterricht ist schlicht unzureichend. Er begnügt sich zu oft mit simplen Verständnisfragen und fordert generell zu wenig vertieftes Verständnis von Textzusammenhängen. Zusätzliche Frühförderkurse oder mehr Elternarbeit können deshalb das Problem nicht lösen. Die Verantwortlichen in Lehrerbildung und Bildungspolitik sind gefordert, endlich ihre Verantwortung wahrzunehmen und nicht mehr länger zuzuschauen, wie eine ganze Schülergeneration für fragwürdige Experimente (Stichworte: Integration und Sprachenkonzept) missbraucht wird.

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