Felix Schmutz - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 06 Aug 2023 09:41:50 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Felix Schmutz - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Bestellte Wunschprosa aus der Bildungsbürokratie https://condorcet.ch/2023/08/14735/ https://condorcet.ch/2023/08/14735/#comments Thu, 03 Aug 2023 07:07:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=14735

Das Basler Schublatt startete kürzlich wieder einmal eine Publi-Reportage in Sachen Kompetenzorientierung. Condorcet-Autor Felix Schmutz zerlegt sie.

The post Bestellte Wunschprosa aus der Bildungsbürokratie first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, BL:
 Muss man Früheres schlecht reden, wenn man etwas Neues einführen will?

Das Basler Schulblatt widmet seine Juli-Ausgabe (Nr. 3) dem «kompetenzorientierten Unterricht». Auffällig, dass keinerlei Bezug genommen wird auf die kontroverse Diskussion um die schulischen Kompetenzen. Stattdessen sind die stereotypen Begründungen zu lesen, die seit fast 15 Jahren von Bildungsverantwortlichen  unerschütterlich wie ein Mantra wiederholt werden. Sechs Kolleginnen und Kollegen aus allen Schulstufen schildern ihre Glückserlebnisse mit der Umstellung auf den kompetenzorientierten Unterricht. (1)

In der Einleitung schreibt Janine Kern unter anderem:

 Es ist die Geschichte eines tiefgreifenden Wandels in der Schule: von der Orientierung an Inhalten und Wissen zur Orientierung an dem, «was Schülerinnen und Schüler am Ende von Unterrichtszyklen wissen und können sollen». …  Frühere Lehrpläne beschrieben, welche Inhalte und Themen in der Schule vermittelt werden sollten – zum Beispiel die Römer oder der Zweite Weltkrieg. Das Thema war Ausgangspunkt für die Unterrichtsplanung. Heute ist es umgekehrt: Der Lehrplan gibt zu erreichende Kompetenzen vor. Die Lehrperson wählt dann den passenden Unterrichtsinhalt, mit dem sich dieses Ziel am besten erreichen lässt. (Hervorhebungen F.S.)

Und weiter steht da:

Mit der Umstellung auf kompetenzorientierten Unterricht folgen die Schulen in Basel-Stadt und in der ganzen Schweiz einem internationalen Konzept, das in vielen europäischen Ländern seit Längerem eingeführt ist. Es geht davon aus, dass die Menschen im 21. Jahrhundert vor allem die folgenden Kompetenzen brauchen, um mit der wachsenden Komplexität und dem schnellen Wandel umgehen zu können: kritisches Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität (4 K). Für die Entwicklung dieser so genannten «21st Century Skills» braucht es in der Schule andere Unterrichtsstrategien als jene, die bis ins späte 20. Jahrhundert galten. (Hervorhebung F.S.)

Kompetenzorientierter Unterricht befähigt die Schülerinnen und Schüler, mit Dingen umzugehen, die sie noch nicht wissen. Sie lernen, Quellen zu suchen und zu bewerten, und entwickeln Strategien, um eine Aufgabe zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen. Dafür braucht es wie bisher Unterrichtsinhalte und es wird auch weiterhin Wissen vermittelt. Auch das Üben ist noch immer wichtig. Aber im Zentrum stehen die Anwendung des Gelernten, das eigene Handeln und das Reflektieren des eigenen Lernprozesses. (Hervorhebungen F.S.)

Diffamierung des Bisherigen

 Muss man Früheres schlecht reden, wenn man etwas Neues einführen will? Da wird unterstellt, bis ans Ende des 20. Jahrhunderts hätte der Unterricht keine Kritik- und Kommunikationsfähigkeit zustande gebracht, Lernende hätten nicht kollaboriert und kreativ sei niemand gewesen. Diesem Rundumschlag gegen den Unterricht des 20. Jahrhunderts darf man getrost historische Blindheit vorwerfen, denn die genannten Ziele waren seit der Aufklärung ein Anliegen der Schule.

Punkto Kreativität sei nur das Beispiel von Jean Tinguely erwähnt, der in den Dreissigerjahren die Basler Realschule besuchte und dessen Kunstwerke heute weitherum öffentlich ausgestellt werden. Aber war er kreativ? Schliesslich hat er nur alte Maschinenteile neu zusammengesetzt. Ist das schon Kompetenz?

Vermessen auch die Behauptung, es habe keine Kritikfähigkeit gegeben. Die Schulen und die Universitäten wurden in den Sechzigerjahren vom kritischen Denken erfasst. Arbeitsgruppen bildeten sich, lernten und diskutierten zusammen, politische Gruppierungen probten den Aufstand und schafften es in die Parlamente. Aber natürlich: Hatten sie dazu die nötige «Kompetenz»?

Das Kind soll sich nicht seinen Fähigkeiten gemäss entfalten können, sondern von Anfang an gezielt auf fremdbestimmte Aufgaben hin getrimmt werden.

Auf die Gefahr hin, wie Don Quichotte gegen Windmühlen zu kämpfen, führe ich zum Problem der Kompetenzorientierung einmal mehr folgende Bedenken an:

  1. Widerspruch zum Bildungsartikel in der Verfassung von BS

§17 und §18 der Kantonsverfassung BS von 2005 umschreiben die Ziele des Bildungswesens und der Schulen wie folgt:

  • 17

Das Bildungswesen hat zum Ziel, die geistigen und körperlichen, schöpferischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu fördern, das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Mitwelt zu stärken sowie das Hineinwachsen in die Gesellschaft vorzubereiten und zu begleiten.

  • 18

Die Kindergärten, Schulen, Tagesbetreuungseinrichtungen, Sonderschulen und Heime fördern und fordern alle Kinder und Jugendlichen gemäss ihren Fähigkeiten und Neigungen.   (Hervorhebungen F.S.) (2)

Das Kind soll sich nicht seinen Fähigkeiten gemäss entfalten können, sondern von Anfang an gezielt auf fremdbestimmte Aufgaben hin getrimmt werden.

Während der Bildungsartikel klar definiert, dass die Schule die vorhandenen kognitiven, physischen, sozialen und kreativen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen entwickeln, also von den jungen Menschen ausgehen soll, so dass diese in die Anforderungen des Lebens hineinwachsen können, zäumt die Kompetenzorientierung das Pferd vom Ende her auf, nämlich von einzelnen Anforderungen des Lebens her. Das Kind soll sich nicht seinen Fähigkeiten gemäss entfalten können, sondern von Anfang an gezielt auf fremdbestimmte Aufgaben hin getrimmt werden. Damit deutet die Kompetenzorientierung den Bildungsbegriff der Verfassung in unzulässiger Weise um: Das Subjekt wird zum Mittel der Aufgabenerledigung umfunktioniert, seine ihm eigentümlichen «Fähigkeiten und Neigungen» spielen nur noch insofern eine Rolle, als sie zur Erfüllung von Aufgaben dienlich sind, die ihm von aussen aufdiktiert werden.

Das Argument, der Bildungsartikel lasse mit dem Fächerkanon ebenfalls eine Fremdbestimmung zu, sticht deshalb nicht, weil die Fächer inhaltlich definiert sind und eine breite Palette von Entwicklungsmöglichkeiten zulassen, während Kompetenzen fachliche Bildungsmöglichkeiten von Anfang auf vorgegebene Leistungsziele hin verzwecken.

  1. Widerspruch zur Lernforschung

Das Schulblatt betont zwar, dass «Wissen» und «Üben» nach wie vor wichtig seien. Nur eine Zeile später relativiert es dies aber, indem nicht das «Thema», «der Inhalt» Ausgangspunkt des Unterrichts sei, sondern die «Kompetenz», zu der die Lehrpersonen beliebige passende Inhalte wählen sollen. Damit wird Wissen klar auf den zweiten Platz verwiesen.

Dahinter steht der ökonomische Gedanke, dass diejenigen, die eine Kompetenz am Inhalt x lernen, diese dann problemlos auf die Inhalte y, z, etc. transferieren können. Kompetenzen sind in diesem Verständnis ein Dietrich, der alle Tore zu irgendwelchen Inhalten aufschliessen kann.

Diese Annahme ist, wie die Lernforschung zeigt, grundfalsch. Kompetenzen sind stets an spezifische Inhalte gebunden. Sie können deshalb jeweils nur immer wieder auf gleiche, sehr ähnliche und als ähnlich erkannte Inhalte übertragen werden:

«Fertigkeiten und Strategien werden in bestimmten Kontexten und je

nach den spezifischen Anforderungen erworben. So sind Kompetenzen in erster

Linie bereichsspezifisch, und ihre Transferierbarkeit ist weit beschränkter, als es

gewünscht wäre.» (3)

 «Das Lernen ist situationsspezifischer als lange gedacht… Wirksam hingegen ist das Durcharbeiten fachlicher Inhalte, das Erwerben von fachspezifischem Wissen, von Konzepten und Begriffen.» (4)

Wenn keine Inhalte mehr verbindlich sind, bzw. nicht mehr von verbindlichen Inhalten ausgegangen werden kann, ist deshalb letztlich auch nicht klar, welche Kompetenzen eigentlich gelehrt werden. Es gibt keine inhaltsleeren, vom Gegenstand ablösbaren Kompetenzen.

Sie müssen somit von Prüfungsaufgaben festgelegt werden, was auf ein «Teaching to the Test» hinausläuft, wobei die Definitionshoheit, wer als kompetent zu gelten hat, bei der prüfenden Instanz liegt, welche die Aufgaben formuliert oder entsprechende Übungsprogramme anbietet (5).

  1. Widerspruch zur Gedächtnisforschung

Angeblich lernen Kinder durch Kompetenzen, «mit Dingen umzugehen, die sie noch nicht wissen. Sie lernen, Quellen zu suchen und zu bewerten, und entwickeln Strategien, um eine Aufgabe zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen.»

Genau das bleibt Illusion. Denn um das alles tun zu können, braucht es spezifisches Vorwissen, das in der Auseinandersetzung mit Inhalten erworben und vertieft werden muss. Neues kennen lernen, Quellen bewerten, Strategien anwenden, das alles setzt voraus, dass Bestände aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können, während gleichzeitig Unbekanntes aufgenommen werden soll, was gedächtnistechnisch nicht möglich ist, wie Kirschner et al. gezeigt haben. (6)

Kompetenz im Sinne von Franz E. Weinert bedeutet nicht Anwendung, sondern Potenzial zum Lösen von Aufgaben analog dem Konstrukt Intelligenz, nur dass es sich bei der Kompetenz um schulisch erworbene Potenziale handelt.

