Grundlage: Die Humanistische Psychologie
Seit den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts dominieren Trainer(innen) und Erwachsenenbildner(innen) die Weiterbildung in Teamentwicklung Sie berufen sich auf Verfahren der Humanistischen Psychologie: Ruth Cohns Themenzentrierte Interaktion, Eric Bernes Transaktionsanalyse, Perls’ Gestalttherapie, Friedemann Schulz von Thuns Kommunikationsanalyse, etc.
Die Humanistische Psychologie im Gefolge des amerikanischen Psychiaters Carl Rogers bildet die Grundlage. Das zwanzigste Jahrhundert könnte man auch als die Epoche bezeichnen, in der die Psychologie als Erklärungsmuster für menschliches Denken und Handeln den Siegeszug angetreten hat.

Siegmund Freud führte das Unbewusste in die Seelenkunde ein. Das menschliche Fühlen, Denken und Handeln wird nicht nur von bewusst getroffenen Entscheidungen, sondern stark von unbewussten, verdrängten oder verschütteten Trieben oder von Erlebnissen und deren seelischen Folgen bestimmt. Viele Menschen können sich deshalb nicht voll entfalten, Neurosen schränken sie ein, behindern sie in ihrer Entwicklung und machen sie unglücklich.
Neurosen und ihre Therapie
Psychiater entwickelten Therapien, um Neurosen zu behandeln. Im Unterschied zu Depressionen und Psychosen gelten Neurosen als heilbar: Traumdeutungen, Hypnose, geführte Gespräche über Erinnerungen an Kindheit, heimliche Wünsche, Kriegserlebnisse, intimste Erfahrungen erlaubten den geschulten Ärzten die im Unterbewusstsein schlummernden Gefühle ins Bewusstsein zu heben und die Patienten von ihren Belastungen zu befreien. Oft gelang das nur durch jahrelange therapeutische Begleitung der Leidenden in regelmässigen Therapiegesprächen.
Diese Therapieform bedeutete jedoch, dass ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Therapeuten und den Klienten bestand: Die behandelnden Fachleute interpretierten und erklärten den Leidenden ihre Probleme und empfahlen Massnahmen zur Verbesserung der Situation. Carl Rogers versuchte einen neuen Ansatz, bei dem sich Arzt und Patient auf Augenhöhe begegnen und scheinbar gleichberechtigt agieren sollten: die Humanistische Psychologie war erfunden. (1)

Rogers nannte seine Methode «das nicht direktive Klientengespräch». Die Patienten sollten durch «aktives Zuhören» dazu gebracht werden, ihr Inneres zu öffnen und selbst die Erkenntnis zu erlangen, die ihnen in der herkömmlichen Therapie als Diagnose von den Therapeuten gestellt worden war. Das aktive Zuhören besteht darin, die Äusserungen und Gedanken der Klienten verstehend aufzunehmen, zu wiederholen, in einer Weise, die die Klienten zur Erweiterung und Vertiefung oder zur Präzisierung ermuntert, sich jedoch jeder Kommentierung, Deuterei oder Besserwisserei enthält, um die Gesprächsbereitschaft nicht abzublocken.
Teamentwicklung als Therapie
Das klientenzentrierte Therapiegespräch diente nun Rogers’ Schülerin Ruth Cohn und weiteren Nachfolgern als Muster für eine verbesserte Kommunikation in Gruppen, wie z.B. Lehrpersonenkollegien. Sie entwarf Verhaltens- und Gesprächsregeln, die die Kommunikation friedlicher, gleichzeitig effizienter machen sollten. Hier einige Beispiele aus ihrer Themenzentrierten Interaktion (TZI), die beispielhaft für diese Teamentwicklungsmodelle stehen (2):
– Anstatt im Allgemeinen zu sprechen, sollten die Teilnehmenden Ich-Botschaften aussenden, nicht man, sondern stets ich sagen.
- Äusserungen der andern sollten sie nicht wertend kommentieren, sondern formulieren, wie diese auf sie selbst gewirkt haben, welche Gefühle sie auslösen.
- Differenzen sind als Störungen zu betrachten, Störungen müssen vorrangig zum Thema gemacht werden, bevor weiter am Sachthema gearbeitet wird: «Störungen haben Vorrang.»
