Alle sprechen von Bildung – allerdings: Das, was mit «Bildung» gemeint ist, wird in der Regel (auch und insbesondere von jenen, die besonders oft davon reden) nicht ausgeführt. Eine Konsequenz dieses Umstandes ist, dass der Bildungsdiskurs zwar oft von Schule, von Unterricht, von Kompetenz oder von den vielbeschworenen «Future Skills» handelt, selten aber von, eben, Bildung.

Zur Erinnerung an den Kern der Debatte wäre eine Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff angebracht – so liesse sich auch eruieren, ob dieser Begriff entgegen dem gegenwärtigen Diskurs nicht vielleicht doch als relevant betrachtet werden kann.
Also: Was ist – Bildung? Wer ist – gebildet? Und: Ist das Wissen davon überhaupt noch von Bedeutung? Um Frage(n) wie diese beantworten zu können, muss man sich nicht unbedingt mit Humboldt, mit Goethe oder mit Hegel auseinandersetzen. Für ein grundlegendes Verständnis reicht es, wenn man sich mit einem Philosophen beschäftigt, der sich intensiv den genannten Denkern gewidmet hat – und der deren Bildungsbegriff auf eine pointierte Weise ausformuliert.
Wer ist ein gebildeter Mensch?
Robert Spaemann hielt unter dem Titel «Wer ist ein gebildeter Mensch?» Anfang der 1990er eine Promotionsrede, publizierte unter dem gleichen Titel zu Beginn der 2000er einen Aufsatz und blieb mit diesem seinem Thema über die letzten Jahre hindurch eine Referenzgrösse – so zumindest bei denjenigen, die «Bildung» nicht nur sagen, sondern auch verstehen.

Im Einklang mit Humboldt, mit Goethe und mit Hegel hat Spaemann hervorgehoben: Der Gebildete hat seinen «animalischen Egozentrismus» hinter sich gelassen und hält die eigene Perspektive für irrelevant. Der Gebildete hat sein «objektives Interesse» ausgebildet und erachtet die Aussenwelt für entscheidend.
Und der Gebildete ist – so gesehen – das Gegenteil desjenigen, der sich selbst «sehr ernst» nimmt. Nein, nicht man selbst ist entscheidend: «Gebildet ist, wen es interessiert, wie die Welt aus anderen Augen aussieht», so ist an einer Stelle zu lesen, «und wer gelernt hat, das eigene Blickfeld auf diese Weise zu erweitern.»
Klassischer Bildungsbegriff
Im diesem klassischen, traditionellen Sinn besteht «Bildung» nicht zuletzt aus einem «spezifischen Selbst- und Weltverhältnis», ein Verhältnis, bei welchem das Subjektive permanent überschritten wird. Kennzeichen von derartiger Hinwendung zum Objektiven sind Selbstkritik ebenso wie Offenheit, Ironie ebenso wie Neugier, Desinteresse an Bekanntem ebenso wie Interesse am Unbekannten.
Die innere Distanz, die charakterliche Lockerheit, die Absenz von Dogmatismus und also auch zum Beispiel das offene Ohr für die fremde Meinung gehen mit Bildung einher.
Um ein konkretes, fassbares, im Spaemann’schen Werk immer wieder auftauchendes Charakteristikum von Bildung zu geben: Zur Bildung gehört, dass man nicht auf die Idee kommt, die subjektive Meinung als objektive Tatsache hinzustellen. Die innere Distanz, die charakterliche Lockerheit, die Absenz von Dogmatismus und also auch zum Beispiel das offene Ohr für die fremde Meinung gehen mit Bildung einher.
Und so ist es auch nachvollziehbar, dass «Gebildetsein und Gutsein» eine Verwandtschaft besitzen, wie der Philosoph mal gesagt hat. Gebildete Menschen sind in der Regel «gute» Menschen, man ist gerne mit ihnen zusammen, man hat Freude an ihnen. «Und das ist es, weshalb es sich – unabhängig von den Zufälligkeiten gesellschaftlicher Wertschätzung – lohnt, ein gebildeter Mensch zu sein.»
Wege zur Bildung
Übrigens hat sich Robert Spaemann auf der Basis dieses seines Bildungsverständnisses immer wieder sehr engagiert in die Bildungsdebatte eingebracht. Er brachte dabei vornehmlich zwei Gedanken ins Spiel: Die nur auf ökonomische Schlagworte fokussierenden Schulsysteme («Future Skills», «4Ks», «Innovation» etc.) sind nicht geeignet, gebildete Menschen hervorzubringen – und es wäre darüber nachzudenken, was für Systeme denn geeignet wären, Gebildete heranzuziehen.