  1. Widerspruch zum psychologischen Kompetenzbegriff

Der Schulblattartikel verwendet Kompetenz im Sinne von Anwendungen. Er folgt hierin dem Lehrplan 21. Das ist allerdings eine starke Reduktion und Umdeutung des von der Psychologie geschaffenen Konstrukts. Kompetenz im Sinne von Franz E. Weinert bedeutet nicht Anwendung, sondern Potenzial zum Lösen von Aufgaben analog dem Konstrukt Intelligenz, nur dass es sich bei der Kompetenz um schulisch erworbene Potenziale handelt.

Basler Schulblatt: Einem grundlegenden Irrtum aufgesessen.

Potenziale sind kognitive Reserven oder Dispositionen, die jemand anlegt und die es ermöglichen, Aufgaben schulischer Fachgebiete zu lösen. So wie es bei der Intelligenz geeichte Tests gibt, nach denen angeborene und im Austausch mit der Umwelt erworbene mathematische oder sprachliche Leistungsfähigkeit auf einem Massstab abgebildet wird, sollen Testaufgaben in Schulfächern die im Verlauf der Schulzeit erworbenen fachspezifischen Potenziale messen. Nicht Lehrpersonen entscheiden, wer kompetent ist, sondern die Psychologen. So jedenfalls war das Konzept ursprünglich gedacht.

Damit ist klar, worin der Grundirrtum des Schulblattartikels besteht:

Die Lernprozesse an den Stoffen der Schulfächer sollen im Laufe der Jahre die Voraussetzung schaffen, dass sich Potenziale entwickeln, die den Schülerinnen und Schülern erlauben, Aufgaben im Zusammenhang mit den behandelten Fachgebieten zu lösen. Damit ist nichts darüber gesagt, wie Lernende im Unterricht diese Potenziale entwickeln. Die Aufschlüsselung in Sub- und Subsubkompetenzen glaubt, Problemlösefähigkeiten im Baukastenprinzip zusammenfügen zu können. was dem Konstrukt des Potenzials widerspricht, das stets ein Bündel von Fähigkeiten vereint, wenn es an die Lösung einzelner Probleme geht.

Das bedeutet: Es müssen Lernprozesse an den Unterrichtsinhalten initiiert werden, also Motivation, Begegnung mit der Sache und den Unterrichtsgegenständen, die Sache muss verstanden werden, mit früheren Inhalten verknüpft und im Gedächtnis verankert werden, Irrtümer müssen erkannt, vielfältige Anwendungen der Sache müssen geübt werden.

Aus der Beschäftigung mit Inhalten ergeben sich Bündel von Kompetenzen, die für Anwendungen zur Verfügung stehen, nicht umgekehrt.  Anwendungen sind und waren schon immer in einem didaktisch-methodisch durchdachten Unterricht Bestandteil des Lernprozesses.

Mit Kompetenzorientierung meint man, diesen Lernprozess abkürzen und auf zeitraubende Teile davon verzichten zu können. Die Tulpe im Garten hat Blütenkompetenz, Blatt- und Stielkompetenz, Wasseraufnahmekompetenz, Energieaufnahmekompetenz und Blütenschliesskompetenz bei Dunkelheit. Das ist jedoch nur zu haben, wenn jemand Monate vorher die Zwiebeln in Erde eingegraben, den Setzling regelmässig gewässert und gewartet hat, bis die Blume aus der Erde hervorkeimt, sich entfaltet und die Blütenblätter sich öffnen. Eine fertige Tulpe ohne diese Vorgeschichte gibt es nicht. Genauso gibt es keine Kompetenzen ohne eingehende Beschäftigung mit Inhalten.

Wenn das Fragen nach Meinungen und Gefühlen jedoch als Unterrichtsbeitrag verlangt und zur Bewertung herangezogen wird, besteht die Gefahr des Übergriffigen.

  1. Reflexionszwang

In den Interviews mit den kompetenzbekehrten Lehrpersonen wird betont, dass schon die Jüngsten ihre Lernschritte beharrlich «reflektieren» sollen. Kompetenzlernen scheint in dieser Vorstellung einhergehen zu müssen mit einer ständigen Selbsterforschung, einer Ausleuchtung der eigenen Erfahrung.

Natürlich gehört es zur Aufgabe des Unterrichts, Lernvorgänge zu thematisieren: Wie lernst du Wörter? Wie gehst du vor, um diese Aufgabe zu lösen? Wo stösst du auf Schwierigkeiten beim Verständnis? Wie bereitest du dich auf den Test vor? etc.

Die Kompetenzbekehrten meinen jedoch etwas anderes:

Baris Figen: Kompetenzorientierung als obsessive Gesinnungsschnüffelei.

«Die Reflexion des eigenen Standpunktes zum Lerngegenstand ist ein bedeutender Bestandteil meines Unterrichts.», sagt der Primarlehrer Baris Figen. «Den Lerndialog … nehme ich als Grundlage für eine spätere Bewertung.»

Figens Fragen zielen auf die Offenlegung von inneren Zuständen, Gefühlen, Positionen. Es gibt nichts einzuwenden, dass Kinder und Jugendliche ihre Eindrücke äussern dürfen, wenn sie sich spontan dazu bereit erklären. Wenn das Fragen nach Meinungen und Gefühlen jedoch als Unterrichtsbeitrag verlangt und zur Bewertung herangezogen wird, besteht die Gefahr des Übergriffigen. Hier rückt die Reflexion in die Nähe der «erbaulichen Selbstbeobachtung vor Gott» des Pietismus, die die Frömmigkeit stärken und in gottgefälliges Handeln umwandeln will. (7) Kompetenzorientierung wird so zur obsessiven Gesinnungsschnüffelei mit totalitärem Beigeschmack.

Fazit

Kompetenzorientierter Unterricht muss von fachlich beispielhaften Themen und Inhalten ausgehen, wenn er ernsthaft gewillt ist, Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen, die sich als Dispositionen oder Potenziale für Anwendungen erweisen sollen. Inhaltliches Verständnis, vernetzte Wissensbestände sind wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung von Kompetenzen.

Das Forum Wissenschaft fasst die Erkenntnisse zum kompetenzorientierten Unterricht folgendermassen zusammen:

«Das Kompetenzkonzept kann als wissenschaftlich ungeklärt gelten, es senkt empirisch nachweisbar das Bildungsniveau, widerspricht den Leitzielen eines demokratischen Bildungswesens, zersetzt didaktisches und pädagogisches Denken und Handeln und behindert Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu mündigen Bürgern.» (8)

 

(1) file:///C:/Users/7984.190/Downloads/BSB-23-03.pdf, S.4ff.

(2) Verfassung des Kantons Basel-Stadt, 2005, SG 111.100 und Schulgesetz, 410.100, Stand 2021.

(3) Esther Ziegler, Elsbeth Stern & Aljoscha Neubauer: Kompetenzen aus der Perspektive der Kognitionswissenschaften und der Lehr-Lern-Forschung, in Paechter, Manuela,. Handbuch Kompetenzorientierter Unterricht. Beltz, 2012 (S. 14 – 26)

(4) ebenda

(5) vgl. Mindsteps des IBE, Zürich

(6) Paul A. Kirschner, John Sweller, Richard E. Clark: Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching,  in: EDUCATIONAL PSYCHOLOGIST, 41(2), 75–86

(7) André Knote, Von der geistlichen Seelenkur zur psychologischen Kur, Zur Geschichte der Psychotherapie vor Freud, Laboratorium Aufklärung, Band 21, 2015, S.129f..

(8) Kompetenzen machen unmündig. Eine zusammenfassende Kritik zuhanden der demokratischen Öffentlichkeit, 2018, https://www.bdwi.de/forum/archiv/uebersicht/10702472.html

 

 

 

 

The post Bestellte Wunschprosa aus der Bildungsbürokratie first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/08/14735/feed/ 2
Erfindung oder Tatsache? https://condorcet.ch/2023/06/erfindung-oder-tatsache/ https://condorcet.ch/2023/06/erfindung-oder-tatsache/#comments Tue, 06 Jun 2023 04:28:44 +0000 https://condorcet.ch/?p=14235

Der Umgang mit Fake News stellt auch die Schule vor eine grosse Herausforderung. Insbesondere in den Fächern Deutsch und Medienkunde müsste das Problem grundsätzlich behandelt werden. Vielleicht lassen sich Jugendliche noch eher dazu gewinnen, Verschwörungsnarrativen kritisch zu begegnen, als manche eingefleischte Erwachsene. Anregungen dazu gibt David Robsons Artikel «Fake or Fact? How to recognise a conspiratory theory?» im Guardian vom 24. April 2023. Robson ist ein preisgekrönter Autor populärwissenschaftlicher Bücher über Psychologie. Hier eine Zusammenfassung des Artikels mit Zitaten:

The post Erfindung oder Tatsache? first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, BL:
Zu grosses Vertrauen auf Intuition kann zu vorschnellen Schlussfolgerungen führen.

Die Pforte zur Hölle

Robson steigt ein mit dem Beispiel der Verschwörungserzählung von 2008, als ein Experiment mit dem Teilchenbeschleuniger angekündigt wurde und sich die Befürchtung breit machte, die Forscher im CERN wollten ein schwarzes Loch erzeugen, das die ganze Welt und die Menschen verschlingen werde. Obwohl die Katastrophe nicht eintrat, hielten einschlägige Kreise daran fest, dass die Satanisten des CERN die Mauern zur Hölle einreissen wollten. Ein Video zirkulierte, das angebliche Menschenopfer der Satanisten zeigen soll.

Ein Zeichen geringer Intelligenz?

Die Meinung, der Glaube an Verschwörungsgeschichten sei ein Zeichen geringer Intelligenz, ist ein Mythos. Gerade Menschen mit höherer Bildung seien besonders anfällig für Fehlinformationen, meint Robson: «Die Wahrheit ist, dass viele Verschwörungstheorien so konzipiert sind, dass sie die Vorurteile unseres Gehirns immer dann ausnützen, wenn wir uns besonders verwundbar fühlen, und dass eine hervorragende akademische Karriere wenig Schutz bietet.“(1)

Zeiten der Verunsicherung

Verschwörungserzählungen entstehen und verbreiten sich gerne in Zeiten grosser Unsicherheit: Wirtschaftskrisen, globale Pandemie, Krieg. „Diese beunruhigenden Ereignisse haben oft komplexe, schwer nachvollziehbare Ursachen und bedrohen unser Gefühl der Kontrolle über unser Leben – und so suchen wir nach Wegen, im Chaos einen Sinn zu finden.“ (2)

Zu grosses Vertrauen auf Intuition kann zu vorschnellen Schlussfolgerungen führen auf Gebieten, mit denen man weniger vertraut ist.