- Es gibt keine Abstimmungen mit Mehrheiten und Minderheiten, die Gespräche müssen zum Konsens führen.
- Zur Erarbeitung der Themen dienen Stellwände, auf die verschiedenfarbige Poster aufgeklebt werden und von den Teilnehmenden mit Filzstiftpunkten nach ihrer Beurteilung gewichtet werden.
- Die Individualität der Teilnehmenden muss überwunden und in ein Wir-Gefühl überführt werden, dies garantiere die Effizienz und Qualität der Arbeit.
- «Blitzlichter» sollen in Gesprächen immer wieder dazu dienen, die jeweilige Gefühlslage der Teilnehmenden einzuholen: «Was macht das mit dir?»
- Ein Chairman (Coach) sollte die Gespräche führen und auf die Einhaltung der Regeln achten.
Zugrunde liegt ein höchst idealistisches Menschen- und Gesellschaftsbild: Freiheit, Offenheit, Selbstentfaltung, Sinnfindung, Menschenwürde, Gleichberechtigung, Einsatz für die Gemeinschaft, ökologisches Bewusstsein. Bei der humanistischen Teamentwicklung läutern sich die Teilnehmenden gleichzeitig therapeutisch von hindernden Vorstellungen, arbeiten anderseits im harmonischen sozialen Umfeld an den gewählten Themen: Therapie und höhere Effizienz vereint, unter Anleitung einer Coach-Person.
Zurück in der Realität des Alltags sind sie jedoch bald enttäuscht, dass die Welt nicht ganz so «humanistisch» geprägt ist, wie sie es im Kurs erlebt und geübt haben.
Wirkung auf die Teammitglieder
Viele Lehrpersonen, die solche Weiterbildungen erleben, sind beeindruckt, lernen einander besser kennen, werden vom umhüllenden Wir-Gefühl erfasst, erkennen neuen Sinn in ihrer Arbeit und lassen sich gerne vom scheinbar überlegenen Chairman leiten. Zurück in der Realität des Alltags sind sie jedoch bald enttäuscht, dass die Welt nicht ganz so «humanistisch» geprägt ist, wie sie es im Kurs erlebt und geübt haben. Frust stellt sich ein, wenn sich das Kollegium oder die Vorgesetzten nicht so verhalten, wie die Kurse vorgeben. Sie sehnen sich nach Wiederholung der Weiterbildung. Manche entwickeln eine richtiggehende Sucht danach, belegen immer wieder Kurse in Teamentwicklung.
Damit ist ein Problem der «Teamentwicklung» angesprochen. Das Wir-Gefühl kann Abhängigkeit erzeugen, das derjenigen in Sekten gleicht. Zurück in der Realität des Alltags sind sie jedoch bald enttäuscht, dass die Welt nicht ganz so «humanistisch» geprägt ist, wie sie es im Kurs erlebt und geübt haben. So musste ich denn von einem Absolventen der TZI hören: «Eigentlich kann ich mit jemandem, der die Kurse nicht besucht hat, gar nicht mehr reden und umgehen.» Es ergibt sich die tragische Situation, dass eine Ruth Cohn, die vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland flüchten musste, in bester humanistischer Absicht eine Methode entwickelte, die in den Händen anderer wieder zur Einbindung des Individuums in eine doktrinäre Anschauung führte.
Nicht alle Coaches sind ausgebildete Psychologen mit universitärem Hintergrund. Berufsleute aller Art können Kurse in Erwachsenenbildung besuchen und entsprechende Weiterbildungen in Teamentwicklung leiten.
Weitere Kritikpunkte
Nicht alle Coaches sind ausgebildete Psychologen mit universitärem Hintergrund. Berufsleute aller Art können Kurse in Erwachsenenbildung besuchen und entsprechende Weiterbildungen in Teamentwicklung leiten. Diese klammern sich dann an die methodischen Tricks, die sie gelernt haben, können aber schnell einmal überfordert sein, wenn sich Teilnehmende quer zum Gelernten verhalten. Wenn einem Coach z.B. die Abstraktionsfähigkeit abgeht, Voten von Teilnehmenden zusammenzufassen, oder abweichendes Verhalten zu durchschauen, läuft eine Weiterbildung schnell ins Leere.
Die meisten Lehrpersonen gehören dem gebildeten Mittelstand an. Sie beherrschen den elaborierten Code, sind Profis im Argumentieren und können sich sprachlich schnell an die Kommunikationsregeln anpassen.
