Felix Schmutz - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 30 Apr 2023 18:22:13 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Felix Schmutz - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die integrative Schule unter der Lupe https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-integrative-schule-unter-der-lupe https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/#comments Sun, 30 Apr 2023 12:50:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=13778

Condorcet-Autor Felix Schmutz entblättert das ständig zitierte Narrativ der vielen Studien, die den Wert der Integration bestätigen sollen.

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Felix Schmutz, BL:
Den Studien haften grundsätzliche Mängel an.

Verfechter der schulischen Integration von Kindern mit speziellen Bedürfnissen (KSB) verweisen gerne auf Studien, die beweisen sollen, dass KSB

  1. in Regelklassen weniger stigmatisiert würden als in separativen Angeboten,
  2. bessere schulische Erfolge erzielten, da sie von den nicht beeinträchtigten Kindern profitieren könnten.

Ferner wird behauptet, dass die nicht beeinträchtigten Kinder in integrierten Klassen nicht schlechter abschnitten als in nicht-integrierten, dass sie ausserdem aus der Anwesenheit der KSB sozial lernen könnten.

Gleichzeitig wird landauf, landab das Scheitern von zehn Jahren Integration festgestellt. Klassen seien oft nicht mehr führbar wegen der störenden Auffälligen, die heilpädagogische Unterstützung sei ungenügend. In BS will eine Initiative mit einer zeitweiligen Aufhebung der Integration Abhilfe schaffen.

Journalistische Beiträge schildern die unbefriedigende Situation, wobei der Tenor lautet: Integration sei an und für sich eine gute Sache, allerdings seien die Gelingensbedingungen nicht erfüllt, als da wären: mehr heilpädagogische Unterstützung, bessere Ausbildung und Vorbereitung der Regellehrkräfte, spezielle Lösungen für nicht integrierbare KSB.

 

Was sagt die Forschung?

Welche Folgerungen ergeben sich nun aber aus der Forschung zum Thema Integration der KSB in Regelklassen im Vergleich zur Beschulung der KSB in separativen Klassen? Welche Faktoren im Zusammenhang mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Kinder und mit unterschiedlichen organisatorisch-pädagogischen Massnahmen beeinflussen die Wirkung der Integration?

Erhellend ist folgende ausführliche Übersichtsstudie: «Die Auswirkungen der Inklusion auf schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen» von Nina T. Dalgaard et al., 2022. 1

Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend.

Es handelt sich um eine gründliche Analyse aller in Frage kommenden 20’183 Studien ab Jahr 2000, von denen 94 aus 19 verschiedenen Ländern in Betracht kamen. Lediglich 15 davon befriedigten qualitativ, 79 waren derart einseitig («biased»), dass die Resultate als irreführend angesehen wurden.

Das Autorenkollektiv stellt fest, dass den Studien grundsätzliche Mängel anhaften:

  1. Die Studien sind nicht randomisiert: d.h. KSB wurden nicht zufällig in separative oder inkludierende Klassen eingeteilt.
  2. Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend.
  3. Die Studien unterscheiden nicht zwischen den Typen von Beeinträchtigungen und den Arten von schulischen Integrationsmassnahmen. Damit werden Faktoren, welche die Wirksamkeit der Integration beeinflussen können, vernachlässigt.
  4. Eine umfassende Theorie zur Art und Weise der pädagogischen Integration fehlt bisher. Es besteht lediglich ein moralisch-politischer Imperativ, der den diskriminierungsfreien Unterricht für alle Kinder fordert. (Salamanca, 1994)

Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen.

Effektstärken der Integration und der Separation

Zur Frage der Effektivität der Integration kommen die Autorinnen und Autoren zu folgendem Schluss:

«Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Die Studien zeigen allerdings starke Ausschläge in positiver und negativer Richtung für beide Organisationsformen: «Während einige Kinder mit speziellen Bedürfnissen von der Platzierung in integrierten Klassen profitieren, können andere von einem traditionellen Unterricht in einem segregierten Umfeld profitieren.»3

Deshalb betont die Studie “die Notwendigkeit, Kinder mit spezifischen pädagogischen und psychosozialen Bedürfnissen individuell abzuklären, anstatt sie in einem Einheitsverfahren in Spezialklassen zu platzieren.»4

Im Übrigen plädiert die Studie für eine qualitativ bessere Forschung, die vermehrt auf die unterschiedlichen Typen von Beeinträchtigungen fokussiert.

Eigenes Fazit:

  1. Die Behauptung, Stigmatisierung werde in separativer Beschulung verstärkt und Lernfortschritte seien geringer, lässt sich in dieser allgemeinen Form nicht aufrechterhalten. Es gibt keine signifikanten Unterschiede zwischen Integration und Separation, wenn Studien auch in beiden Settings positive und negative Ausschläge verzeichnen, wofür die Gründe in noch nicht genügend erforschten Faktoren zu suchen sind.
  2. Die oft zitierten Studien werden einem strengen wissenschaftlich-methodischen Massstab nicht gerecht. Dies bedeutet, dass die Erfahrungen der Praxis ernsthafter zu gewichten sind, als dies bisher von Erziehungsfachleuten geschehen ist. Ideologischer Eifer sollte einer nüchternen Einschätzung der Wirkung von separativer und integrierter Beschulung je nach individuellen Bedürfnissen und organisatorischen-pädagogischen Möglichkeiten weichen.
  3. Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Die Wirkung der Integration auf diese Gruppe müsste ebenfalls seriös abgeklärt werden. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen.

 

1 Nina T. Dalgaard | Anja Bondebjerg | Bjørn C. A. Viinholt | Trine Filges:

The effects of inclusion on academic achievement, socioemotional development and wellbeing of children with special educational needs, VIVE—The Danish Centre for Social Science Research, Copenhagen, Denmark. Campbell Systematic Reviews. 2022.)

2  The effects of placing children with special needs in grades K]12 into inclusive educational settings are inconsistent. Findings from this review suggest that, in general, inclusion neither increases nor decreases learning and psychosocial adjustment of children with special needs in the OECD countries. (p.3)

3  while some children with special needs may benefit from inclusive educational placement, other children may benefit from traditional special education in a segregated setting. (p.4)

4  the need for an individual assessment of the specific child’s educational and psychosocial needs rather than a one-size-fits-all approach to placement in special education. (p.4)

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Verabschiedet euch von der Kompetenz! https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=verabschiedet-euch-von-der-kompetenz https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/#comments Mon, 06 Mar 2023 13:06:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13328

Der Diskurs, den der emeretierte Professor Franz Eberle mit seinem Beitrag über die Ideologisierung der Kompetenzorientierung (https://condorcet.ch/2023/02/wissens-versus-kompetenzorientierung-eine-unselige-polarisierung/ ) ausgelöst hat, geht weiter. Condorcet-Autor Felix Schmutz ruft Herrn Eberle die Herkunft des Begriffs in Erinnerung und mahnt einen Verzicht auf diesen an.

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Felix Schmutz, Baselland: Es geht um Messbarkeit.

Franz Eberle rechtfertigt seinen Kompetenzbegriff, fühlt sich missverstanden von Herrn Ladenthins Replik. Dabei vernebelt er die Herkunft des umstrittenen Konzepts und widerspricht sich auch selbst. Der Bildungsdiskurs sollte sich von diesem Schlagwort langsam trennen, denn es zeigt sich wieder einmal, wie beliebig es von verschiedenen Bildungsfachleuten interpretiert wird.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.

Der Philosoph Anton Hügli hat in seiner fundamentalen Analyse Was ist Kompetenz? darauf hingewiesen, dass der Begriff in der heutigen Bedeutung aus der Psychologie stammt. Der amerikanische Psychologe McClelland entwickelte ihn zu Beginn der Siebzigerjahre, um die Eignung von stellenbewerbenden Leuten für bestimmte Berufe zu eruieren, da das relevante Können mit dem bisher üblichen Intelligenztest zu wenig klar antizipiert werden konnte. Dabei ging es wie beim Intelligenztest immer auch um Messbarkeit. Aufgrund des Problemlösetests sollten Menschen berufliche Fähigkeit und Tauglichkeit zugeschrieben werden können. Nicht so sehr die Fähigkeit, eine einzelne Aufgabe zu lösen, als die Erfahrung, mit ähnlich gelagerten Aufgaben in geeigneter Weise umzugehen, was als Disposition bezeichnet wurde. Wichtig: Kompetenz ist ein Konstrukt, eine Qualitätszuschreibung, die von Autoritäten (Psychologen, Testinstituten) mehr oder weniger opportunistisch vergeben wird.

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden.

Einzug in den Bildungsdiskurs hielt der Begriff erst im Zusammenhang mit PISA. Die Vergleichbarkeit der Schulqualität musste mit einem wissenschaftlichen Messverfahren vollzogen werden. Die Stunde von Weinert, Klieme und andern pädagogischen Psychologen war gekommen, also von Leuten, die mehr von psychologischen Tests, aber weniger von Schule und Unterricht verstehen. Ihre Forschungen und Programme zielen deshalb hauptsächlich auf das, was im Unterricht herauskommen soll und wie dieses zuverlässig gemessen werden kann, anders gesagt auf den «Output».