„Verschwörungstheorien können eine gefällige und stimmige Erzählung bieten, die dabei hilft, unsere existenziellen Ängste zu lindern, oft durch die Identifizierung von Sündenböcken, die für die Krise verantwortlich gemacht werden können. Es ist ein absurder Trost, zu glauben, dass bestimmte Personen oder Organisationen eine Katastrophe zu ihrem eigenen Vorteil geplant haben – insbesondere, wenn man das Gefühl hat, einer der wenigen zu sein, die die „Wahrheit“ kennen –, anstatt zu akzeptieren, dass oft schreckliche Ereignisse zufällig passieren können, ohne dass ein großer Vordenker dahintersteckt.“ (3)

Wer ist anfällig?

Besonders anfällig für Verschwörungstheorien sind wir, wenn wir uns an und für sich schon hilf- und machtlos fühlen. Ob wir falsche Erklärungen zu Hilfe nehmen, um die zu Grunde liegende Existenzangst zu lindern, hängt vom Denkstil ab:

 – Ich mache kaum etwas falsch, wenn ich auf mein tiefstes „Bauchgefühl“ höre, um eine Antwort zu finden.

– Ich neige dazu, mein Herz als Leitfaden für mein Handeln zu verwenden.

Oder diese Aussagen:

– Ich mag die Verantwortung, mit einer Situation umzugehen, die viel Nachdenken erfordert.

– Ich finde es befriedigend, intensiv und stundenlang gründlich nachzudenken.“ (4)

Wer den ersten beiden Aussagen zustimmt, pflegt einen eher intuitiven, wer den zweiten zustimmt, einen eher analytischen Denkstil.

Intuition ist durchaus wertvoll, besonders wenn jemand von jahrelanger Erfahrung auf einem Gebiet zehren kann. Zu grosses Vertrauen auf Intuition kann jedoch zu vorschnellen Schlussfolgerungen führen auf Gebieten, mit denen man weniger vertraut ist. Diese Neigung macht die Intuitiven empfänglicher für Verschwörungstheorien, „da sie nicht innehalten, um über die Lücken in der Argumentation oder die möglicherweise widersprüchlichen Beweise nachzudenken, die eine Theorie zum Scheitern bringen würden, und stattdessen alle Behauptungen akzeptieren, die sich „wahr“ anfühlen.“ (5)

David Robson ist ein preisgekrönter Wissenschaftsautor, der sich mit den Extremen des menschlichen Gehirns, Körpers und Verhaltens beschäftigt.

Verharren im Irrtum

Robson vergleicht die Verschwörungsnarrative mit einem Virus, das sich derart tief eingenistet hat, dass man es nicht mehr loswird. Würde man auf die sinngebende Erzählung verzichten, würden Virus und Wirt absterben, bzw. die ganze Weltsicht zusammenbrechen. Sich im Glauben an die Erzählung zu bestärken, festigt hingegen den Boden, auf dem man steht.

Niemand brauche sich zu schämen, wenn er oder sie schon einmal auf eine Verschwörungserzählung hereingefallen sei, meint Robson.

Wie abwehren?

Wie kann man sich davor schützen, auf Verschwörungstheorien hereinzufallen? Robson schlägt Folgendes vor:

  1. „Selbsterkenntnis. Angesichts der Tatsache, dass Ungewissheit die Grundlage für eine Verschwörungsmentalität ist, könnten Sie versuchen, nach proaktiven Wegen zu suchen, um mit dem Stress beunruhigender Weltereignisse umzugehen, anstatt durch soziale Medien zu scrollen, wo Sie eher auf Fehlinformationen stoßen, die Ihre Ängste schüren. Wenn Sie auf alternative Erklärungen für die Krise stoßen, achten Sie auf allzu vereinfachende Geschichten, die einem bequemen Sündenbock die Schuld zuschieben, und versuchen Sie, die Logik ihrer Behauptungen und die Grundlage ihrer Beweise zu hinterfragen.“ (6)
  2. „Wurden die Fotos und Videos aus dem Zusammenhang gerissen? Oder könnten sie gefälscht oder mit Photoshop bearbeitet worden sein?“ (7)
  3. „Sind die Referenzen der Experten so beeindruckend, wie sie behaupten, und verfügen sie über nachgewiesene Kenntnisse auf dem betreffenden Gebiet? Und zitieren sie Umfragen oder Berichte, die von einer glaubwürdigen akademischen Organisation erstellt wurden? Die Händler von Verschwörungstheorien beschönigen ihre Behauptungen oft mit einem Anstrich von Autorität, indem sie falsche Experten und erfundene Institutionen einsetzen.“ (8)
  4. „Sie könnten sich auch genau ansehen, wie Menschen auf Kritik an ihren Theorien reagieren. Beschäftigen sie sich direkt mit dem betreffenden Punkt? Oder greifen sie auf menschengerichtete Angriffe und Ablenkungsmanöver zurück, die die Aufmerksamkeit von der Schwachstelle ihrer Argumentation ablenken? Und beanspruchen sie einen Sonderstatus für ihre Rechtfertigung – indem sie zum Beispiel argumentieren, dass das bloße Fehlen von Beweisen selbst ein Beweis für eine Vertuschung sei? Dieses Argument erklärt praktischerweise den Mangel an objektiven Fakten, was bedeutet, dass es buchstäblich zur Stützung jeder absurden Behauptung herangezogen werden kann.“ (9)
  5. “Über manche Ereignisse der Gegenwart oder der Vergangenheit gibt es keine abschliessend sinnhafte Erklärung. Ein Stück weit muss man lernen damit zu leben, dass Ungewissheiten als Rätsel stehen bleiben und dafür keine eindeutige Lösung gefunden werden kann. Verschwörungsnarrative führen dabei ins Abseits. „Glücklicherweise stehen viele Ressourcen zur Verfügung, welche die wichtigsten logischen Trugschlüsse und die Möglichkeiten, wie man sie identifizieren kann, detailliert beschreiben.“ (10)

Irren ist menschlich

Niemand brauche sich zu schämen, wenn er oder sie schon einmal auf eine Verschwörungserzählung hereingefallen sei, meint Robson. Menschen seien nun einmal anfällig für Fehlinformationen. Allerdings lasse sich Kritisches Denken so weit üben, dass sich das Instrumentarium zum Erkennen von Schwachsinn lebenslang ausbauen lasse. Damit wäre man auch gegen die Behauptung gewappnet, der grosse Teilchenbeschleuniger des CERN sei der Weg zur Hölle.

 

Zitate im Original

1 The truth is that many conspiracy theories are designed to play on our brain’s biases when we are feeling particularly vulnerable, and a stellar academic record provides little protection.

2 These unsettling events often have complex causes that are hard to comprehend and they threaten our feelings of control over our lives – and so we look for ways to find sense in the chaos.

3 Conspiracy theories can offer a neat-and-tidy narrative that helps to settle our existential angst, often through the identification of scapegoats that can be blamed for the crisis. There is an absurd comfort in believing that specific people or organisations have planned a disaster for their own profit – particularly if you feel that you are one of the few who know the “truth” – rather than accepting that, often, terrible events can happen at random without some grand mastermind behind them.

4 I hardly ever go wrong when I listen to my deepest “gut” feelings to find an answer.

I tend to use my heart as a guide for my actions.

Or these statements:

I like the responsibility of handling a situation that requires a lot of thinking.

I find satisfaction in deliberating hard and for long hours.

5 since they don’t stop to think of the holes in the argument or the potentially contradictory evidence that would cause it to crumble, and instead accept any claims that feel “truthy”.

6 self-awareness. Given that uncertainty primes a conspiracy mindset, you might try to look for proactive ways to cope with the stress of unsettling world events, rather than doomscrolling through social media, where you are more likely to find misinformation that feeds your anxiety. If you do come across alternative explanations for the crisis, watch out for overly simplistic stories that pin the blame on a convenient scapegoat, and try to scrutinise the logic of their claims and the basis of their evidence.

7 Have the photos and videos been taken out of context? Or might they have been faked or Photoshopped?

8 Are the experts’ credentials as impressive as they claim, and do they have proven knowledge in the relevant field? And do they cite surveys or reports created by a credible academic organisation? The peddlers of conspiracy theories often varnish their claims with a veneer of authority by using false experts and made-up institutions.

9 You might also look closely at the way that people respond to criticisms of their theories. Do they engage directly with the point in question? Or do they resort to ad hominem attacks and red herrings that draw attention from the weak spot in their argument? And do they call on “special pleading” – arguing, for instance, that the very absence of evidence is itself proof of a cover-up? This argument conveniently explains away a lack of objective facts, meaning that it can be used to support literally any absurd claim.

10 Fortunately, there are plenty of available resources that detail the most important logical fallacies and the ways to identify them.

 

 

 

Felix Schmutz, 29.05.23

The post Erfindung oder Tatsache? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/06/erfindung-oder-tatsache/feed/ 6
Die integrative Schule unter der Lupe https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/ https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/#comments Sun, 30 Apr 2023 12:50:03 +0000 https://condorcet.ch/?p=13778

Condorcet-Autor Felix Schmutz entblättert das ständig zitierte Narrativ der vielen Studien, die den Wert der Integration bestätigen sollen.

The post Die integrative Schule unter der Lupe first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, BL:
Den Studien haften grundsätzliche Mängel an.

Verfechter der schulischen Integration von Kindern mit speziellen Bedürfnissen (KSB) verweisen gerne auf Studien, die beweisen sollen, dass KSB

  1. in Regelklassen weniger stigmatisiert würden als in separativen Angeboten,
  2. bessere schulische Erfolge erzielten, da sie von den nicht beeinträchtigten Kindern profitieren könnten.

Ferner wird behauptet, dass die nicht beeinträchtigten Kinder in integrierten Klassen nicht schlechter abschnitten als in nicht-integrierten, dass sie ausserdem aus der Anwesenheit der KSB sozial lernen könnten.

Gleichzeitig wird landauf, landab das Scheitern von zehn Jahren Integration festgestellt. Klassen seien oft nicht mehr führbar wegen der störenden Auffälligen, die heilpädagogische Unterstützung sei ungenügend. In BS will eine Initiative mit einer zeitweiligen Aufhebung der Integration Abhilfe schaffen.