Die meisten Lehrpersonen gehören dem gebildeten Mittelstand an. Sie beherrschen den elaborierten Code, sind Profis im Argumentieren und können sich sprachlich schnell an die Kommunikationsregeln anpassen. Gleichzeitig ändern sie ihre Grundeinstellung und ihren Charakter nicht. Stattdessen entwickeln einige von ihnen kreative Techniken, um ihre Persönlichkeit dennoch in den humanistischen Sprachfloskeln zum Durchbruch zu bringen: Der Intrigant bleibt Intrigant, der Angeber bleibt Angeber, der Duckmäuser bleibt Duckmäuser, der Linke bleibt ein Linker, der Rassist bleibt Rassist, der Dominante bleibt dominant und wird sich durchsetzen, auch wenn alle in Engelszungen reden.

Teamentwicklung geht von der gewagten Voraussetzung aus, jedes Teammitglied sei a priori therapiebedürftig. Dies zeigt sich darin, dass die Mitglieder nicht für voll genommen werden, sondern durch allerhand Spielchen und Mätzchen sich selbst erfahren und zur reifen Persönlichkeit gemacht werden sollen. Solche Reife ist dann erreicht, wenn sich die Mitglieder willfährig den methodischen Regeln unterziehen und das Menschen- und Gesellschaftsbild der Coaches unkritisch übernehmen. Es läuft letztlich auf eine Art Gehirnwäsche hinaus.
Erfolge und Misserfolge
Kursleitende verkünden gerne ihre Erfolge: Die Zusammenarbeit habe sich verbessert. Die Kollegien sässen häufiger zusammen und sprächen sich besser ab. Ziele seien effizienter erreicht worden. Die Arbeitszufriedenheit habe deutlich zugenommen. Die Kursleitenden müssen so argumentieren, denn schliesslich leben sie davon, weitere Engagements zu bekommen.
Die Erfolge sind allerdings nur schwer zu beweisen. Eine unabhängige Instanz müsste das Vorher und Nachher mit klaren Kriterien überprüfen. Sie müsste auch klären, wie nachhaltig die Veränderungen sind. Sie müsste andere institutionelle oder personelle Veränderungen, die sich möglicherweise positiv auswirkten, in die Betrachtung mit einbeziehen. Wie beurteilen betroffene Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern das Vorher und das Nachher?
Rolf Degen zitiert im «Lexikon der Psycho-Irrtümer» den Psychologieprofessor Dieter Frey, der nach mehreren Studien zum Schluss kommt: «Gruppen klammern sich in der Regel viel stärker an die ihnen genehmen Informationen, zweifeln weniger an der Richtigkeit ihrer Beschlüsse und schlagen häufiger triftige Gegenargumente in den Wind als Einzelpersonen.» Das Team scheint Menschen bornierter zu machen. Homogene Teams meiden Dissonanz, wichtige Abweichungen fallen unter den Tisch, da sie die kollektive Harmonie stören. Ferner erzeugen Teams eine «Verantwortungsdiffusion», d.h. eine Tendenz die Zuständigkeit auf andere abzuschieben. (3)
Fazit
Freys Erkenntnisse sind so ziemlich das Gegenteil dessen, was sich die Humanistische Psychologie unter Teamentwicklung vorstellte. Keine Frage: Zusammenarbeit ist wichtig und nötig. Erfolgreich ist sie unter Toleranten, ähnlich Gesinnten, aber frei Denkenden, die bereit sind, sich demokratischen Abläufen zu fügen. Hingegen führen ideologische Vorstellungen wie die von TZI und von ähnlichen Theorien nach kurzfristigen Höhenflügen zu keiner Verbesserung, sondern schränken die individuellen Möglichkeiten zur Entfaltung ein, womit echte Chancen vertan werden.
(1) Rogers, Carl R.: Die nicht-direktive Beratung, Counseling and Psychotherapy, 1942.
(2) Löhmer, Cornelia; Standhardt, Rüdiger: Themenzentrierte Interaktion (TZI). Die Kunst, sich selbst und eine Gruppe zu leiten. 1992
(3) Degen, Rolf: Lexikon der Psycho-Irrtümer. Warum sich der Mensch nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt, 2000.