Es entstand Panik

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden, nämlich derart, dass der Fokus in den Schulen von Anfang an auf Eignung und Tauglichkeit für bestimmte Zwecke gelegt werden sollte: die «Outputorientierung» war geboren. Daher der Auftrag, die Lehrpläne nicht mehr auf Inhalte und Lernziele auszurichten, sondern auf die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen.

Eberle nimmt Bezug auf die Lernziele (Mager, Bloom) und die entsprechenden Taxonomien in den Lehrplänen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Allerdings sind Lernziele und Kompetenzen nicht dasselbe: Lernziele beschreiben das Können, das ein inhaltliches Ziel erfordert, und zwar von der Sache her gedacht. Kompetenzen beschreiben die Dispositionen, personalen Fähigkeiten und Einstellungen, welche zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nötig sind. Der Unterschied liegt in der Perspektive: Lernziele sind didaktische Schritte, die zum Ziel führen. Kompetenzen sind mentale, psychisch-soziale und physische Möglichkeiten des Individuums, die als Grundlage für eine Leistung vorhanden sein müssen.

Es liegt deshalb schon in der Anlage des Konstrukts Kompetenz, dass Inhalte in dieser Betrachtungsweise zweitrangig sind. Kompetenzen sollen immer Bündel von Inhalten abdecken. Neben Ladenthin hat auch Konrad Paul Liessmann immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen.

Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Der Unterschied zwischen Lernzielen und Kompetenzen ist pädagogisch bedeutsam: Inhalte und Lernziele fokussieren in erster Linie auf fachliche Auseinandersetzungen, Problemstellungen, Lernprozesse, Gedächtnis, Verarbeitung und erst in zweiter Linie auf Anwendung. Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Die genannten Zusammenhänge lassen sich nicht mit Eberles Argumentation aus der Welt schaffen. Kompetenzen führen zu einer Verengung des Bildungsbegriffs, man mag es biegen und wenden, wie man will.

 

Anton Hügli, Was ist Kompetenz? Begriffsgeschichtliche Perspektiven eines pädagogischen Schlagworts, lvb.inform 2016/2017-03

 Rober F. Mager, Lernziele und Unterricht, Weinheim, Basel, 1978

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Die Lüge der digitalen Bildung https://condorcet.ch/2023/01/die-luege-der-digitalen-bildung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-luege-der-digitalen-bildung https://condorcet.ch/2023/01/die-luege-der-digitalen-bildung/#respond Sun, 15 Jan 2023 11:19:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=12877

Das ist der provokante Titel eines Buches von 2015, das 2020 bereits in der 4. Auflage erschienen ist und den ebenso streitbaren Untertitel trägt: «Warum unsere Kinder das Lernen verlernen.» Die beiden Autoren Gerald Lembke, Professor für Digitale Medien in Mannheim, und Ingo Leipner, Wirtschaftsjournalist, ernteten mit ihrem Buch heftigen Widerstand, der in Beschimpfungen gipfelte wie «vakuumversiegelte Hohlbirne». Und das, obwohl ihre Thesen durch einen Beitrag der Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt, Universität Bielefeld, untermauert werden. Der Condorcet-Blog hat bereits 2019 einen Yotube-Beitrag von Professor Lembke aufgeschaltet (https://condorcet.ch/2019/05/dr-gerald-lembke-digitales-lernen-risiken-und-chancen/). Condorcet-Autor Felix Schmutz hat nun das Buch gelesen und stellt es in diesem Beitrag vor.

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Condorcet-Autor Felix Schmutz

Worum geht es?

Die Bildungspolitik fordert den frühen Einsatz der digitalen Geräte und treibt diesen mit hohem finanziellem Aufwand voran. Im Wesentlichen stellen die Autoren dieser Forderung die kognitive Entwicklung der Kinder gegenüber und verfahren dabei wie bei einem Faktencheck: Sind die Bildungsziele und die Angebote der IT-Branche mit der Reifung des Gehirns überhaupt verträglich? Sie kommen zum wenig überraschenden Schluss: Nein, sie sind es nicht: «Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter» (S.8).

Rückgriff auf Piaget

Dazu rekapitulieren die Autoren die kognitiven Entwicklungsphasen, die Jean Piaget erforschte. Jede Phase ist durch bestimmte Verhaltensweisen gekennzeichnet, in denen Menschen in der Interaktion mit der Umwelt so genannte Schemata (Denkstrukturen) aufbauen. Die Menschen versuchen, ein erworbenes Schema auf neue Situationen anzuwenden. Wenn es gelingt, spricht Piaget von «Assimilation». Misslingt die Assimilation, braucht es «Akkommodation», damit neue Schemata entstehen können.

Die Entwicklung beruht auf der Auseinandersetzung mit der konkreten, realen Umgebung, mit Objekten und Menschen. Wichtig: Die Entwicklungsstufen dauern je nach Individuum verschieden lange. Sie setzen jeweils die vorhergehende Stufe notwendigerweise voraus. Piaget unterscheidet:

Stadium 1 (null bis 2 Jahre) sensomotorische Phase: Greifen, Saugen, Werfen, etc., Leben im Hier und Jetzt.

Stadium 2 (ca. 2 bis 7 Jahre) prä-operatorische Phase: Wahrnehmung von Vergangenheit und Zukunft, Vorstellung eigener Welten, magisches Denken, Egozentrismus, Fehlen von abstrakten logischen Operationen (z.B. Mengenerhalt der Flüssigkeit bei unterschiedlichen Gefässen).

Stadium 3 (ca. 7 bis 12 Jahre) konkret-operatorische Phase: Fähigkeit, sich von der reinen Anschauung zu lösen, logische Operationen bleiben weitgehend auf konkrete Objekte und Ereignisse beschränkt (Mengenerhalt bei unterschiedlichen Gefässen verstanden).

Stadium 4 (ab ca. 12 Jahren fortschreitend): formal-operatorische Phase: rationales Nachdenken über hypothetische Situationen und komplexe Probleme, Selbstreflexion.

Das Krabbeln, Greifen, Werfen, Springen, Laufen, Balancieren, Klettern, Erkunden der Umgebung und der Objekte bildet die Voraussetzung, dass Kognition aufgebaut werden kann, dass Neuroplastizität entsteht.

Bestätigung durch die Hirnforschung

Was Piaget durch vielfache Experimente herausfand, wurde von der Hirnforschung inzwischen verifiziert und vertieft.

Der Hippocampus ist vor allem an an der Bildung und Aufrechterhaltung von Gedächtnisinhalten sowie an Lernprozessen beteiligt.

Erste Erkenntnis: Die neuronalen Strukturen und Bahnungen des Gehirns entstehen durch motorische Betätigung und durch menschliche Interaktion. Die riesige Menge von Neuronen erhält erst durch die synaptische Vernetzung ihre Funktion fürs Denken. Das physiologische Zusammenspiel von Hormonen und Neurotransmittern bewirkt die Selbstorganisation, die Reifung des Gehirns, wobei jede neue Entwicklungsstufe zu einer Reorganisation (Fachausdruck: Kompensation, entspricht Piagets Akkommodation) des Netzwerkes führt.

Die kognitiven Fähigkeiten entstehen also nicht aus dem Nichts. Das Krabbeln, Greifen, Werfen, Springen, Laufen, Balancieren, Klettern, Erkunden der Umgebung und der Objekte bildet die Voraussetzung, dass Kognition aufgebaut werden kann, dass Neuroplastizität entsteht. «Daher wächst aus dem kindlichen «Greifen» das «Begreifen» im Jugendalter (S.219).

Zweite Erkenntnis: Emotionale Zuwendung ist ein weiterer entscheidender Faktor für die Reifung des Gehirns, insbesondere des Hippocampus und des Stirnhirns, das für die Steuerung und Kontrolle der Prozesse im Gehirn verantwortlich ist. Emotionen regen das Belohnungssystem an, welches durch die Ausschüttung von Dopamin Konzentration und Gedächtnisleistung fördert.

Dritte Erkenntnis: Der gesunde Schlaf sorgt für die Ordnung und Verankerung des Gelernten und Erlebten.

Die Lernpsychologie der digitalen Bildung

Befürworter des frühen Einsatzes digitaler Geräte huldigen – bewusst oder unbewusst – der behavioristischen Vorstellung, dass Lernen durch Reize ausgelöst wird, die in ein bestimmtes Verhalten münden. Was im Gehirn geschieht, ist für Behavioristen eine «black box». Hauptsache, es resultiert die erwünschte Kompetenz.

Die beste Vorbereitung auf das digitale Zeitalter ist nicht ein möglichst frühes Hantieren mit Laptops und Handys, sondern das Verschieben der digitalen Hilfsmittel auf das Alter 12+ und ein möglichst aktives, analoges und der Entwicklung entsprechendes Lernen während der ersten drei Phasen der Gehirnentwicklung.