Journalistische Beiträge schildern die unbefriedigende Situation, wobei der Tenor lautet: Integration sei an und für sich eine gute Sache, allerdings seien die Gelingensbedingungen nicht erfüllt, als da wären: mehr heilpädagogische Unterstützung, bessere Ausbildung und Vorbereitung der Regellehrkräfte, spezielle Lösungen für nicht integrierbare KSB.

 

Was sagt die Forschung?

Welche Folgerungen ergeben sich nun aber aus der Forschung zum Thema Integration der KSB in Regelklassen im Vergleich zur Beschulung der KSB in separativen Klassen? Welche Faktoren im Zusammenhang mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Kinder und mit unterschiedlichen organisatorisch-pädagogischen Massnahmen beeinflussen die Wirkung der Integration?

Erhellend ist folgende ausführliche Übersichtsstudie: «Die Auswirkungen der Inklusion auf schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen» von Nina T. Dalgaard et al., 2022. 1

Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend.

Es handelt sich um eine gründliche Analyse aller in Frage kommenden 20’183 Studien ab Jahr 2000, von denen 94 aus 19 verschiedenen Ländern in Betracht kamen. Lediglich 15 davon befriedigten qualitativ, 79 waren derart einseitig («biased»), dass die Resultate als irreführend angesehen wurden.

Das Autorenkollektiv stellt fest, dass den Studien grundsätzliche Mängel anhaften:

  1. Die Studien sind nicht randomisiert: d.h. KSB wurden nicht zufällig in separative oder inkludierende Klassen eingeteilt.
  2. Die methodische Qualität der Studien ist allgemein unbefriedigend.
  3. Die Studien unterscheiden nicht zwischen den Typen von Beeinträchtigungen und den Arten von schulischen Integrationsmassnahmen. Damit werden Faktoren, welche die Wirksamkeit der Integration beeinflussen können, vernachlässigt.
  4. Eine umfassende Theorie zur Art und Weise der pädagogischen Integration fehlt bisher. Es besteht lediglich ein moralisch-politischer Imperativ, der den diskriminierungsfreien Unterricht für alle Kinder fordert. (Salamanca, 1994)

Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen.

Effektstärken der Integration und der Separation

Zur Frage der Effektivität der Integration kommen die Autorinnen und Autoren zu folgendem Schluss:

«Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»

Die Studien zeigen allerdings starke Ausschläge in positiver und negativer Richtung für beide Organisationsformen: «Während einige Kinder mit speziellen Bedürfnissen von der Platzierung in integrierten Klassen profitieren, können andere von einem traditionellen Unterricht in einem segregierten Umfeld profitieren.»3

Deshalb betont die Studie “die Notwendigkeit, Kinder mit spezifischen pädagogischen und psychosozialen Bedürfnissen individuell abzuklären, anstatt sie in einem Einheitsverfahren in Spezialklassen zu platzieren.»4

Im Übrigen plädiert die Studie für eine qualitativ bessere Forschung, die vermehrt auf die unterschiedlichen Typen von Beeinträchtigungen fokussiert.

Eigenes Fazit:

  1. Die Behauptung, Stigmatisierung werde in separativer Beschulung verstärkt und Lernfortschritte seien geringer, lässt sich in dieser allgemeinen Form nicht aufrechterhalten. Es gibt keine signifikanten Unterschiede zwischen Integration und Separation, wenn Studien auch in beiden Settings positive und negative Ausschläge verzeichnen, wofür die Gründe in noch nicht genügend erforschten Faktoren zu suchen sind.
  2. Die oft zitierten Studien werden einem strengen wissenschaftlich-methodischen Massstab nicht gerecht. Dies bedeutet, dass die Erfahrungen der Praxis ernsthafter zu gewichten sind, als dies bisher von Erziehungsfachleuten geschehen ist. Ideologischer Eifer sollte einer nüchternen Einschätzung der Wirkung von separativer und integrierter Beschulung je nach individuellen Bedürfnissen und organisatorischen-pädagogischen Möglichkeiten weichen.
  3. Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Die Wirkung der Integration auf diese Gruppe müsste ebenfalls seriös abgeklärt werden. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen.

 

1 Nina T. Dalgaard | Anja Bondebjerg | Bjørn C. A. Viinholt | Trine Filges:

The effects of inclusion on academic achievement, socioemotional development and wellbeing of children with special educational needs, VIVE—The Danish Centre for Social Science Research, Copenhagen, Denmark. Campbell Systematic Reviews. 2022.)

2  The effects of placing children with special needs in grades K]12 into inclusive educational settings are inconsistent. Findings from this review suggest that, in general, inclusion neither increases nor decreases learning and psychosocial adjustment of children with special needs in the OECD countries. (p.3)

3  while some children with special needs may benefit from inclusive educational placement, other children may benefit from traditional special education in a segregated setting. (p.4)

4  the need for an individual assessment of the specific child’s educational and psychosocial needs rather than a one-size-fits-all approach to placement in special education. (p.4)

The post Die integrative Schule unter der Lupe first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/04/die-integrative-schule-unter-der-lupe/feed/ 1
Verabschiedet euch von der Kompetenz! https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/ https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/#comments Mon, 06 Mar 2023 13:06:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=13328

Der Diskurs, den der emeretierte Professor Franz Eberle mit seinem Beitrag über die Ideologisierung der Kompetenzorientierung (https://condorcet.ch/2023/02/wissens-versus-kompetenzorientierung-eine-unselige-polarisierung/ ) ausgelöst hat, geht weiter. Condorcet-Autor Felix Schmutz ruft Herrn Eberle die Herkunft des Begriffs in Erinnerung und mahnt einen Verzicht auf diesen an.

The post Verabschiedet euch von der Kompetenz! first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, Baselland: Es geht um Messbarkeit.

Franz Eberle rechtfertigt seinen Kompetenzbegriff, fühlt sich missverstanden von Herrn Ladenthins Replik. Dabei vernebelt er die Herkunft des umstrittenen Konzepts und widerspricht sich auch selbst. Der Bildungsdiskurs sollte sich von diesem Schlagwort langsam trennen, denn es zeigt sich wieder einmal, wie beliebig es von verschiedenen Bildungsfachleuten interpretiert wird.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.

Der Philosoph Anton Hügli hat in seiner fundamentalen Analyse Was ist Kompetenz? darauf hingewiesen, dass der Begriff in der heutigen Bedeutung aus der Psychologie stammt. Der amerikanische Psychologe McClelland entwickelte ihn zu Beginn der Siebzigerjahre, um die Eignung von stellenbewerbenden Leuten für bestimmte Berufe zu eruieren, da das relevante Können mit dem bisher üblichen Intelligenztest zu wenig klar antizipiert werden konnte. Dabei ging es wie beim Intelligenztest immer auch um Messbarkeit. Aufgrund des Problemlösetests sollten Menschen berufliche Fähigkeit und Tauglichkeit zugeschrieben werden können. Nicht so sehr die Fähigkeit, eine einzelne Aufgabe zu lösen, als die Erfahrung, mit ähnlich gelagerten Aufgaben in geeigneter Weise umzugehen, was als Disposition bezeichnet wurde. Wichtig: Kompetenz ist ein Konstrukt, eine Qualitätszuschreibung, die von Autoritäten (Psychologen, Testinstituten) mehr oder weniger opportunistisch vergeben wird.

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden.

Einzug in den Bildungsdiskurs hielt der Begriff erst im Zusammenhang mit PISA. Die Vergleichbarkeit der Schulqualität musste mit einem wissenschaftlichen Messverfahren vollzogen werden. Die Stunde von Weinert, Klieme und andern pädagogischen Psychologen war gekommen, also von Leuten, die mehr von psychologischen Tests, aber weniger von Schule und Unterricht verstehen. Ihre Forschungen und Programme zielen deshalb hauptsächlich auf das, was im Unterricht herauskommen soll und wie dieses zuverlässig gemessen werden kann, anders gesagt auf den «Output».

Es entstand Panik

In der Bildungspolitik entstand nun aufgrund der PISA-Resultate eine Panik: Weil die Kompetenzen enttäuschend waren, musste das Bildungsprogramm umgestellt werden, nämlich derart, dass der Fokus in den Schulen von Anfang an auf Eignung und Tauglichkeit für bestimmte Zwecke gelegt werden sollte: die «Outputorientierung» war geboren. Daher der Auftrag, die Lehrpläne nicht mehr auf Inhalte und Lernziele auszurichten, sondern auf die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen.

Eberle nimmt Bezug auf die Lernziele (Mager, Bloom) und die entsprechenden Taxonomien in den Lehrplänen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Allerdings sind Lernziele und Kompetenzen nicht dasselbe: Lernziele beschreiben das Können, das ein inhaltliches Ziel erfordert, und zwar von der Sache her gedacht. Kompetenzen beschreiben die Dispositionen, personalen Fähigkeiten und Einstellungen, welche zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nötig sind. Der Unterschied liegt in der Perspektive: Lernziele sind didaktische Schritte, die zum Ziel führen. Kompetenzen sind mentale, psychisch-soziale und physische Möglichkeiten des Individuums, die als Grundlage für eine Leistung vorhanden sein müssen.

Es liegt deshalb schon in der Anlage des Konstrukts Kompetenz, dass Inhalte in dieser Betrachtungsweise zweitrangig sind. Kompetenzen sollen immer Bündel von Inhalten abdecken. Neben Ladenthin hat auch Konrad Paul Liessmann immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen.

Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Der Unterschied zwischen Lernzielen und Kompetenzen ist pädagogisch bedeutsam: Inhalte und Lernziele fokussieren in erster Linie auf fachliche Auseinandersetzungen, Problemstellungen, Lernprozesse, Gedächtnis, Verarbeitung und erst in zweiter Linie auf Anwendung. Kompetenzen kürzen ab, indem sie nur auf Resultate, Anwendung zielen und die Entwicklung, die diesen «skills» vorangeht, glauben überspringen zu können.

Die genannten Zusammenhänge lassen sich nicht mit Eberles Argumentation aus der Welt schaffen. Kompetenzen führen zu einer Verengung des Bildungsbegriffs, man mag es biegen und wenden, wie man will.