Auf Letzteres gab Spaemann wiewohl nie eine ausführliche, so doch eine fundamentale Antwort. Diese Antwort ähnelt jener Antwort, welche in jüngerer Zeit u. a. Roland Reichenbach gegeben hat, so etwa in einer «Sternstunde Philosophie»: Schulen müssten ihre Schüler/-innen primär mit den grundlegenden Wissenschaften vertraut machen, denn dabei lerne man, sich von der eigenen Welt ab-, der anderen Welt zuzuwenden – und werde also gebildet.
Bildung wird gerade nicht gefördert, wenn man das Subjektive des Schülers / Studenten, so etwa seine Motivation, seine Perspektive oder seine Meinung, allzu sehr in den Mittelpunkt stellt, denn durch diese Art der Förderung wird’s zur Gewohnheit, dass sich derjenige für den Massstab aller Dinge hält. Und das soll Bildung sein?
Die Beschäftigung mit Naturwissenschaften wie der Physik, mit Geisteswissenschaften wie der Geschichte oder mit Sozialwissenschaften wie der Geografie fördere zunächst ein Verständnis dessen, wie die Welt ist. Daraufhin aber auch ein Bewusstsein dafür, dass man selbst nur ein kleiner Teil dieser Welt ist. Man erkennt – und just darum geht es bei Bildung –, dass neben der eigenen Welt noch eine andere, viel grössere Welt existiert.
Etwas brutal gesagt: Bildung wird gerade nicht gefördert, wenn man das Subjektive des Schülers / Studenten, so etwa seine Motivation, seine Perspektive oder seine Meinung, allzu sehr in den Mittelpunkt stellt, denn durch diese Art der Förderung wird’s zur Gewohnheit, dass sich derjenige für den Massstab aller Dinge hält. Und das soll Bildung sein?

Unzeitgemässheit als Aktualität
Die Aktualität von Bildung im hier geschilderten Verständnis liegt auf der Hand. Dieser klassische, traditionelle, etwas altbackene Begriff ist aktuell gerade drum, weil er unzeitgemäss ist, weil er also auf etwas verweist, das quer steht zum gesellschaftlichen Normalzustand: Die für Bildung charakteristische Breite des Horizonts ist aktuell im Zeitalter der Meinungsblase, die dafür typische Lust aufs Unbekannte ist aktuell in einer Ära der Selbstbezogenheit, die dabei stets präsente Ausrichtung an Wissenschaft ist aktuell überall dort, wo Desinformation, Fake News und Co. herrschen. Gebildete – insbesondere darin liegt ihre Relevanz für die Gegenwart – wollen nicht selbstbezogen in einer Meinungsblase voller Falschinformation sitzen; vielmehr versuchen sie, sich gut informiert am Weltgeschehen zu orientieren.
Und nicht nur als direktes Gegengewicht zur Problemlage der Gegenwart ist Bildung von Aktualität. Entgegen der populären Ansicht ist das ursprüngliche Bildungsverständnis keineswegs stets mit einem Konservativismus verbunden, bei welchem jedwede Neuerung im Schulsystem abgelehnt werden muss. Der Witz an der Sache ist ja, dass der Gebildete sein eigenes Ideal zu relativieren vermag – und grundsätzlich offen ist für andere Ideale!
Dementsprechend bedeutet Bildung in einem praktischen Kontext stets auch Interesse an Neuerung
Dementsprechend bedeutet Bildung in einem praktischen Kontext stets auch Interesse an Neuerung: Auch mit dem in Rede stehenden Bildungsideal im Hinterkopf kann man für etwaige «Future Skills» einstehen und dabei ohne Widerspruch zu seinem Ideal anerkennen, dass neben den alten Schulfächern beispielsweise die Fähigkeit zum effizienten Einsatz von Künstlicher Intelligenz von grossem Nutzen ist.
Zur Zukunft der Bildungsdebatte
Schön und gut, dass diese Fähigkeiten gefördert werden, helfen sie doch, dass sich junge Menschen zu nützlichen, unkompliziert einsetzbaren Mitarbeiter/-innen in der staatlichen Verwaltung, im privatwirtschaftlichen Betrieb oder in einer anderen Organisation des demokratischen Kapitalismus transformieren lassen! Allerdings: Die Fähigkeiten haben – genau besehen – wenig mit dem Bemühen um Bildung, viel mit der Anforderung des Arbeitsmarkts zu tun.