Digitale Bildung versus Gehirnentwicklung

  1. Der Einsatz digitaler Medien im Vorschulalter hat den verheerenden Effekt, dass wertvolle Entwicklungszeit nicht der Aktivität im realen Lebensraum gewidmet, sondern mit virtuellen Reizen vertan wird. Dadurch entsteht ein Defizit an neuronalen Vernetzungen, das sich auf die spätere Denkfähigkeit negativ auswirkt, denn Wischen und Klicken genügen nicht, um Synapsen zu befeuern.
  2. Die von Bildungsverantwortlichen anvisierten Ziele «verantwortlicher Umgang mit digitalen Medien», «kritische Beurteilung der Inhalte», «Nutzung des vorhandenen Wissens im Netz», etc. sind zwar zu begrüssen und für ältere Jugendliche essenziell, sie sind aber für Kindergarten und Primarschule illusorisch, da die dafür notwendigen formal-operatorischen Fähigkeiten im Gehirn noch nicht zur Verfügung stehen.
  3. Das Argument, digitale Medien könnten reale Erfahrungen der Kinder erweitern und ihr Verständnis verbessern, stösst deshalb ins Leere, weil das Gehirn zu diesem Zeitpunkt virtuelle Eindrücke noch nicht genügend verarbeiten kann und die Zeit deshalb besser vollständig in Realerfahrungen und analoge Aktivität investiert werden sollte.
  4. Der Erfolg von Lernvideos, in denen Inhalte lustvoll und anschaulich präsentiert werden, wird überschätzt. Kinder sind emotional auf die persönliche Beziehung mit der Lehrperson angewiesen, ein angemessenes Lerntempo und ein angepasstes Verständnisniveau können nur durch die direkte Vermittlung garantiert werden. Selbst erwachsene Studierende ziehen aus diesem Grund reale Lernveranstaltungen digitalen Lernvideos vor.
  5. Die schnelle Abfolge von Reizen bei der digitalen Vermittlung des Lernstoffes überfordert einerseits die Aufnahmekapazität des kindlichen Gehirns, führt anderseits durch die ständige Faszination neuer Clips zu einer Übersteuerung des Belohnungssystems. Die Folgen sind Suchtverhalten, Konzentrationsmangel, Störung der Impulskontrolle, ADHS, körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen, kognitive Minderentwicklung.
  6. In Kindergarten und Primarschule beschränken sich die digitalen Kompetenzen letztlich auf Wischen und Bedienen (=am richtigen Ort klicken). Dadurch geht wertvolle Zeit verloren, um hoch präzise motorische Fähigkeiten genügend zu üben, wie sie z.B. für die Handschrift und fürs Zeichnen oder zum Lernen eines Instruments ausgebildet werden müssen. Anstatt den Grundstein für den reflektierten Umgang mit Computern durch die analoge Anbahnung kognitiver Fähigkeiten zu legen, setzt man diese viel zu früh voraus.
  7. Der IT-Branche ist es gelungen, Ängste zu schüren, dass die Schulen nicht genügend auf die digitale Welt vorbereiten. Es sei unerlässlich, schon ab Kindergarten mit digitalen Medien zu operieren. Die entstandene Bildungspanik hat jedoch blind gemacht für die pädagogisch-psychologischen Nachteile. Sie hat auch darüber hinweggetäuscht, dass es um enorme finanzielle Interessen geht, wenn IT-Konzerne ihre Hard- und Software den Schulen schmackhaft machen und die junge Generation frühzeitig in eine Abhängigkeit von ihren Produkten führen.

Die Autoren kommen deshalb zum Schluss, dass die beste Vorbereitung auf das digitale Zeitalter nicht ein möglichst frühes Hantieren mit Laptops und Handys ist, sondern das Verschieben der digitalen Hilfsmittel auf das Alter 12+ und ein möglichst aktives, analoges und der Entwicklung entsprechendes Lernen während der ersten drei Phasen der Gehirnentwicklung.

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Replik auf Geschichtsmosaik im 3D-Format – Sind solche Grossprojekte sinnvoll und ergiebig? https://condorcet.ch/2023/01/replik-auf-geschichtsmosaik-im-3d-format-sind-solche-grossprojekte-sinnvoll-und-ergiebig/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=replik-auf-geschichtsmosaik-im-3d-format-sind-solche-grossprojekte-sinnvoll-und-ergiebig https://condorcet.ch/2023/01/replik-auf-geschichtsmosaik-im-3d-format-sind-solche-grossprojekte-sinnvoll-und-ergiebig/#comments Fri, 06 Jan 2023 14:06:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=12826

Der Praxisbeitrag unseres Condorcet-Autors "Geschichtsmosaik im 3 D-Format" hat einige positive Reaktionen geerntet. Condorcet-Autor Felix Schmutz' Begeisterung hält sich in Grenzen. Er stellt in seinem Kommentar einige kritische Fragen.

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Felix Schmutz, Baselland: Der intendierte Lernstoff «Schweizer Geschichte» wird in Häppchen unterteilt,

Dafür spricht, dass die Jugendlichen zu eigenem Tun aktiviert werden. Sie müssen in eigener Verantwortung ihre Arbeit planen und durchführen: Sich Ziele setzen, Informationen beschaffen, diese verstehen und bearbeiten, daraus eine Präsentation generieren. Da sie in Gruppen arbeiten, lernen sie, sich über die Themen und Aufgaben zu verständigen. Sie lernen sich unter Zeitdruck zu organisieren. Gelingt das Projekt, ernten sie neben dem fachlichen Mehrwissen auch die Befriedigung, eine eigene Arbeit vorweisen zu können.

So weit, so gut und so schön. Welche Argumente schmälern die Begeisterung?

1. Der intendierte Lernstoff «Schweizer Geschichte» wird in Häppchen unterteilt, von denen die Lernenden eines herausgreifen und bearbeiten. Inwiefern erhalten sie dadurch ein kohärentes Bild von den Zusammenhängen der Entwicklung der Schweiz aus einem mosaikartigen Bündnissystem im Mittelalter zum modernen Bundesstaat im 19. und 20. Jahrhundert? Bleibt da nicht ein anekdotisch zusammengewürfeltes und unzusammenhängendes Mosaik im Gedächtnis? Man mag sich an das selbst bearbeitete Thema erinnern, jedoch kaum an die Präsentationen der andern Gruppen.

2. Jedes Thema steht in einem geschichtlichen, politisch-sozial-wirtschaftlichen Zusammenhang, der verstanden werden muss, um die Bedeutung der Ereignisse und das Handeln der Personen ermessen zu können. Diese Arbeit geht über das Copy-Paste-Verfahren aus Internetseiten heraus. Es ist fraglich, ob Jugendliche dieses Alters diese kognitiv anspruchsvolle Arbeit wirklich leisten können und ob wirklich ein sinnvoller Erkenntnisgewinn resultiert, der über das Basteln von Kartongebäuden und das Aufhängen von Fotos hinausgeht.

Wer vermittelt die Zusammenhänge?

Didaktisch stellt sich natürlich die Frage nach Sinn und Form des Geschichtsunterrichts in der heutigen Zeit:
1. Welche Geschichtsvorstellung soll in den Köpfen der Lernenden eigentlich entstehen?
2. Inwiefern können Kinder und Jugendliche in ihrer jeweiligen kognitiven Entwicklungsstufe geschichtliche Ereignisse, Zusammenhänge überhaupt verstehen und verarbeiten und wie soll dies didaktisch und methodisch berücksichtigt werden, ohne dass Überforderungen entstehen, die in das Urteil münden: «Geschichte und Politik interessieren mich nicht»?
3. Wie sollen historische Fakten gewichtet werden, welche Details sind wirklich bedeutungsvoll? Ist es wesentlich zu wissen, welche Kleider die Ägypterinnen der 10. Dynastie getragen haben, wie die Sandalen der römischen Soldaten beschaffen waren, wer 1938 wie viele Tore gegen Deutschland erzielte, aus welchen Kleinodien die Burgunderbeute bestand, wie genau die Dampfmaschine funktionierte? Oder sollte man wissen, was gemeint ist, wenn die Epoche Mittelalter erwähnt wird oder welche Veränderungen die Industrialisierung mit sich brachte oder welche Folgen die Kolonisierung der Kontinente Amerika und Afrika nach sich zog oder welche Bedeutung Napoleons Eingriff in die Politik der Schweiz hatte?
4. Wie nachhaltig soll das geschichtliche Wissen verankert werden? Soll man alles Durchgenommene gerade wieder vergessen dürfen, weil es letztlich nur zusammenhangsloses Detailwissen beinhaltet oder zu schwierig und langweilig ist?