 

Anton Hügli, Was ist Kompetenz? Begriffsgeschichtliche Perspektiven eines pädagogischen Schlagworts, lvb.inform 2016/2017-03

 Rober F. Mager, Lernziele und Unterricht, Weinheim, Basel, 1978

The post Verabschiedet euch von der Kompetenz! first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/03/verabschiedet-euch-von-der-kompetenz/feed/ 4
Die Lüge der digitalen Bildung https://condorcet.ch/2023/01/die-luege-der-digitalen-bildung/ https://condorcet.ch/2023/01/die-luege-der-digitalen-bildung/#respond Sun, 15 Jan 2023 11:19:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=12877

Das ist der provokante Titel eines Buches von 2015, das 2020 bereits in der 4. Auflage erschienen ist und den ebenso streitbaren Untertitel trägt: «Warum unsere Kinder das Lernen verlernen.» Die beiden Autoren Gerald Lembke, Professor für Digitale Medien in Mannheim, und Ingo Leipner, Wirtschaftsjournalist, ernteten mit ihrem Buch heftigen Widerstand, der in Beschimpfungen gipfelte wie «vakuumversiegelte Hohlbirne». Und das, obwohl ihre Thesen durch einen Beitrag der Neurobiologin Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt, Universität Bielefeld, untermauert werden. Der Condorcet-Blog hat bereits 2019 einen Yotube-Beitrag von Professor Lembke aufgeschaltet (https://condorcet.ch/2019/05/dr-gerald-lembke-digitales-lernen-risiken-und-chancen/). Condorcet-Autor Felix Schmutz hat nun das Buch gelesen und stellt es in diesem Beitrag vor.

The post Die Lüge der digitalen Bildung first appeared on Condorcet.

]]>
Condorcet-Autor Felix Schmutz

Worum geht es?

Die Bildungspolitik fordert den frühen Einsatz der digitalen Geräte und treibt diesen mit hohem finanziellem Aufwand voran. Im Wesentlichen stellen die Autoren dieser Forderung die kognitive Entwicklung der Kinder gegenüber und verfahren dabei wie bei einem Faktencheck: Sind die Bildungsziele und die Angebote der IT-Branche mit der Reifung des Gehirns überhaupt verträglich? Sie kommen zum wenig überraschenden Schluss: Nein, sie sind es nicht: «Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter» (S.8).

Rückgriff auf Piaget

Dazu rekapitulieren die Autoren die kognitiven Entwicklungsphasen, die Jean Piaget erforschte. Jede Phase ist durch bestimmte Verhaltensweisen gekennzeichnet, in denen Menschen in der Interaktion mit der Umwelt so genannte Schemata (Denkstrukturen) aufbauen. Die Menschen versuchen, ein erworbenes Schema auf neue Situationen anzuwenden. Wenn es gelingt, spricht Piaget von «Assimilation». Misslingt die Assimilation, braucht es «Akkommodation», damit neue Schemata entstehen können.

Die Entwicklung beruht auf der Auseinandersetzung mit der konkreten, realen Umgebung, mit Objekten und Menschen. Wichtig: Die Entwicklungsstufen dauern je nach Individuum verschieden lange. Sie setzen jeweils die vorhergehende Stufe notwendigerweise voraus. Piaget unterscheidet:

Stadium 1 (null bis 2 Jahre) sensomotorische Phase: Greifen, Saugen, Werfen, etc., Leben im Hier und Jetzt.

Stadium 2 (ca. 2 bis 7 Jahre) prä-operatorische Phase: Wahrnehmung von Vergangenheit und Zukunft, Vorstellung eigener Welten, magisches Denken, Egozentrismus, Fehlen von abstrakten logischen Operationen (z.B. Mengenerhalt der Flüssigkeit bei unterschiedlichen Gefässen).

Stadium 3 (ca. 7 bis 12 Jahre) konkret-operatorische Phase: Fähigkeit, sich von der reinen Anschauung zu lösen, logische Operationen bleiben weitgehend auf konkrete Objekte und Ereignisse beschränkt (Mengenerhalt bei unterschiedlichen Gefässen verstanden).

Stadium 4 (ab ca. 12 Jahren fortschreitend): formal-operatorische Phase: rationales Nachdenken über hypothetische Situationen und komplexe Probleme, Selbstreflexion.

Das Krabbeln, Greifen, Werfen, Springen, Laufen, Balancieren, Klettern, Erkunden der Umgebung und der Objekte bildet die Voraussetzung, dass Kognition aufgebaut werden kann, dass Neuroplastizität entsteht.

Bestätigung durch die Hirnforschung

Was Piaget durch vielfache Experimente herausfand, wurde von der Hirnforschung inzwischen verifiziert und vertieft.

Der Hippocampus ist vor allem an an der Bildung und Aufrechterhaltung von Gedächtnisinhalten sowie an Lernprozessen beteiligt.

Erste Erkenntnis: Die neuronalen Strukturen und Bahnungen des Gehirns entstehen durch motorische Betätigung und durch menschliche Interaktion. Die riesige Menge von Neuronen erhält erst durch die synaptische Vernetzung ihre Funktion fürs Denken. Das physiologische Zusammenspiel von Hormonen und Neurotransmittern bewirkt die Selbstorganisation, die Reifung des Gehirns, wobei jede neue Entwicklungsstufe zu einer Reorganisation (Fachausdruck: Kompensation, entspricht Piagets Akkommodation) des Netzwerkes führt.

Die kognitiven Fähigkeiten entstehen also nicht aus dem Nichts. Das Krabbeln, Greifen, Werfen, Springen, Laufen, Balancieren, Klettern, Erkunden der Umgebung und der Objekte bildet die Voraussetzung, dass Kognition aufgebaut werden kann, dass Neuroplastizität entsteht. «Daher wächst aus dem kindlichen «Greifen» das «Begreifen» im Jugendalter (S.219).

Zweite Erkenntnis: Emotionale Zuwendung ist ein weiterer entscheidender Faktor für die Reifung des Gehirns, insbesondere des Hippocampus und des Stirnhirns, das für die Steuerung und Kontrolle der Prozesse im Gehirn verantwortlich ist. Emotionen regen das Belohnungssystem an, welches durch die Ausschüttung von Dopamin Konzentration und Gedächtnisleistung fördert.

Dritte Erkenntnis: Der gesunde Schlaf sorgt für die Ordnung und Verankerung des Gelernten und Erlebten.

Die Lernpsychologie der digitalen Bildung

Befürworter des frühen Einsatzes digitaler Geräte huldigen – bewusst oder unbewusst – der behavioristischen Vorstellung, dass Lernen durch Reize ausgelöst wird, die in ein bestimmtes Verhalten münden. Was im Gehirn geschieht, ist für Behavioristen eine «black box». Hauptsache, es resultiert die erwünschte Kompetenz.

Die beste Vorbereitung auf das digitale Zeitalter ist nicht ein möglichst frühes Hantieren mit Laptops und Handys, sondern das Verschieben der digitalen Hilfsmittel auf das Alter 12+ und ein möglichst aktives, analoges und der Entwicklung entsprechendes Lernen während der ersten drei Phasen der Gehirnentwicklung.

Digitale Bildung versus Gehirnentwicklung

  1. Der Einsatz digitaler Medien im Vorschulalter hat den verheerenden Effekt, dass wertvolle Entwicklungszeit nicht der Aktivität im realen Lebensraum gewidmet, sondern mit virtuellen Reizen vertan wird. Dadurch entsteht ein Defizit an neuronalen Vernetzungen, das sich auf die spätere Denkfähigkeit negativ auswirkt, denn Wischen und Klicken genügen nicht, um Synapsen zu befeuern.
  2. Die von Bildungsverantwortlichen anvisierten Ziele «verantwortlicher Umgang mit digitalen Medien», «kritische Beurteilung der Inhalte», «Nutzung des vorhandenen Wissens im Netz», etc. sind zwar zu begrüssen und für ältere Jugendliche essenziell, sie sind aber für Kindergarten und Primarschule illusorisch, da die dafür notwendigen formal-operatorischen Fähigkeiten im Gehirn noch nicht zur Verfügung stehen.
  3. Das Argument, digitale Medien könnten reale Erfahrungen der Kinder erweitern und ihr Verständnis verbessern, stösst deshalb ins Leere, weil das Gehirn zu diesem Zeitpunkt virtuelle Eindrücke noch nicht genügend verarbeiten kann und die Zeit deshalb besser vollständig in Realerfahrungen und analoge Aktivität investiert werden sollte.
  4. Der Erfolg von Lernvideos, in denen Inhalte lustvoll und anschaulich präsentiert werden, wird überschätzt. Kinder sind emotional auf die persönliche Beziehung mit der Lehrperson angewiesen, ein angemessenes Lerntempo und ein angepasstes Verständnisniveau können nur durch die direkte Vermittlung garantiert werden. Selbst erwachsene Studierende ziehen aus diesem Grund reale Lernveranstaltungen digitalen Lernvideos vor.
  5. Die schnelle Abfolge von Reizen bei der digitalen Vermittlung des Lernstoffes überfordert einerseits die Aufnahmekapazität des kindlichen Gehirns, führt anderseits durch die ständige Faszination neuer Clips zu einer Übersteuerung des Belohnungssystems. Die Folgen sind Suchtverhalten, Konzentrationsmangel, Störung der Impulskontrolle, ADHS, körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen, kognitive Minderentwicklung.
  6. In Kindergarten und Primarschule beschränken sich die digitalen Kompetenzen letztlich auf Wischen und Bedienen (=am richtigen Ort klicken). Dadurch geht wertvolle Zeit verloren, um hoch präzise motorische Fähigkeiten genügend zu üben, wie sie z.B. für die Handschrift und fürs Zeichnen oder zum Lernen eines Instruments ausgebildet werden müssen. Anstatt den Grundstein für den reflektierten Umgang mit Computern durch die analoge Anbahnung kognitiver Fähigkeiten zu legen, setzt man diese viel zu früh voraus.
  7. Der IT-Branche ist es gelungen, Ängste zu schüren, dass die Schulen nicht genügend auf die digitale Welt vorbereiten. Es sei unerlässlich, schon ab Kindergarten mit digitalen Medien zu operieren. Die entstandene Bildungspanik hat jedoch blind gemacht für die pädagogisch-psychologischen Nachteile. Sie hat auch darüber hinweggetäuscht, dass es um enorme finanzielle Interessen geht, wenn IT-Konzerne ihre Hard- und Software den Schulen schmackhaft machen und die junge Generation frühzeitig in eine Abhängigkeit von ihren Produkten führen.

Die Autoren kommen deshalb zum Schluss, dass die beste Vorbereitung auf das digitale Zeitalter nicht ein möglichst frühes Hantieren mit Laptops und Handys ist, sondern das Verschieben der digitalen Hilfsmittel auf das Alter 12+ und ein möglichst aktives, analoges und der Entwicklung entsprechendes Lernen während der ersten drei Phasen der Gehirnentwicklung.