Im Zuge einer Bildungsdebatte, welche ihrem Namen gerecht werden will, sollte deshalb hie und da daran erinnert werden, dass es beim Diskutieren über die Zukunft der Bildung nicht nur um diejenigen «Skill-Sets» gehen sollte, welche man «im 21. Jahrhundert» angeblich «braucht», nicht nur um «AI Literacy», um «Media Competence» und um andere «zeitgemässe» Fertigkeiten. Ab und an sollte es in der Bildungsdebatte auch um anderes gehen, so nicht zuletzt um, eben, Bildung.
Christian Marty, geb. 1988, ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte der Soziologie. Hauptberuflich ist Marty als Unternehmer tätig. Er ist Gründer sowie Geschäftsleiter der Lehr- und Lernplattform Evulpo (www.evulpo.com).


Die Überlegungen rücken den Bildungsbegriff wieder einmal neu ins Bewusstsein. Wichtig ist die Erinnerung, dass “Bildung” als Begriff aus der Zeit Humboldts auf “überpersonales Wissen” verweist, das von der “gebildeten” Gemeinschaft geteilt wird:
So erlauben zum Beispiel bestimmte Zitate eine Einordnung von aktuellen Ereignissen: “Herr, die Not ist gross, die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.” Wer Goethes Zauberlehrling kennt, kann mit dem Wiedererkennungseffekt sofort auf ein Erklärungsmuster hindeuten. Oder: “What is done, cannot be undone.” Der Satz von Lady Macbeth, die beim Schlafwandeln vor Dienstmagd und Arzt versucht, ihre blutgetränkte Hand zu waschen, verweist auf die Qual, wenn eigenes Handeln untilgbare Schuld auf einen geladen hat. Solches Wissen ist nicht einfach nur elitäres Gehabe, sondern fördert vergleichendes Denken, Deuten von Geschehnissen, Erkennen von Zusammenhängen und erlaubt im Dialog mit andern “Gebildeten” faszinierende Einsichten.
Der aktuelle Bildungsbegriff, wie er im Lehrplan 21 dominiert, krankt allerdings meiner Meinung nach nicht so sehr an der Subjektivität, dem Verzicht auf gemeinsame Wissensbestände, wie Marty schreibt, sondern an einem alles beherrschenden Nützlichkeitsgebot: Kompetenzen, die einen sofortigen praktischen Nutzen versprechen, sind Trumpf. Dass die Nützlichkeitsdomanz auch eine subjektive Komponente hat, ist unbestritten, sie führt jedoch vor allem dazu, dass die mit Kompetenzen ausgerüstete Person von Wirschaft und Gesellschaft leicht dienstbar gemacht werden kann und in ihrem Denken nicht über das punktuell Geforderte hinausführt wird, weil dieses ja keinen unmittelbar praktischen “Nutzen” verspricht.
Der Beitrag von Dr. Christian Marty greift ein zentrales Problem der aktuellen Bildungsdiskussion auf: Es wird viel über „Bildung“ gesprochen, doch selten wird der Begriff konkret definiert oder in seiner pädagogischen Tiefe reflektiert. Häufig geht es um Kompetenzen, Future Skills oder die Anforderungen des Arbeitsmarktes. Dabei handelt es sich um Ausbildung im engeren Sinne, nicht um Bildung im humanistischen Sinn.
Bildung bedeutet in der Tat nicht nur Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, sondern die Entwicklung einer reflektierten Persönlichkeit. Sie umfasst die Fähigkeit, das eigene Subjektive zu hinterfragen, die Perspektiven anderer einzunehmen und ein bewusstes Verhältnis zur Welt zu entwickeln.
Die aktuelle Fokussierung auf Skills und unmittelbare Anwendbarkeit ist für die pädagogische Praxis wichtig, greift aber zu kurz. Pädagogik muss beide Ebenen berücksichtigen: Ausbildung, um handlungsfähig zu sein, und Bildung, um urteils- und handlungsfähig als mündige Person in der Gesellschaft zu werden.
Bildung heisst, junge Menschen nicht primär zum funktionalen Einsatz vorzubereiten, sondern sie zu befähigen, die Welt aus unterschiedflichen Perspektiven wahrzunehmen, kritisch zu denken und verantwortungsvoll zu handeln.