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Michaela – The Power of Culture https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=michaela-the-power-of-culture https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/#respond Tue, 22 Nov 2022 19:17:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=12376

Die kämpferische Katharine Birbalsingh, Leiterin der Michaela-Schule in Londons «Brennpunkt»- Stadtteil Brent, veröffentlichte 2020 ein Buch, in dem ihre Lehrpersonen das pädagogische Konzept und die Praxis der Schule ausführlich darstellen. Gegen alle Bedenken und Widerstände der Mainstream-Pädagogik gelang es Birbalsingh und ihren Mitstreitern 2014, ihre auf traditionelle Werte ausgerichtete Sekundarschule zu eröffnen. Inzwischen erfüllt Michaela Standards, die sie im nationalen Vergleich zur fünftbesten Schule Grossbritanniens machen. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat das Buch gelesen. Die Redaktion legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass das zum Teil harte Disziplinarregime keineswegs auf Schweizer Schulen übertragbar ist. Unstrittig ist dagegen, dass die Rückbesinnung auf eine pädagogische Praxis, die wirkt und der Situation angepasst ist, erfolgversprechender ist, als die Wunschprosa mancher Bildungsexperten.

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Condorcet-Autor Felix Schmutz, Baselland

Der Titel «The Power of Culture” ist doppeldeutig: Mit «culture» ist einerseits die in der Schule umgesetzte, den Alltag bestimmende Philosophie gemeint, anderseits die Konzentration auf traditionell exemplarische Lerninhalte und Lernmethoden. Im Zusammenspiel ergibt sich, so der Tenor des Buches, eine machtvolle Wirkung auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die Lernenden finden trotz ihrer Herkunft aus benachteiligten Familien, aus einer Gegend mit Bandenkriegen und Messerstechereien zu erstaunlichen akademischen Leistungen, die ihnen sogar den Zutritt zu begehrten Studienplätzen eröffnen.

Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden.

Michaela tritt mit dem Anspruch auf, die fehlgeleiteten Reformen der letzten Jahre zu korrigieren. Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden: Kompetenzen, standardisierte Tests, schülerzentriertes Arbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Nachteilsausgleiche, Abschaffung der Hausaufgaben, Nachsicht bei Schwänzen seien Konzepte, die den Benachteiligten nicht geholfen hätten, sondern im Gegenteil dazu beigetragen hätten, ihre Chancen zu verringern.

Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing.

Katahrina Birbalsingh, Schulleiterin Michaela School, London: Die Bildungsforscher sollten auch von uns lernen.

Die Kolleginnen und Kollegen der Michaela-Schule begründen diesen bei Schulbehörden und Erziehungswissenschaftlern unbeliebten Standpunkt argumentativ überzeugend und präsentieren ihre Lösungen, um dem verhängnisvollen Matthäus-Effekt entgegenzuwirken:

 

  • Zentral ist der Gedanke, benachteiligten Kindern nicht mit einer Form von Nachsicht und Milde zu begegnen, die ihr soziales Fehlverhalten und ihre Lerndefizite entschuldigt. Damit würden sie von Anfang an als Opfer einer ungerechten Gesellschaft angesehen, ihre Lebensenergie, aus sich etwas zu machen, werde gleichsam erstickt, ihnen werde vermittelt, sie könnten ja doch nichts erreichen (victimhood). Vielmehr müssten sie ermutigt werden, trotz möglicher Nachteile das Beste aus sich zu machen, alles zu mobilisieren, was sie an sich selbst verändern und verbessern können und nach Höherem zu streben. Unabhängig von ihrem allfälligen Migrationshintergrund oder ihrer Religion sollen sie mit britisch-europäischem Gedanken- und Kulturgut vertraut gemacht werden, um sich fest in die einheimische Gemeinschaft einbetten zu können.

 

  • Daraus ergeben sich Konsequenz und Achtsamkeit im Schulbetrieb: Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing, Lärmen und Toben in den Gängen (Schweigepflicht beim Zimmerwechsel), Nichterledigen der Hausaufgaben. Verstösse werden täglich mit Nachsitzen (detention) oder Verweisen (demerits) geahndet. Die Lernenden werden ermuntert, freiwillig ihre I-Phones abzugeben (digital detox), stattdessen können sie einfache Natels beziehen, die keine Internetverbindung haben. Aus der Schule verbannt wird gewaltverherrlichender Rap, stattdessen ertönen über die Lautsprecher bei der morgendlichen Zusammenkunft (register) klassische Musikhäppchen. Eingefordert werden kameradschaftliches Benehmen und mündlich und schriftlich geäusserte Dankbarkeit (gratitude) gegenüber Lehrpersonen und dem schulischen Personal. Jeden Morgen erzählt die beauftragte Leitungsperson eine aufbauende Geschichte.

 

  • Was nach drakonischem Drill oder Indoktrination aussieht, wird jedoch kompensiert durch eine besondere Art der ständigen, individuell ausgerichteten Zuneigung und Förderung. Den Verweisen bei Fehlverhalten wird Lob gegenübergestellt bei Wohlverhalten, beim Erfüllen von Leistungsanforderungen, bei Fortschritten – und seien sie auch noch so gering. Strafen werden nicht ohne persönliche Gespräche verfügt. Bei fachlichen Schwierigkeiten werden bereitwillig Nachhilfe und Betreuung geleistet. Ermutigung und Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonen und Lernenden stehen bei Michaela an erster Stelle. Gemeinschaftsgeist und Individuum sollen auf diese Weise gleichgewichtig gestärkt werden (care for our pupils).

 

  • Die Lehrkräfte pflegen einen geführten Unterricht aus der Überlegung, dass die Lernenden wenig von zu Hause mitbringen und deshalb
    Where “working hard and being kind” are part of the curriculum.

    an die Inhalte herangeführt werden müssen. Der Lehrplan hält sich in allen Fächern an bewährte traditionelle Inhalte: Geschichtliche Epochen vor thematischen Längsschnitten, exemplarische literarische Werke (Shakespeare) vor modischer Betroffenheitsliteratur, Beherrschung der rechnerischen Grundoperationen vor Benützen des Rechners. Das Wissen wird schrittweise und systematisch aufgebaut, wobei darauf geachtet wird, dass sich die entscheidenden Inhalte sowohl langfristig einprägen (rote learning and inflexible learning) als auch vertieft und strukturiert für Anwendungen zur Verfügung stehen (flexible knowledge). Die methodischen Verfahren und die Formen der regelmässigen Überprüfung mit quizartigen Tests werden im Buch detailliert erläutert, auch um falschen Vorstellungen vorzubeugen.

 

  • Die Schule pflegt eine Kultur der offenen Klassenzimmer. Kolleginnen und Kollegen besuchen sich ständig unangekündigt gegenseitig im Unterricht und geben einander Anregungen, was sie gut finden oder was verbessert werden könnte. Birbalsingh zieht diese Offenheit und Ermutigungsform dem allgemein üblichen Qualitätsmanagement mit Zielvereinbarungen (targets) und dem Ausrichten von Leistungslöhnen oder Belohnungen vor. Die Zusammenarbeit wird durch intensive fachliche und pädagogische Austausch-Kolloquien gepflegt. Neue Angestellte werden von den Kolleginnen und Kollegen sorgsam eingeführt und mentoriert. So herrscht in der Michaela-Schule eine Art Unité de doctrine (alignment), die das Kollegium dauerhaft weiterentwickelt.

 

Die Zusammenfassung einiger Aspekte der Michaela-Schule zeigt auf, wie die öffentliche Schule einen Ausweg aus der Reformmanie finden könnte. Es ist gleichzeitig eine Rückbesinnung auf grundlegende erzieherische und inhaltliche Prinzipien wie auch eine Hinwendung zu einer betreuenden und fördernden Organisation. Nachdem 2020 die ersten Jahrgänge die Schule mit Erfolg verlassen haben, ist es noch zu früh, um abschliessend zu beurteilen, ob das Konzept von Michaela dauerhaft erfolgreich sein wird.

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Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf https://condorcet.ch/2022/09/erfolg-null-nur-ein-riesenleerlauf/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=erfolg-null-nur-ein-riesenleerlauf https://condorcet.ch/2022/09/erfolg-null-nur-ein-riesenleerlauf/#comments Wed, 28 Sep 2022 10:25:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=11762

Condorcet-Autor Felix Schmutz widerspricht dem Condorcet-Autor Alain Pichard, der in seinem Beitrag "Wo Vergleiche Sinn machen" mahnt, Vergleichsteste nicht pauschal abzulehnen. Die These, dass Vergleichsteste Rückschlüsse auf die Unterrichtsqualität geben können, stellt er in seiner Antwort in Frage.

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Felix Schmutz, Baselland: Mit statistischen Durchschnitten zu operieren, bringt wenig zu Tage über die Qualität der Instruktion.

Lieber Alain
Du beschreibst Leistungstests als eine Möglichkeit, durch den Vergleich Schwachstellen des Unterrichts aufzuzeigen und daraus Lehren für Verbesserungen zu ziehen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es funktionieren würde. Doch genau hier liegt das Problem.
Die sechs Schulstandorte der früheren Weiterbildungsschule Basel (8./9.Schuljahr) führten ab 2000 Vergleichsarbeiten in Deutsch, Mathematik und Französisch/bzw. Englisch durch. Wir Lehrpersonen brüteten über den Resultaten. An Stellwänden hingen die aufgeschlüsselten Leistungspunkte der einzelnen Klassen und die Vergleichswerte der anderen Standorte.