The post Die Lüge der digitalen Bildung first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/01/die-luege-der-digitalen-bildung/feed/ 0
Replik auf Geschichtsmosaik im 3D-Format – Sind solche Grossprojekte sinnvoll und ergiebig? https://condorcet.ch/2023/01/replik-auf-geschichtsmosaik-im-3d-format-sind-solche-grossprojekte-sinnvoll-und-ergiebig/ https://condorcet.ch/2023/01/replik-auf-geschichtsmosaik-im-3d-format-sind-solche-grossprojekte-sinnvoll-und-ergiebig/#comments Fri, 06 Jan 2023 14:06:53 +0000 https://condorcet.ch/?p=12826

Der Praxisbeitrag unseres Condorcet-Autors "Geschichtsmosaik im 3 D-Format" hat einige positive Reaktionen geerntet. Condorcet-Autor Felix Schmutz' Begeisterung hält sich in Grenzen. Er stellt in seinem Kommentar einige kritische Fragen.

The post Replik auf Geschichtsmosaik im 3D-Format – Sind solche Grossprojekte sinnvoll und ergiebig? first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, Baselland: Der intendierte Lernstoff «Schweizer Geschichte» wird in Häppchen unterteilt,

Dafür spricht, dass die Jugendlichen zu eigenem Tun aktiviert werden. Sie müssen in eigener Verantwortung ihre Arbeit planen und durchführen: Sich Ziele setzen, Informationen beschaffen, diese verstehen und bearbeiten, daraus eine Präsentation generieren. Da sie in Gruppen arbeiten, lernen sie, sich über die Themen und Aufgaben zu verständigen. Sie lernen sich unter Zeitdruck zu organisieren. Gelingt das Projekt, ernten sie neben dem fachlichen Mehrwissen auch die Befriedigung, eine eigene Arbeit vorweisen zu können.

So weit, so gut und so schön. Welche Argumente schmälern die Begeisterung?

1. Der intendierte Lernstoff «Schweizer Geschichte» wird in Häppchen unterteilt, von denen die Lernenden eines herausgreifen und bearbeiten. Inwiefern erhalten sie dadurch ein kohärentes Bild von den Zusammenhängen der Entwicklung der Schweiz aus einem mosaikartigen Bündnissystem im Mittelalter zum modernen Bundesstaat im 19. und 20. Jahrhundert? Bleibt da nicht ein anekdotisch zusammengewürfeltes und unzusammenhängendes Mosaik im Gedächtnis? Man mag sich an das selbst bearbeitete Thema erinnern, jedoch kaum an die Präsentationen der andern Gruppen.

2. Jedes Thema steht in einem geschichtlichen, politisch-sozial-wirtschaftlichen Zusammenhang, der verstanden werden muss, um die Bedeutung der Ereignisse und das Handeln der Personen ermessen zu können. Diese Arbeit geht über das Copy-Paste-Verfahren aus Internetseiten heraus. Es ist fraglich, ob Jugendliche dieses Alters diese kognitiv anspruchsvolle Arbeit wirklich leisten können und ob wirklich ein sinnvoller Erkenntnisgewinn resultiert, der über das Basteln von Kartongebäuden und das Aufhängen von Fotos hinausgeht.

Wer vermittelt die Zusammenhänge?

Didaktisch stellt sich natürlich die Frage nach Sinn und Form des Geschichtsunterrichts in der heutigen Zeit:
1. Welche Geschichtsvorstellung soll in den Köpfen der Lernenden eigentlich entstehen?
2. Inwiefern können Kinder und Jugendliche in ihrer jeweiligen kognitiven Entwicklungsstufe geschichtliche Ereignisse, Zusammenhänge überhaupt verstehen und verarbeiten und wie soll dies didaktisch und methodisch berücksichtigt werden, ohne dass Überforderungen entstehen, die in das Urteil münden: «Geschichte und Politik interessieren mich nicht»?
3. Wie sollen historische Fakten gewichtet werden, welche Details sind wirklich bedeutungsvoll? Ist es wesentlich zu wissen, welche Kleider die Ägypterinnen der 10. Dynastie getragen haben, wie die Sandalen der römischen Soldaten beschaffen waren, wer 1938 wie viele Tore gegen Deutschland erzielte, aus welchen Kleinodien die Burgunderbeute bestand, wie genau die Dampfmaschine funktionierte? Oder sollte man wissen, was gemeint ist, wenn die Epoche Mittelalter erwähnt wird oder welche Veränderungen die Industrialisierung mit sich brachte oder welche Folgen die Kolonisierung der Kontinente Amerika und Afrika nach sich zog oder welche Bedeutung Napoleons Eingriff in die Politik der Schweiz hatte?
4. Wie nachhaltig soll das geschichtliche Wissen verankert werden? Soll man alles Durchgenommene gerade wieder vergessen dürfen, weil es letztlich nur zusammenhangsloses Detailwissen beinhaltet oder zu schwierig und langweilig ist?

The post Replik auf Geschichtsmosaik im 3D-Format – Sind solche Grossprojekte sinnvoll und ergiebig? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/01/replik-auf-geschichtsmosaik-im-3d-format-sind-solche-grossprojekte-sinnvoll-und-ergiebig/feed/ 3
Michaela – The Power of Culture https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/ https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/#respond Tue, 22 Nov 2022 19:17:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=12376

Die kämpferische Katharine Birbalsingh, Leiterin der Michaela-Schule in Londons «Brennpunkt»- Stadtteil Brent, veröffentlichte 2020 ein Buch, in dem ihre Lehrpersonen das pädagogische Konzept und die Praxis der Schule ausführlich darstellen. Gegen alle Bedenken und Widerstände der Mainstream-Pädagogik gelang es Birbalsingh und ihren Mitstreitern 2014, ihre auf traditionelle Werte ausgerichtete Sekundarschule zu eröffnen. Inzwischen erfüllt Michaela Standards, die sie im nationalen Vergleich zur fünftbesten Schule Grossbritanniens machen. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat das Buch gelesen. Die Redaktion legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass das zum Teil harte Disziplinarregime keineswegs auf Schweizer Schulen übertragbar ist. Unstrittig ist dagegen, dass die Rückbesinnung auf eine pädagogische Praxis, die wirkt und der Situation angepasst ist, erfolgversprechender ist, als die Wunschprosa mancher Bildungsexperten.

The post Michaela – The Power of Culture first appeared on Condorcet.

]]>
Condorcet-Autor Felix Schmutz, Baselland

Der Titel «The Power of Culture” ist doppeldeutig: Mit «culture» ist einerseits die in der Schule umgesetzte, den Alltag bestimmende Philosophie gemeint, anderseits die Konzentration auf traditionell exemplarische Lerninhalte und Lernmethoden. Im Zusammenspiel ergibt sich, so der Tenor des Buches, eine machtvolle Wirkung auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die Lernenden finden trotz ihrer Herkunft aus benachteiligten Familien, aus einer Gegend mit Bandenkriegen und Messerstechereien zu erstaunlichen akademischen Leistungen, die ihnen sogar den Zutritt zu begehrten Studienplätzen eröffnen.

Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden.

Michaela tritt mit dem Anspruch auf, die fehlgeleiteten Reformen der letzten Jahre zu korrigieren. Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden: Kompetenzen, standardisierte Tests, schülerzentriertes Arbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Nachteilsausgleiche, Abschaffung der Hausaufgaben, Nachsicht bei Schwänzen seien Konzepte, die den Benachteiligten nicht geholfen hätten, sondern im Gegenteil dazu beigetragen hätten, ihre Chancen zu verringern.

Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing.

Katahrina Birbalsingh, Schulleiterin Michaela School, London: Die Bildungsforscher sollten auch von uns lernen.

Die Kolleginnen und Kollegen der Michaela-Schule begründen diesen bei Schulbehörden und Erziehungswissenschaftlern unbeliebten Standpunkt argumentativ überzeugend und präsentieren ihre Lösungen, um dem verhängnisvollen Matthäus-Effekt entgegenzuwirken:

 

  • Zentral ist der Gedanke, benachteiligten Kindern nicht mit einer Form von Nachsicht und Milde zu begegnen, die ihr soziales Fehlverhalten und ihre Lerndefizite entschuldigt. Damit würden sie von Anfang an als Opfer einer ungerechten Gesellschaft angesehen, ihre Lebensenergie, aus sich etwas zu machen, werde gleichsam erstickt, ihnen werde vermittelt, sie könnten ja doch nichts erreichen (victimhood). Vielmehr müssten sie ermutigt werden, trotz möglicher Nachteile das Beste aus sich zu machen, alles zu mobilisieren, was sie an sich selbst verändern und verbessern können und nach Höherem zu streben. Unabhängig von ihrem allfälligen Migrationshintergrund oder ihrer Religion sollen sie mit britisch-europäischem Gedanken- und Kulturgut vertraut gemacht werden, um sich fest in die einheimische Gemeinschaft einbetten zu können.

 

  • Daraus ergeben sich Konsequenz und Achtsamkeit im Schulbetrieb: Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing, Lärmen und Toben in den Gängen (Schweigepflicht beim Zimmerwechsel), Nichterledigen der Hausaufgaben. Verstösse werden täglich mit Nachsitzen (detention) oder Verweisen (demerits) geahndet. Die Lernenden werden ermuntert, freiwillig ihre I-Phones abzugeben (digital detox), stattdessen können sie einfache Natels beziehen, die keine Internetverbindung haben. Aus der Schule verbannt wird gewaltverherrlichender Rap, stattdessen ertönen über die Lautsprecher bei der morgendlichen Zusammenkunft (register) klassische Musikhäppchen. Eingefordert werden kameradschaftliches Benehmen und mündlich und schriftlich geäusserte Dankbarkeit (gratitude) gegenüber Lehrpersonen und dem schulischen Personal. Jeden Morgen erzählt die beauftragte Leitungsperson eine aufbauende Geschichte.

 

  • Was nach drakonischem Drill oder Indoktrination aussieht, wird jedoch kompensiert durch eine besondere Art der ständigen, individuell ausgerichteten Zuneigung und Förderung. Den Verweisen bei Fehlverhalten wird Lob gegenübergestellt bei Wohlverhalten, beim Erfüllen von Leistungsanforderungen, bei Fortschritten – und seien sie auch noch so gering. Strafen werden nicht ohne persönliche Gespräche verfügt. Bei fachlichen Schwierigkeiten werden bereitwillig Nachhilfe und Betreuung geleistet. Ermutigung und Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonen und Lernenden stehen bei Michaela an erster Stelle. Gemeinschaftsgeist und Individuum sollen auf diese Weise gleichgewichtig gestärkt werden (care for our pupils).