Feststellung 1:
Schon innerhalb der Klassen gab es grosse Unterschiede, etwa nach der Gauss’schen Kurve. Ausreisser nach oben und nach unten kamen fast in jeder Klasse vor.

Feststellung 2:
Zwei Parallelklassen, vom selben Mathematiklehrer unterrichtet, wiesen im einen Fall überdurchschnittliche Punktzahlen, im andern Fall unterdurchschnittliche auf. Pikanterweise waren es Klassen des Schulleiters!

Feststellung 3:
Tatsächlich erzielten einige Lehrkräfte über die Jahre hinweg durchschnittlich etwas bessere Leistungen als andere.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission

Kommentar zu 1:
Mit statistischen Durchschnitten zu operieren, bringt wenig zu Tage über die Qualität der Instruktion. Um den Erfolg des Unterrichts zu eruieren, müssten Leistungskurven bei denselben Lernenden über mehrere auseinander liegende Zeitpunkte hinweg erhoben werden. Das ergäbe eine Lernfortschrittskontrolle, die über die Wirksamkeit des Unterrichts, bzw. der Fördermassnahmen Aussagen zuliesse. Man könnte konkret aufzeigen, welche Methoden, Massnahmen und Materialien den Fortschritt bewirkten.

Kommentar zu 2:
Inwiefern kann die Lehrperson von sich selber lernen, wenn sie bei zwei vergleichbaren Gruppen mit demselben Unterricht unterschiedliche Resultate erzielt? Liegt es an der Beziehung Lehrer – Klasse, an der unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung der Klassen, an der unterschiedlichen kognitiven Ausstattung der Lernenden? Der Befund gibt nichts her über die Unterrichtsqualität.

Kommentar zu 3:
Eine heikle Aufgabe für Kollegium und Schulleitung. A und E freut es, wenn sie besser sind als B, C und D. Die drei Verlierer können die Erkenntnis, schlechter zu sein, auf verschiedene Arten verarbeiten: A und E machen nur Teaching to the Test oder betrügen. A und E haben bessere Klassen. B war längere Zeit krankheitsabwesend, C war im Militärdienst, D hatte unmögliche Eltern in seiner Klasse, etc.
Man stelle sich vor, die Schulleitung lobe A und E, ziehe B, C und D zur Rechenschaft und überzeuge sie, die Methoden von A oder E zu übernehmen. Ein Horror für das Klima im Kollegium! Was also tun? Das Problem vergesellschaften: ein externes Coaching beiziehen, Lektionen auf Video festhalten und analysieren, ein neues Schulleitbild kreieren, eine Nachhilfestunde mit Hatties «Visible Learning» veranstalten, mit Gruppen- und Plenumsdiskussionen und farbigen Punkten an Whiteboards, etc. All dies ist nicht frei erfunden, sondern hat tatsächlich so stattgefunden! Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf.

«Mensch, du musst dein Leben ändern.», nennt P. Sloterdijk den verbreiteten Optimierungswahn unserer Zeit, der uns vorgaukelt, wir könnten über unsere Grenzen hinauswachsen.

Letztlich stellt sich die Frage: Kann man aus untalentierten Lehrpersonen talentierte machen? Kann man aus wenig Motivierten Motivierte machen? Kann man aus Leuten, die mit Führungsaufgaben überfordert sind, Autoritätspersonen machen? Kann man fachlich Schwache zurück an die Uni oder die PH schicken, um ihre Lücken zu schliessen? Die Erfahrung zeigt: Nein, leider gibt es den Zauberstab nicht. Die Resultate werden bei der nächsten Vergleichsarbeit wieder ähnlich ausfallen. «Mensch, du musst dein Leben ändern.», nennt P. Sloterdijk den verbreiteten Optimierungswahn unserer Zeit, der uns vorgaukelt, wir könnten über unsere Grenzen hinauswachsen.

Vielmehr wurde die Schulleitung ausgewechselt, ein neues Konzept entwickelt. Gleichzeitig wurde der Teil des Lehrkörpers, der nicht ins Konzept passte, durch solche ersetzt, die willens und fähig waren, im bewussten Stil zu unterrichten.

Natürlich, wirst Du mir entgegnen, gibt es das Narrativ von den wundersamen Verwandlungen von Brennpunktschulen in Vorzeigeschulen.
Allerdings sind solche Erfolge nicht dem Lernen aus Vergleichen geschuldet: Vielmehr wurde die Schulleitung ausgewechselt, ein neues Konzept entwickelt. Gleichzeitig wurde der Teil des Lehrkörpers, der nicht ins Konzept passte, durch solche ersetzt, die willens und fähig waren, im bewussten Stil zu unterrichten. Zahlreich sind die Beispiele, bei denen dies auch nicht funktionierte: Missstimmung im Kollegium, Elternproteste, politische Auseinandersetzungen, Kündigungen, Auswechseln der Schulleitung, etc.

Fazit: Irgendjemand müsste erstens ganz konkret darlegen, inwiefern Vergleichsarbeiten, unabhängig vom Einfluss anderer Faktoren, tatsächlich Unterschiede in der Unterrichtsqualität zulassen und zweitens, welche konkreten Schlüsse aus Vergleichen zur Verbesserung des Unterrichts gezogen werden können.

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Selbstständigkeit in der Schule https://condorcet.ch/2022/08/selbststaendigkeit-in-der-schule/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=selbststaendigkeit-in-der-schule https://condorcet.ch/2022/08/selbststaendigkeit-in-der-schule/#comments Mon, 08 Aug 2022 06:05:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=11163

Condorcet-Autor Felix Schmutz nahm den Bericht zweier Eltern (https://condorcet.ch/2022/08/die-volksschule-als-tollhaus-erlebnisbericht-eines-elternpaars/, 2.8.22) zum Anlass, über Selbständigkeit im Unterricht nachzudenken.

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Felix Schmutz, Baselland:
Selbstständigkeit muss strukturiert entwickelt werden.

Im  Artikel «Die Volksschule als Tollhaus» bezweifeln die Eltern-Autoren, dass das Postulat der Erziehung zur Selbstständigkeit erreicht wird mit den Methoden, die sie in der Schulpraxis beobachten konnten. Die beschriebenen Situationen deuten darauf hin, dass das Ziel «Selbstständigkeit» eher eine Ausrede für Laissez-faire, Gleichgültigkeit, Unfähigkeit oder ideologische Verblendung der Unterrichtenden war.

Begriffsklärung

Was soll man unter Selbstständigkeit verstehen? Gemeint ist wohl ein Verhalten, welches darin besteht, Aufgaben eigenständig anzugehen und verantwortungsbewusst zu meistern. Wer ohne Zutun der Eltern zu Hause nach der Schule seine Hausaufgaben nach besten Möglichkeiten ordentlich löst, gibt ein Beispiel von Selbstständigkeit.

Selbstständigkeit rückt damit in die Nähe des aufklärerischen Begriffs «Mündigkeit», mit dem Kant operiert hat. Selbstständigkeit liesse sich somit als Vorstufe der Mündigkeit definieren, auf die erzieherische Arbeit in der Schule hinführen soll.1

Selbstständigkeit gibt es in unterschiedlicher Qualität: Bestimmte Handlungen wie Schuhbinden, Trottinettfahren eigenständig auszuführen, gehört in die Kategorie der erworbenen Techniken, welche die notwendige erste Stufe der Selbstständigkeit bildet. Das eigenständige Lösen von komplexeren Aufträgen und Aufgaben, welche Planung, Organisation und Gestaltungs- und Meinungsfreiheit erfordern, bildet die zweite, anspruchsvollere Stufe. Mündigkeit wäre die dritte Stufe der Selbstständigkeit, bei der eigenverantwortliches Denken und Handeln ohne erzieherische Begleitung erfolgt.

Selbstständigkeit liesse sich somit als Vorstufe der Mündigkeit definieren, auf die erzieherische Arbeit in der Schule hinführen soll.

Allerdings ist die Möglichkeit von Selbstständigkeit im Schulalter offensichtlich begrenzt. Um Aufträge selbstständig erledigen zu können, müssen diese in Schwierigkeit, Komplexität und Umfang der Altersreife, dem fachlichen Vorwissen, dem Allgemeinwissen angepasst sein. Im Hinblick auf «Mündigkeit» kann sich Selbstständigkeit zudem nur entwickeln, wenn innerhalb eines gesteckten Rahmens genügend Spielraum gewährt wird.

Selbstständigkeit kann man nicht generell lernen, sie ist an die Zusammenhänge gebunden, in denen sie erworben wird und lässt sich nicht immer leicht auf neue Zusammenhänge übertragen. Wer grosses Bastelgeschick hat und selbstständig Geschenke für die Verwandtschaft herstellt, mag bei anderen Aufgaben, z.B. beim Lernen einer Fremdsprache, hilflos erscheinen und sich völlig unselbstständig verhalten.

Selbsttätigkeit: kein Selbstläufer

Auch ist Selbstständigkeit kein Selbstläufer, der durch den Stoss ins kalte Wasser mit ein bisschen Lehrgeld erlernt wird. Vielmehr brauchen Lernende je nach individueller Veranlagung oder früherer Erfahrung mehr oder weniger Anleitung, um sich selbstständig verhalten zu können. Manchmal mag schon Nachahmung eines beispielhaften Verhaltens als Anleitung genügen. In anderen Fällen muss das eigenständige Verhalten eng begleitet und schrittweise erworben werden.

Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass Selbstständigkeit ein erstrebenswertes Erziehungsziel der Schule ist, das jedoch ähnlich wie das Fachwissen sorgfältig und bewusst entwickelt werden muss und nicht einfach nebenher dem Zufall überlassen werden sollte.

Lehrpersonen müssen sich deshalb fragen, inwiefern ihre Art zu unterrichten und den Kindern und Jugendlichen zu begegnen, Selbstständigkeit aufbaut, fördert, unterstützt oder im Gegenteil lähmt, verhindert oder geradezu abwürgt. Dazu zwei Beispiele aus der Praxis:

1) Was Selbstständigkeit lähmt

Ein von sich selbst überzeugter, durchaus erfahrener Kollege gibt der neuen Klasse einen Projektauftrag: «Gebt eurer Gruppe ein Thema, bearbeitet es und präsentiert die Ergebnisse. Zeit: 4 Lektionen.» Die Lernenden sind jedoch mit der Projektmethode nicht vertraut. Die Aufgabe ist eine klassische Überforderung.

Was geschieht? Ein riesiges Chaos entsteht, an einigen Tischen kommt es zu lautem Streit. Der Frust ist nach kurzer Zeit spürbar. Jetzt kommt der grosse Moment des Kollegen. Er erhebt die Hand und ruft in beruhigendem Ton: «Halt, halt, halt. So geht das wohl kaum!»

Er hat das Chaos ganz bewusst provoziert und übernimmt jetzt die Rolle des Retters und Erlösers, indem er die entstandenen Energien kanalisiert, die Arbeiten detailliert strukturiert und vor allem ziemlich autoritär nach seinen Vorstellungen ausrichtet. Immer noch frustriert, von ihrer Unfähigkeit überzeugt, aber dankbar nehmen die Lernenden die Ratschläge an und führen sie aus. Was hat der Kollege erreicht? Anstatt zu selbstständigem Handeln anzuleiten, hat er die Klasse in die Abhängigkeit des grossen Steuermanns geführt. Gelernt wird: «Ich kann es nicht selbst, man muss mir zeigen, wie es geht.»

2) Was Selbstständigkeit fördert

Eine Kollegin plant einen Spielnachmittag mit ihrer Klasse, bei der die Lernenden gruppenweise Geschicklichkeitsspiele mit den andern durchführen sollen.

Die Strukturierung der Aufgabe führt dazu, dass kein Chaos entsteht und die Kinder sicher wissen, was von ihnen verlangt wird.

Zunächst lässt sie die Klasse im Plenum Ideen für Spiele sammeln und hält sie an der Wandtafel fest. Die Vorbereitung der Spiele wird an die Gruppen vergeben mit genauer Anleitung: Formuliert die Regeln, plant den Ablauf, verteilt die Aufgaben während des Ablaufes, welches Material wird benötigt, besteht Unfallgefahr?, etc.

Die Gruppenarbeit umfasst somit eine begrenzte Aufgabe, innerhalb derer Fantasie und Gestaltungsfreiheit möglich sind. Die Ergebnisse werden vorgestellt und gegebenenfalls angepasst und verbessert. Die Strukturierung der Aufgabe führt dazu, dass kein Chaos entsteht, die Kinder sicher wissen, was von ihnen verlangt wird, sie dennoch eigene Ideen einbringen können, dass sie also gefordert, aber nicht überfordert werden und dass ihre Arbeit sachlich aufbauend gewürdigt wird. Sie lernen eigenständiges, verantwortliches Handeln in einem vertretbaren Rahmen.

Fazit: Selbstständigkeit muss strukturiert entwickelt werden. Um es «neudeutsch» auszudrücken: «Empowerment» zur Selbstständigkeit ist gefragt. Dabei kommt es auf die Balance zwischen vorgegebenen Rahmenbedingungen, gewährter Gestaltungsfreiheit und aufbauendem Feedback an. Nicht einmal, sondern in verschiedenen Zusammenhängen muss Selbstständigkeit gelernt werden. Wer hingegen zu viel auf einmal einfordert, erzeugt Chaos, Hilflosigkeit und Abhängigkeit, genau das, was man eigentlich nicht will.

 

1 Immanuel Kant Was ist Aufklärung?, Berliner Monatsschrift, 1784: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Positiv ausgedrückt: Mündigkeit ist das Vermögen, selbstständig zu denken und zu handeln.

 

 

 

 

 

 

 

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Scheinheilig https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=scheinheilig https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/#respond Thu, 05 May 2022 14:21:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=10919

Condorcet-Autor Felix Schmutz reagiert prompt auf den Beschwichtigungsversuch der baselstädtischen Kommunikationsabteilung. Die nebulöse Zurücknahme der rigiden Kommunikationsvorgaben durch den Amtsvorsteher Urs Bucher (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) sei scheinheilig und verwedle die eigenliche Absicht.

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Felix Schmutz, Baselland:
Lehrkräfte sind auch Staatsbürger.

Simon Thiriet unternimmt einen Beschwichtigungsversuch, der wenig glaubhaft ist. Die Hierarchisierung der Schulorganisation, die Aufblähung der ED-Amtsstuben mit pädagogischen Mitarbeitern haben zu einer Gängelung der Unterrichtenden in ihrem Handeln geführt.

Die Weisung behandelt Lehrkräfte so, als wären sie Angestellte einer Firma. Das ist falsch!

Thiriet weiss natürlich, dass Lehrpersonen auch Staatsbürger sind, für die Meinungsfreiheit gilt. Die Weisung behandelt Lehrkräfte so, als wären sie Angestellte einer Firma. Das ist falsch! Lehrkräfte sind Fachleute, Experten auf dem Gebiet des Unterrichts und der Erziehung mit reicher Erfahrung. Davon hat ein Herr Thiriet keine Ahnung. Wenn Thiriet nun behauptet, Kritik medial zu äussern, sei möglich, wenn die Schulleitung davon informiert werde, wenn der Name der Schule verschwiegen werde, wenn die Kritik an die Schulleitung oder die Organe der Schulkonferenz geleitet werde, behandelt er die Lehrkräfte wie Kindergärtler. Seine Bedingungen schaffen Ungewissheiten und Hürden, die abschreckend wirken und die Beanstandungen versanden lassen sollen. Warum? Oft richtet sich die Kritik ja gerade gegen die von Behörden und Schulleitung vertretenen Positionen. Da geht es nicht um Baumfällaktionen oder Ping-Pong-Tische auf dem Pausenhof, sondern um pädagogische, didaktische oder schulorganisatorische Entscheide des ideologielastigen Erziehungsdepartementes. Kritische Einwände könnten das Bild einer harmonisch funktionierenden Schulwelt empfindlich trüben und die Eminenzen des ED-Apparats in Frage stellen. Nur darum geht es bei der zitierten Maulkorb-Weisung.»
Felix Schmutz, pens. Sekundarlehrer, Allschwil

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Was hat De Saussure mit dem Fremdsprachenerwerb zu tun? https://condorcet.ch/2022/03/was-hat-de-saussure-mit-dem-fremdsprachenerwerb-zu-tun/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=was-hat-de-saussure-mit-dem-fremdsprachenerwerb-zu-tun https://condorcet.ch/2022/03/was-hat-de-saussure-mit-dem-fremdsprachenerwerb-zu-tun/#respond Sun, 13 Mar 2022 12:34:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=10653

Frau Barbara K. Müller und Condorcet-Autor Felix Schmutz liefern sich einen Diskurs über den Fremdsprachenerwerb. Eine Kontoverse im besten Condorcet-Geist.

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Felix Schmutz, Baselland:
Ihr Standpunkt ist angesichts der riesigen Menge an Forschung schlicht nicht haltbar.

Liebe Frau Müller,

Gerne möchte ich auf Ihre im Kommentar geäusserte Kritik antworten

1. De Saussure kam zu meiner Studienzeit in allen Linguistik-Proseminaren vor, auch bei den Germanisten, denn De Saussure ist der Begründer des Strukturalismus, ja eigentlich der synchronen Sprachwissenschaft und der Semantik. Allerdings sind drei Begriffe wesentlich: langage (die menschliche Fähigkeit zur Sprache), langue (das abstrakte Einzelsprachensystem), parole (die reale sprachliche Äusserung) (vgl. z.B. Peter Ernst, Germanistische Sprachwissenschaft, UTB basics, 2004). In der Semantik schärfte Saussure den Blick für signifant und signifé, etc. Dass dies “im Deutschen ausgeblendet wird” ist schlicht nicht wahr. Allerdings haben sich Strukturalismus und Semantik natürlich weiterentwickelt. So schuf der heute hoch betagte Noam Chomsky in den 1950er Jahren die Begriffe Kompetenz (entspricht langage) und Performanz (entspricht parole), mit denen er die für die Computertechnologie entwickelte “Generative Transformationsgrammatik” erfand, mit deren Hilfe jede Sprache der Welt auf eine “Tiefenstruktur” zurückgeführt werden sollte, von der aus das Computerprogramm dann einen Text in jede beliebige andere Sprache (= Oberflächenstruktur) verwandeln konnte. Dies ist letztlich die Grundlage für die heutigen Übersetzungsprogramme.