 

  • Die Lehrkräfte pflegen einen geführten Unterricht aus der Überlegung, dass die Lernenden wenig von zu Hause mitbringen und deshalb
    Where “working hard and being kind” are part of the curriculum.

    an die Inhalte herangeführt werden müssen. Der Lehrplan hält sich in allen Fächern an bewährte traditionelle Inhalte: Geschichtliche Epochen vor thematischen Längsschnitten, exemplarische literarische Werke (Shakespeare) vor modischer Betroffenheitsliteratur, Beherrschung der rechnerischen Grundoperationen vor Benützen des Rechners. Das Wissen wird schrittweise und systematisch aufgebaut, wobei darauf geachtet wird, dass sich die entscheidenden Inhalte sowohl langfristig einprägen (rote learning and inflexible learning) als auch vertieft und strukturiert für Anwendungen zur Verfügung stehen (flexible knowledge). Die methodischen Verfahren und die Formen der regelmässigen Überprüfung mit quizartigen Tests werden im Buch detailliert erläutert, auch um falschen Vorstellungen vorzubeugen.

 

  • Die Schule pflegt eine Kultur der offenen Klassenzimmer. Kolleginnen und Kollegen besuchen sich ständig unangekündigt gegenseitig im Unterricht und geben einander Anregungen, was sie gut finden oder was verbessert werden könnte. Birbalsingh zieht diese Offenheit und Ermutigungsform dem allgemein üblichen Qualitätsmanagement mit Zielvereinbarungen (targets) und dem Ausrichten von Leistungslöhnen oder Belohnungen vor. Die Zusammenarbeit wird durch intensive fachliche und pädagogische Austausch-Kolloquien gepflegt. Neue Angestellte werden von den Kolleginnen und Kollegen sorgsam eingeführt und mentoriert. So herrscht in der Michaela-Schule eine Art Unité de doctrine (alignment), die das Kollegium dauerhaft weiterentwickelt.

 

Die Zusammenfassung einiger Aspekte der Michaela-Schule zeigt auf, wie die öffentliche Schule einen Ausweg aus der Reformmanie finden könnte. Es ist gleichzeitig eine Rückbesinnung auf grundlegende erzieherische und inhaltliche Prinzipien wie auch eine Hinwendung zu einer betreuenden und fördernden Organisation. Nachdem 2020 die ersten Jahrgänge die Schule mit Erfolg verlassen haben, ist es noch zu früh, um abschliessend zu beurteilen, ob das Konzept von Michaela dauerhaft erfolgreich sein wird.

The post Michaela – The Power of Culture first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/11/michaela-the-power-of-culture/feed/ 0
Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf https://condorcet.ch/2022/09/erfolg-null-nur-ein-riesenleerlauf/ https://condorcet.ch/2022/09/erfolg-null-nur-ein-riesenleerlauf/#comments Wed, 28 Sep 2022 10:25:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=11762

Condorcet-Autor Felix Schmutz widerspricht dem Condorcet-Autor Alain Pichard, der in seinem Beitrag "Wo Vergleiche Sinn machen" mahnt, Vergleichsteste nicht pauschal abzulehnen. Die These, dass Vergleichsteste Rückschlüsse auf die Unterrichtsqualität geben können, stellt er in seiner Antwort in Frage.

The post Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, Baselland: Mit statistischen Durchschnitten zu operieren, bringt wenig zu Tage über die Qualität der Instruktion.

Lieber Alain
Du beschreibst Leistungstests als eine Möglichkeit, durch den Vergleich Schwachstellen des Unterrichts aufzuzeigen und daraus Lehren für Verbesserungen zu ziehen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es funktionieren würde. Doch genau hier liegt das Problem.
Die sechs Schulstandorte der früheren Weiterbildungsschule Basel (8./9.Schuljahr) führten ab 2000 Vergleichsarbeiten in Deutsch, Mathematik und Französisch/bzw. Englisch durch. Wir Lehrpersonen brüteten über den Resultaten. An Stellwänden hingen die aufgeschlüsselten Leistungspunkte der einzelnen Klassen und die Vergleichswerte der anderen Standorte.

Feststellung 1:
Schon innerhalb der Klassen gab es grosse Unterschiede, etwa nach der Gauss’schen Kurve. Ausreisser nach oben und nach unten kamen fast in jeder Klasse vor.

Feststellung 2:
Zwei Parallelklassen, vom selben Mathematiklehrer unterrichtet, wiesen im einen Fall überdurchschnittliche Punktzahlen, im andern Fall unterdurchschnittliche auf. Pikanterweise waren es Klassen des Schulleiters!

Feststellung 3:
Tatsächlich erzielten einige Lehrkräfte über die Jahre hinweg durchschnittlich etwas bessere Leistungen als andere.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission

Kommentar zu 1:
Mit statistischen Durchschnitten zu operieren, bringt wenig zu Tage über die Qualität der Instruktion. Um den Erfolg des Unterrichts zu eruieren, müssten Leistungskurven bei denselben Lernenden über mehrere auseinander liegende Zeitpunkte hinweg erhoben werden. Das ergäbe eine Lernfortschrittskontrolle, die über die Wirksamkeit des Unterrichts, bzw. der Fördermassnahmen Aussagen zuliesse. Man könnte konkret aufzeigen, welche Methoden, Massnahmen und Materialien den Fortschritt bewirkten.

Kommentar zu 2:
Inwiefern kann die Lehrperson von sich selber lernen, wenn sie bei zwei vergleichbaren Gruppen mit demselben Unterricht unterschiedliche Resultate erzielt? Liegt es an der Beziehung Lehrer – Klasse, an der unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung der Klassen, an der unterschiedlichen kognitiven Ausstattung der Lernenden? Der Befund gibt nichts her über die Unterrichtsqualität.

Kommentar zu 3:
Eine heikle Aufgabe für Kollegium und Schulleitung. A und E freut es, wenn sie besser sind als B, C und D. Die drei Verlierer können die Erkenntnis, schlechter zu sein, auf verschiedene Arten verarbeiten: A und E machen nur Teaching to the Test oder betrügen. A und E haben bessere Klassen. B war längere Zeit krankheitsabwesend, C war im Militärdienst, D hatte unmögliche Eltern in seiner Klasse, etc.
Man stelle sich vor, die Schulleitung lobe A und E, ziehe B, C und D zur Rechenschaft und überzeuge sie, die Methoden von A oder E zu übernehmen. Ein Horror für das Klima im Kollegium! Was also tun? Das Problem vergesellschaften: ein externes Coaching beiziehen, Lektionen auf Video festhalten und analysieren, ein neues Schulleitbild kreieren, eine Nachhilfestunde mit Hatties «Visible Learning» veranstalten, mit Gruppen- und Plenumsdiskussionen und farbigen Punkten an Whiteboards, etc. All dies ist nicht frei erfunden, sondern hat tatsächlich so stattgefunden! Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf.

«Mensch, du musst dein Leben ändern.», nennt P. Sloterdijk den verbreiteten Optimierungswahn unserer Zeit, der uns vorgaukelt, wir könnten über unsere Grenzen hinauswachsen.

Letztlich stellt sich die Frage: Kann man aus untalentierten Lehrpersonen talentierte machen? Kann man aus wenig Motivierten Motivierte machen? Kann man aus Leuten, die mit Führungsaufgaben überfordert sind, Autoritätspersonen machen? Kann man fachlich Schwache zurück an die Uni oder die PH schicken, um ihre Lücken zu schliessen? Die Erfahrung zeigt: Nein, leider gibt es den Zauberstab nicht. Die Resultate werden bei der nächsten Vergleichsarbeit wieder ähnlich ausfallen. «Mensch, du musst dein Leben ändern.», nennt P. Sloterdijk den verbreiteten Optimierungswahn unserer Zeit, der uns vorgaukelt, wir könnten über unsere Grenzen hinauswachsen.

Vielmehr wurde die Schulleitung ausgewechselt, ein neues Konzept entwickelt. Gleichzeitig wurde der Teil des Lehrkörpers, der nicht ins Konzept passte, durch solche ersetzt, die willens und fähig waren, im bewussten Stil zu unterrichten.

Natürlich, wirst Du mir entgegnen, gibt es das Narrativ von den wundersamen Verwandlungen von Brennpunktschulen in Vorzeigeschulen.
Allerdings sind solche Erfolge nicht dem Lernen aus Vergleichen geschuldet: Vielmehr wurde die Schulleitung ausgewechselt, ein neues Konzept entwickelt. Gleichzeitig wurde der Teil des Lehrkörpers, der nicht ins Konzept passte, durch solche ersetzt, die willens und fähig waren, im bewussten Stil zu unterrichten. Zahlreich sind die Beispiele, bei denen dies auch nicht funktionierte: Missstimmung im Kollegium, Elternproteste, politische Auseinandersetzungen, Kündigungen, Auswechseln der Schulleitung, etc.

Fazit: Irgendjemand müsste erstens ganz konkret darlegen, inwiefern Vergleichsarbeiten, unabhängig vom Einfluss anderer Faktoren, tatsächlich Unterschiede in der Unterrichtsqualität zulassen und zweitens, welche konkreten Schlüsse aus Vergleichen zur Verbesserung des Unterrichts gezogen werden können.

The post Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/09/erfolg-null-nur-ein-riesenleerlauf/feed/ 1
Selbstständigkeit in der Schule https://condorcet.ch/2022/08/selbststaendigkeit-in-der-schule/ https://condorcet.ch/2022/08/selbststaendigkeit-in-der-schule/#comments Mon, 08 Aug 2022 06:05:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=11163

Condorcet-Autor Felix Schmutz nahm den Bericht zweier Eltern (https://condorcet.ch/2022/08/die-volksschule-als-tollhaus-erlebnisbericht-eines-elternpaars/, 2.8.22) zum Anlass, über Selbständigkeit im Unterricht nachzudenken.

The post Selbstständigkeit in der Schule first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, Baselland:
Selbstständigkeit muss strukturiert entwickelt werden.