Meine Frage an Sie ist nun lediglich: Was hat De Saussure mit dem Fremdsprachenerwerb und der entsprechenden Forschung zu tun?

  1. Sie setzen weiterhin den späteren Fremdsprachenerwerb mit dem frühen Erstsprachenerwerb gleich. Wie können Sie diese Behauptung aufrecht erhalten, wenn die Evidenz (Forschung wie Erfahrung) dagegen spricht? Ihr Standpunkt ist angesichts der riesigen Menge an Forschung schlicht nicht haltbar.
  2. Schon im nächsten Satz widersprechen Sie sich selbst. Die Laute werden offensichtlich mit dem Erstsprachenerwerb (die Forschung sagt: schon vor dem Sprechbeginn) gelernt. D.h. Schon die Lautung muss später anders gelernt werden. Gerade da zeigt sich die Sprachbegabung: Leute mit schauspielerischer Begabung können die “native speakers” fast perfekt nachahmen. So würden Sie meiner Frau nicht anhören, dass sie nicht Baslerin von Geburt ist, obwohl sie mit Zürcher Dialekt aufgewachsen ist und erst als Erwachsene in die Region gekommen ist. Bei anderen bleibt es bei einer “parole approximative”, die jedem verrät, welches seine Erstsprache ist, selbst wenn er Wortschatz und Grammatik sehr gut beherrschen sollte. Beispiel: Mein ehemaliger Englischprofessor in Basel, Rudolf Stamm, ein anerkannter Shakespeare-Forscher. Seine Vorlesungen waren Baseldeutsch mit englischen Wörtern und Strukturen, jeder Student und jede Studentin artikulierte idiomatischer!
  3. Der Test mit der Kunstsprache ist sinnvoll, weil er alle Probanden vor die gleiche experimentelle Situation stellt, keinem Erstprachigen einen Vorteil verschafft. Solche Tests werden auch zur Ermittlung der sprachlichen Intelligenz eingesetzt.
  4. Aus den Hypothesen zum Sprachenlernen lassen sich sehr wohl didaktische Ideen gewinnen, denn die Leute, die sie entwickelten, wählten jeweils einen Ansatzpunkt, der in gewissen Zusammenhängen durchaus fruchtbar sein konnte. So ist zum Beispiel das Task Based Language Teaching eine sehr effiziente Übungsform. Allerdings setzt sie andere Verstehens- und Übungsphasen voraus. Wenn sie, wie bei Passepartout viel zu früh eingesetzt wird, werden die Kinder überfordert und der Gewinn bleibt auf der Strecke. Falsch ist also lediglich, wenn eine Hypothese didaktisch verabsolutiert wird.
  5. Mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen mag kognitiv Begabten zunächst sehr einleuchten. Allerdings ist es sehr, sehr anspruchsvoll. Auch unsere Lehrer haben selbstverständlich auf Wort- oder Strukturverwandtschaften hingewiesen. Z.B. Der Englischlehrer: “She wanted us to burn the letter.” entspricht der lateinischen ACI-Kontruktion: “Ceterum censeo Carthaginem delendam esse.” Ob hingegen Primarschulkinder, die mit allerelementarsten Dingen kämpfen, schon wissen müssen, dass “gâteau” das fränkische “wastl” ist oder wie die Verneinung mit ne … pas in Suaheli gebildet wird, ist wohl stark übertrieben. Da muss erst noch jemand erklären, was das konkret für den Spracherwerb (das Sprechen der Fremdsprache) bringen soll. Im Übrigen ist vergleichende Sprachwissenschaft ein hochkomplexes Gebiet.

Mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen mag kognitiv Begabten zunächst sehr einleuchten. Allerdings ist es sehr, sehr anspruchsvoll.

  1. “Erfolgreich in Sprache zu sein, ist keine Begabung.” Das ist eine reine Behauptung, für die sie keinen wissenschaftlich fundierten Beleg anführen können. Allerdings gibt es genügend Evidenz für das Gegenteil: Siehe schon nur Punkt 3. Bei Berthele, Idry et al. können sie nachlesen, welche Faktoren in welchem Masse zum Erfolg beitragen und inwiefern auch Begabung hineinspielt.
  2. Der genetische Beitrag an die Fähigkeiten wird heute nicht mehr angezweifelt: So wie Körpergrösse, Augenfarbe, Krankheiten, etc. auf genetischen Anlagen und nichterblichen (erworbenen) Ursachen beruhen, trifft dies auch auf die Fähigkeiten zu: musikalisches Talent, sportliche Fähigkeiten, mathematischer Durchblick, Zeichentalent. Und natürlich trifft das auch auf die Eignung, Sprachen zu lernen zu. Wie hoch der jeweilige Anteil von Erbe und Umwelt (nature or nurture) ist, hängt von den Messverfahren und Berechnungen ab (vgl. Dieter E. Zimmer, Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung, 2012). Das heisst übrigens alles nicht, dass Kinder und Jugendliche nicht gefördert werden können, wenn sie nur mässige Begabung mitbringen. Das ist dann das didaktische Geschick der Lehrperson, das nötig ist, um die Betreffenden zu motivieren, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu entwickeln.
  3. Intelligenz und Sprachvermögen. Hier klingt für mich die Diskussion um die Sprachbarriere an: Je nach sozialem Status unterscheiden sich die Kinder bezüglich “restringiertem” und “elaborierten” Kode (Bernstein). Allerdings konnte gezeigt werden, dass die Kodes kein Indiz für Intelligenz darstellen. Kinder mit restringiertem Kode äussern sich situationsbezogen, knapp, mit Gesten und Verweisen, Kinder mit elaboriertem Kode äussern sich situationsunbhängiger, sie verpacken die Inhalte in komplexere sprachliche Gestalt. Beide können jedoch gedanklich dasselbe leisten. Plappern und Schweigen sind an und für sich auch noch kein Indiz für kognitive Fähigkeiten, sie sind zunächst Ausdruck von Intro- oder Extraversion: Beide können kognitiv stark oder schwach sein.

Mit freundlichen Grüssen

Felix Schmutz

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Individuelle Unterschiede beim Sprachenlernen in der Primarschule https://condorcet.ch/2022/03/individuelle-unterschiede-beim-sprachenlernen-in-der-primarschule/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=individuelle-unterschiede-beim-sprachenlernen-in-der-primarschule https://condorcet.ch/2022/03/individuelle-unterschiede-beim-sprachenlernen-in-der-primarschule/#comments Sat, 05 Mar 2022 07:15:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=10631

Der NZZ-Artikel vom 30.1.2022 von Patrick Imhasly zur Freiburger Studie von Berthele und Udry (Am Lehrer liegt es nicht) hat den Condorcet-Autor Felix Schmutz angeregt, die (auf Englisch abgefasste) Studie zu lesen. Im folgenden Beitrag versucht er, den über 200 Seiten dicken Wälzer zusammenzufassen im Hinblick auf das, was für Lehrpersonen interessant sein könnte.

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Felix Schmutz, Baselland: Die Nähe zur Zielsprache Französisch erzeugt keine bessere Lernmotivation.

Eine gross angelegte Studie zu Unterschieden beim Sprachenlernen in den 5. und 6. Klassen der Primarschule in der Schweiz legt eine Forschungsgruppe des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg vor (Berthele & Udry, 2021)1. Sie soll einen Beitrag leisten zur Diskussion um den Fremdsprachenunterricht, der im Zuge des Sprachenkonzepts der EDK in die Primarschule vorverlegt wurde und durch die Didaktik der Mehrsprachigkeit in neue Bahnen gelenkt wurde.

Ziel der Studie war es herauszufinden, welche Rolle folgende Faktoren beim Lernfortschritt (proficiency) in gegenseitiger Abhängigkeit über 2 Jahre spielen:

– die Eignung zum Sprachenlernen, die Sprachbegabung (language aptitude)

– die allgemeine Denkfähigkeit, die Intelligenz (cognition)

– die Kreativität

– die Motivation und weitere affektive Einstellungen

– die Schulsprache Deutsch

– die geografische Nähe zur Zielsprache

– der soziale und kulturelle Hintergrund der Lernenden

Mehrere Klassen aus Freiburger und Zürcher Primarschulen wurden dabei mehrmals getestet und befragt. Mittels statistischer Verfahren wurden die Ergebnisse sorgfältig analysiert und die Faktoren gegeneinander abgewogen.

Sie versuchen stets, voreilige Schlussfolgerungen bei Korrelationen zu vermeiden, um falscher Hypothesenbildung vorzubeugen.

Professor Raphael Berthele, Universität Freiburg: untersuchte die Wirksamkeit von Passepartout und war ein früher Warner vor der Frühfremdsprachen-Didaktik.

Die Autoren und Autorinnen erörtern ausführlich die bewährten Testverfahren, die sie benützt und teilweise an die Verhältnisse der Testgruppen angepasst haben. Ebenso detailliert schildern sie die statistischen Verfahren, die sie bei der Analyse der Ergebnisse angewandt haben. Sie versuchen stets, voreilige Schlussfolgerungen bei Korrelationen zu vermeiden, um falscher Hypothesenbildung vorzubeugen. Gleichzeitig gelingt es ihnen, Resultate aus anderen Studien mit ihren Befunden zu bestätigen, zu widerlegen oder in Frage zu stellen. Der englische Text wird durch die akribischen Details etwas sperrig, er bietet jedoch einige für Unterrichtende wissenswerte Resultate und relativiert gewisse Hypothesen der Mehrsprachigkeitsdidaktik.

Der grundlegende Ausgangspunkt der Studie, der in den ersten beiden Kapiteln ausgiebig diskutiert wird: Gibt es überhaupt Belege für das Konstrukt «Sprachbegabung» (language aptitude)? Die Forschenden beziehen sich auf einen von John B. Carroll 1958 entwickelten Test, der die Probanden eine künstliche Sprache lernen lässt und dabei folgende Fähigkeiten misst:

– die Fähigkeit, Laute zu erkennen (phonetic coding ability)

– die Fähigkeit, die Funktion einzelner Wörter im Satz zu erkennen (grammatical sensitivity)

– die Fähigkeit, sprachliche Regeln abzuleiten (inductive learning ability)

– die Fähigkeit, sich schnell Wörter einzuprägen (rote memory learning)

Carroll entwickelte den Test seinerzeit, um den potenziellen Erfolg der Lernenden voraussagen zu können.

 

Kinder mit guten analytischen Fähigkeiten profitieren eher von einem Unterricht, der Zusammenhänge erklärt.

Die Freiburger Studie verhilft im Zusammenhang mit der Sprachbegabung zu folgenden Einsichten:

  1. Tatsächlich unterscheiden sich die Kinder in der Eignung, Sprachen zu lernen. Die Sprachbegabung bleibt über die beiden Jahre stabil. Die Fähigkeit wird in diversen Studien zu ca. 50% auf genetische Ursachen zurückgeführt.
  2. Die Sprachbegabung korreliert signifikant mit der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit (0.64): Ein gutes Denkvermögen geht Hand in Hand mit einer guten Eignung zum Sprachenlernen.
  3. Trainingseinheiten zu den analytischen Sprachfähigkeiten scheinen die Sprachbegabung nicht merklich verbessern zu können (Berthele & Udry, S. 19).
  4. Kinder mit guten analytischen Fähigkeiten profitieren eher von einem Unterricht, der Zusammenhänge erklärt (explicit learning), während die andern eher von einem kommunikativen, auf Beispielen beruhenden Unterricht (modelling) profitieren. Die jüngeren Lernenden sprechen eher auf das «Modelling» an, während bei älteren das «Explicit Learning» mehr Vorteile bringt.

Die These der Mehrsprachigkeitsforscher, dass Lernende aus Migrantenfamilien, die bereits Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, leichter weitere Sprachen in der Schule lernen können, liess sich nicht durch statistische Signifikanz erhärten.

Welche Wirkung auf den Fremdsprachenerwerb in der Schule haben die übrigen Faktoren?

  1. Die intrinsische Motivation, der Arbeitseinsatz, das Selbstkonzept (eigene Ziele und Vertrauen in die eigene Fähigkeit) und die Abwesenheit von Ängsten sind weitere positiv mit der Lernleistung assoziierte Faktoren, während dies für die extrinsische Motivation (Ermunterung durch Eltern und Lehrpersonen) nicht zutrifft. Allerdings können extrinsische Faktoren (z.B. Karrierewünsche) von Individuen verinnerlicht und zu intrinsischen werden.
  2. Einige Faktoren erlauben zuverlässige Voraussagen über den künftig zu erwartenden Lernerfolg in Fremdsprachen: Intrinsische Motivation, Selbstkonzept, Blick für grammatikalische Zusammenhänge, Erkennen von Regeln, Lesefähigkeit Deutsch.
  3. Welche Rolle spielen Einkommen und kultureller Hintergrund der Eltern beim Englischlernen? Tatsächlich zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen kognitiver Stärke, Lernmotivation und dem sozioökonomischen Status der Eltern. Ein direkter Einfluss des Status auf das Sprachenlernen lässt sich jedoch nicht nachweisen.
  4. Die These der Mehrsprachigkeitsforscher, dass Lernende aus Migrantenfamilien, die bereits Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, leichter weitere Sprachen in der Schule lernen können, liess sich nicht durch statistische Signifikanz erhärten.
  5. Beflügelt Kreativität die Lernleistung in Fremdsprachen? Lernende, die mit der Methode des Task Based Language Teaching (z.B. die tâches in Mille Feuilles) (=Anwendungsaufgaben, die kommunikatives Handeln erfordern) unterrichtet werden, haben Vorteile, wenn sie kreative Begabung in die Waagschale werfen können. Fördert Kreativität die Motivation, Fremdsprachen zu lernen, insbesondere beim Unterricht nach TBLT? Dafür gab es keinen Nachweis, womit eine weitere Hypothese der Mehrsprachigkeitsdidaktiker nicht belegt werden kann.
  6. Die Nähe zur Zielsprache Französisch erzeugt keine bessere Lernmotivation als diejenige in weiter entfernten Gegenden. Ausserdem ist die Motivation, Englisch zu lernen, ungeachtet der geografischen Lage, bei den Lernenden signifikant höher als die Motivation, Französisch zu lernen.
  7. Innerhalb der Schuljahre 5 und 6 bleibt die Motivation für Englisch ziemlich konstant, hingegen nimmt sie für Französisch deutlich ab.

Für Unterrichtende mag enttäuschend sein, wenn die Studie dem schulischen Fremdsprachenunterricht nur beschränkte Erfolgsaussichten attestiert:

«Das Ausmass, in dem Schulbildung die Lernleistung überhaupt beeinflussen kann, scheint nicht so gross zu sein, wie Bildungsverantwortliche gerne möchten. Wie in Kapitel 5 gezeigt wird, wirkt sich der sozioökonomische Status, der vom Individuum nicht leicht verändert werden kann, stark auf die beiden Faktoren aus, die positiv, aber indirekt mit dem Leistungserfolg in der Fremdsprache verbunden sind (über die Konstrukte Kognition, Sprachtalent und affektive Einstellungen). Wenn die Annahme lautet, dass soziale Voraussetzungen kausal zu einem oder beiden dieser Konstrukte beitragen (und nicht umgekehrt), dann weist dies darauf hin, dass wesentliche Hürden für Lehrpersonen und Schulen bestehen, wenn sie die individuellen Voraussetzungen im Hinblick auf die beiden Konstrukte verändern wollen. Dieses Resultat schürt Zweifel daran, ob ein Schulsystem, das sich gleiche Chancen auf die Fahnen schreibt, diesem Anspruch auch gerecht werden kann. Gleicherweise gilt: Wenn kognitive und sprachliche Fähigkeiten teilweise genetisch festgelegt sind, wie Plomin (2019) oder Stromwold (2001) dargelegt haben, schränkt auch dies die Möglichkeiten ein, die individuellen Unterschiede pädagogisch auszugleichen, besonders innerhalb der begrenzten Zeit, die für den Fremdsprachenunterricht zur Verfügung steht.»2 (S.217, Übertragung: F. Schmutz)

1 Raphael Berthele & Isabelle Udry (eds.). 2021. Individual differences in early instructed language learning: The role of language aptitude, cognition, and motivation (Eurosla Studies 5). Berlin: Language Science Press.

2 “The extent to which education can influence learner performance at all may not always be as large as educators would like it to be. As shown in Chapter 5, socioeconomic status, which cannot easily be changed by the individual, bears strongly on the two factors that are positively but indirectly associated with L2 proficiency (via the constructs Cognition/Aptitude and L2 Academic Emotion). If the assumption is that social dispositions contribute causally to one or both of these constructs (and not vice versa), then this points to important hurdles for teachers and schools to change individuals’ dispositions with respect to these two important constructs. This result raises concerns about how well an education system whose pledge is equal opportunity can live up to such expectations in real life. In a related vein, if the cognitive and/or linguistic abilities are partially predetermined by genetics, as suggested by Plomin (2019) or Stromswold (2001), this also points to limits of the extent to which individual differences can be pedagogically levelled out, in particular within the restricted possibilities of a dense curriculum in a state school with only limited time at disposal for L2 instruction.” (Berthele & Udry, S. 217)

 

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