Im  Artikel «Die Volksschule als Tollhaus» bezweifeln die Eltern-Autoren, dass das Postulat der Erziehung zur Selbstständigkeit erreicht wird mit den Methoden, die sie in der Schulpraxis beobachten konnten. Die beschriebenen Situationen deuten darauf hin, dass das Ziel «Selbstständigkeit» eher eine Ausrede für Laissez-faire, Gleichgültigkeit, Unfähigkeit oder ideologische Verblendung der Unterrichtenden war.

Begriffsklärung

Was soll man unter Selbstständigkeit verstehen? Gemeint ist wohl ein Verhalten, welches darin besteht, Aufgaben eigenständig anzugehen und verantwortungsbewusst zu meistern. Wer ohne Zutun der Eltern zu Hause nach der Schule seine Hausaufgaben nach besten Möglichkeiten ordentlich löst, gibt ein Beispiel von Selbstständigkeit.

Selbstständigkeit rückt damit in die Nähe des aufklärerischen Begriffs «Mündigkeit», mit dem Kant operiert hat. Selbstständigkeit liesse sich somit als Vorstufe der Mündigkeit definieren, auf die erzieherische Arbeit in der Schule hinführen soll.1

Selbstständigkeit gibt es in unterschiedlicher Qualität: Bestimmte Handlungen wie Schuhbinden, Trottinettfahren eigenständig auszuführen, gehört in die Kategorie der erworbenen Techniken, welche die notwendige erste Stufe der Selbstständigkeit bildet. Das eigenständige Lösen von komplexeren Aufträgen und Aufgaben, welche Planung, Organisation und Gestaltungs- und Meinungsfreiheit erfordern, bildet die zweite, anspruchsvollere Stufe. Mündigkeit wäre die dritte Stufe der Selbstständigkeit, bei der eigenverantwortliches Denken und Handeln ohne erzieherische Begleitung erfolgt.

Selbstständigkeit liesse sich somit als Vorstufe der Mündigkeit definieren, auf die erzieherische Arbeit in der Schule hinführen soll.

Allerdings ist die Möglichkeit von Selbstständigkeit im Schulalter offensichtlich begrenzt. Um Aufträge selbstständig erledigen zu können, müssen diese in Schwierigkeit, Komplexität und Umfang der Altersreife, dem fachlichen Vorwissen, dem Allgemeinwissen angepasst sein. Im Hinblick auf «Mündigkeit» kann sich Selbstständigkeit zudem nur entwickeln, wenn innerhalb eines gesteckten Rahmens genügend Spielraum gewährt wird.

Selbstständigkeit kann man nicht generell lernen, sie ist an die Zusammenhänge gebunden, in denen sie erworben wird und lässt sich nicht immer leicht auf neue Zusammenhänge übertragen. Wer grosses Bastelgeschick hat und selbstständig Geschenke für die Verwandtschaft herstellt, mag bei anderen Aufgaben, z.B. beim Lernen einer Fremdsprache, hilflos erscheinen und sich völlig unselbstständig verhalten.

Selbsttätigkeit: kein Selbstläufer

Auch ist Selbstständigkeit kein Selbstläufer, der durch den Stoss ins kalte Wasser mit ein bisschen Lehrgeld erlernt wird. Vielmehr brauchen Lernende je nach individueller Veranlagung oder früherer Erfahrung mehr oder weniger Anleitung, um sich selbstständig verhalten zu können. Manchmal mag schon Nachahmung eines beispielhaften Verhaltens als Anleitung genügen. In anderen Fällen muss das eigenständige Verhalten eng begleitet und schrittweise erworben werden.

Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass Selbstständigkeit ein erstrebenswertes Erziehungsziel der Schule ist, das jedoch ähnlich wie das Fachwissen sorgfältig und bewusst entwickelt werden muss und nicht einfach nebenher dem Zufall überlassen werden sollte.

Lehrpersonen müssen sich deshalb fragen, inwiefern ihre Art zu unterrichten und den Kindern und Jugendlichen zu begegnen, Selbstständigkeit aufbaut, fördert, unterstützt oder im Gegenteil lähmt, verhindert oder geradezu abwürgt. Dazu zwei Beispiele aus der Praxis:

1) Was Selbstständigkeit lähmt

Ein von sich selbst überzeugter, durchaus erfahrener Kollege gibt der neuen Klasse einen Projektauftrag: «Gebt eurer Gruppe ein Thema, bearbeitet es und präsentiert die Ergebnisse. Zeit: 4 Lektionen.» Die Lernenden sind jedoch mit der Projektmethode nicht vertraut. Die Aufgabe ist eine klassische Überforderung.

Was geschieht? Ein riesiges Chaos entsteht, an einigen Tischen kommt es zu lautem Streit. Der Frust ist nach kurzer Zeit spürbar. Jetzt kommt der grosse Moment des Kollegen. Er erhebt die Hand und ruft in beruhigendem Ton: «Halt, halt, halt. So geht das wohl kaum!»

Er hat das Chaos ganz bewusst provoziert und übernimmt jetzt die Rolle des Retters und Erlösers, indem er die entstandenen Energien kanalisiert, die Arbeiten detailliert strukturiert und vor allem ziemlich autoritär nach seinen Vorstellungen ausrichtet. Immer noch frustriert, von ihrer Unfähigkeit überzeugt, aber dankbar nehmen die Lernenden die Ratschläge an und führen sie aus. Was hat der Kollege erreicht? Anstatt zu selbstständigem Handeln anzuleiten, hat er die Klasse in die Abhängigkeit des grossen Steuermanns geführt. Gelernt wird: «Ich kann es nicht selbst, man muss mir zeigen, wie es geht.»

2) Was Selbstständigkeit fördert

Eine Kollegin plant einen Spielnachmittag mit ihrer Klasse, bei der die Lernenden gruppenweise Geschicklichkeitsspiele mit den andern durchführen sollen.

Die Strukturierung der Aufgabe führt dazu, dass kein Chaos entsteht und die Kinder sicher wissen, was von ihnen verlangt wird.

Zunächst lässt sie die Klasse im Plenum Ideen für Spiele sammeln und hält sie an der Wandtafel fest. Die Vorbereitung der Spiele wird an die Gruppen vergeben mit genauer Anleitung: Formuliert die Regeln, plant den Ablauf, verteilt die Aufgaben während des Ablaufes, welches Material wird benötigt, besteht Unfallgefahr?, etc.

Die Gruppenarbeit umfasst somit eine begrenzte Aufgabe, innerhalb derer Fantasie und Gestaltungsfreiheit möglich sind. Die Ergebnisse werden vorgestellt und gegebenenfalls angepasst und verbessert. Die Strukturierung der Aufgabe führt dazu, dass kein Chaos entsteht, die Kinder sicher wissen, was von ihnen verlangt wird, sie dennoch eigene Ideen einbringen können, dass sie also gefordert, aber nicht überfordert werden und dass ihre Arbeit sachlich aufbauend gewürdigt wird. Sie lernen eigenständiges, verantwortliches Handeln in einem vertretbaren Rahmen.

Fazit: Selbstständigkeit muss strukturiert entwickelt werden. Um es «neudeutsch» auszudrücken: «Empowerment» zur Selbstständigkeit ist gefragt. Dabei kommt es auf die Balance zwischen vorgegebenen Rahmenbedingungen, gewährter Gestaltungsfreiheit und aufbauendem Feedback an. Nicht einmal, sondern in verschiedenen Zusammenhängen muss Selbstständigkeit gelernt werden. Wer hingegen zu viel auf einmal einfordert, erzeugt Chaos, Hilflosigkeit und Abhängigkeit, genau das, was man eigentlich nicht will.

 

1 Immanuel Kant Was ist Aufklärung?, Berliner Monatsschrift, 1784: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Positiv ausgedrückt: Mündigkeit ist das Vermögen, selbstständig zu denken und zu handeln.

 

 

 

 

 

 

 

The post Selbstständigkeit in der Schule first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/08/selbststaendigkeit-in-der-schule/feed/ 2
Scheinheilig https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/ https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/#respond Thu, 05 May 2022 14:21:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=10919

Condorcet-Autor Felix Schmutz reagiert prompt auf den Beschwichtigungsversuch der baselstädtischen Kommunikationsabteilung. Die nebulöse Zurücknahme der rigiden Kommunikationsvorgaben durch den Amtsvorsteher Urs Bucher (https://condorcet.ch/2022/03/mehr-orban-wagen-wie-das-basler-erziehungsdepartement-kritiker-zum-schweigen-bringt/) sei scheinheilig und verwedle die eigenliche Absicht.

The post Scheinheilig first appeared on Condorcet.

]]>
Felix Schmutz, Baselland:
Lehrkräfte sind auch Staatsbürger.

Simon Thiriet unternimmt einen Beschwichtigungsversuch, der wenig glaubhaft ist. Die Hierarchisierung der Schulorganisation, die Aufblähung der ED-Amtsstuben mit pädagogischen Mitarbeitern haben zu einer Gängelung der Unterrichtenden in ihrem Handeln geführt.

Die Weisung behandelt Lehrkräfte so, als wären sie Angestellte einer Firma. Das ist falsch!

Thiriet weiss natürlich, dass Lehrpersonen auch Staatsbürger sind, für die Meinungsfreiheit gilt. Die Weisung behandelt Lehrkräfte so, als wären sie Angestellte einer Firma. Das ist falsch! Lehrkräfte sind Fachleute, Experten auf dem Gebiet des Unterrichts und der Erziehung mit reicher Erfahrung. Davon hat ein Herr Thiriet keine Ahnung. Wenn Thiriet nun behauptet, Kritik medial zu äussern, sei möglich, wenn die Schulleitung davon informiert werde, wenn der Name der Schule verschwiegen werde, wenn die Kritik an die Schulleitung oder die Organe der Schulkonferenz geleitet werde, behandelt er die Lehrkräfte wie Kindergärtler. Seine Bedingungen schaffen Ungewissheiten und Hürden, die abschreckend wirken und die Beanstandungen versanden lassen sollen. Warum? Oft richtet sich die Kritik ja gerade gegen die von Behörden und Schulleitung vertretenen Positionen. Da geht es nicht um Baumfällaktionen oder Ping-Pong-Tische auf dem Pausenhof, sondern um pädagogische, didaktische oder schulorganisatorische Entscheide des ideologielastigen Erziehungsdepartementes. Kritische Einwände könnten das Bild einer harmonisch funktionierenden Schulwelt empfindlich trüben und die Eminenzen des ED-Apparats in Frage stellen. Nur darum geht es bei der zitierten Maulkorb-Weisung.»
Felix Schmutz, pens. Sekundarlehrer, Allschwil

The post Scheinheilig first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/05/scheinheilig/feed/ 0