16. Oktober 2024

Reinste Ressentimentforschung

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz hat sich mit dem Vorwurf der beiden Rassismus-Expertinnen auseinandergesetzt. Mit den kritisierten Lehrmitteln hat er selber unterrichtet und kann die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Seiner Meinung nach liegen die Probleme ganz woanders.

Hanspeter Amstutz: Das Problem liegt im Abbau des Geschichtsunterrichts. Bild: Fabü

Es ist schon ein starkes Stück, wenn zwei Rassismus-Expertinnen den Schweizer Lehrmittelverlagen vorwerfen,  unsere Lehrmittel seien im Kern rassistisch. Man fragt sich, aufgrund welcher Kriterien ein solch vernichtendes Urteil entstanden ist. Ich kenne mich bei den Unterrichtsmaterialien des Zürcher Lehrmittelverlags einigermassen aus und teile  nicht den Eindruck, die Darstellungen über die himmeltraurige Geschichte der Sklaverei oder über afrikanische Kulturen seien rassistisch gefärbt.

Ungeschminkte Darstellung

Das von den beiden Autorinnen kritisierte Lehrmittel „Durch Geschichte zur Gegenwart“ setzt sich eingehend mit dem Kolonialismus der europäischen Grossmächte im 19. Jahrhundert auseinander. Die Lehrmittelautoren zeigen eine ungeschminkte Darstellung des imperialen Zeitgeists in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist eine fokussierte Zusammenfassung, die in Form von bearbeiteten Quellentexten die Überheblichkeit und Menschenverachtung eines Cecil Rhodes und anderer Kolonialherren festhalten. Wer sich mit seiner Klasse vertieft mit dem Schicksal afrikanischer Sklaven befassen will, findet eindrückliche Schilderungen im Nachfolge-Lehrmittel „Gesellschaften im Wandel“ und in ausgezeichneten Klassenlektüren.

Im scharf kritisierte Lehrmittel wird der Versuch gewagt, aufschlussreiche Begründungen für die damalige Selbstverständlichkeit des Kolonialismus zu finden.

Aufschlussreiche Begründungen für Denkmuster

Ein Geschichtslehrmittel hat die Funktion, die Denkmuster und die Werthaltungen einer Epoche aufzuzeigen. Die aus heutiger Sicht fast unerträgliche Überheblichkeit der europäischen Grossmächte in der imperialen Epoche um 1900 soll nicht schöngeredet werden. Die führenden Politiker nutzten die militärische, wirtschaftliche und technische Überlegenheit ihrer Nationen gegenüber den Afrikanern oft schonungslos aus. Im scharf kritisierten Lehrmittel wird der Versuch gewagt, aufschlussreiche Begründungen für die damalige Selbstverständlichkeit des Kolonialismus zu finden. Das gelingt nicht schlecht. Die SchülerInnen merken sehr bald, dass jede Kolonialmacht ihre wirtschaftlichen Interessen an die erste Stelle setzte und afrikanische Kulturen als minderwertig betrachtet wurden.

Reichhaltige Texte

Die Industrialisierung kannte auch eine Art Sklaverei

Es wäre naiv zu glauben, diese Realpolitik ausklammern zu können. Tendenziös wäre es hingegen, wenn das Schicksal der gedemütigten Sklaven nicht ebenso ausführlich im Unterricht zur Sprache käme. Eine Vertiefung des Themas der menschlichen Unterdrückung führt unweigerlich über den  Rassismus gegenüber Andersfarbigen hinaus. Man muss nicht in die Ferne schweifen, um in die Abgründe der Misshandlung von Menschen blicken zu können. Im 19. Jahrhundert stand auch in unserer Textilindustrie ein sklavenähnliches Proletariat in den stickigen Räumen der Spinnereien und schuftete über zwölf Stunden am Tag. Die kritisierten Lehrmittel enthalten eine ganze Reihe erschütternder Berichte über die Kinderarbeit in den Fabriken und über die ausgebeutete Arbeiterklasse. Die Texte sind so reichhaltig, dass sie sich bestens als Vorbereitungsstoff für Schülervorträge eignen.

Sie führen Schritt für Schritt die jugendlichen Leserinnen und Leser weiter und schildern, wie sich die Unterdrückten organisieren und in Gewerkschaften zusammenschliessen.

Besticht durch ungeschminkte Darstellungen

Die kritisierten Lehrmittel bleiben aber nicht beim Unerträglichen stehen. Sie führen Schritt für Schritt die jugendlichen Leserinnen und Leser weiter und schildern, wie sich die Unterdrückten organisieren und in Gewerkschaften zusammenschliessen. Jugendliche erleben, dass sich ein gerechter Kampf lohnt und die Gerechtigkeit in Form besserer Lebensbedingungen und neuer politischer Rechte triumphiert. Was soll an diesem pädagogischen Konzept denn so rückständig sein? Wenn der Geschichtsunterricht ein Stück weit das Ideal einer gerechteren Gesellschaft aufleuchten lässt, ist weit mehr erreicht als mit dem Herauspicken von allfälligen Ungereimtheiten bei der Darstellung des Kolonialismus.

Auch der Holocaust gehört dazu

Wenn politischer Rassismus ein Thema ist, das verbindlich in jeder Oberstufenklasse  behandelt werden muss, dann gehört der Holocaust dazu. Als jüdische Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden, hatte unsere Politik ihre dunkelsten Stunden. Die meisten Lehrmittel beschönigen unser Versagen in der Flüchtlingspolitik in keiner Weise.  Sie geben im Gegenteil den Jugendlichen durch zahlreiche authentische Berichte einen aufschlussreichen Einblick ins traurige Los der Zurückgewiesenen. Falls Jugendliche im Verlauf ihrer Schulzeit nicht mit dem Schicksal jüdischer Kinder konfrontiert wurden, liegt es nicht an den Lehrmitteln, sondern an einem langweiligen und mageren Geschichtsunterricht.

Die Forderung nach einer totalen Überprüfung der Lehrmittel im Hinblick auf rassistische Grundmuster durch ein Expertengremium schiesst übers Ziel hinaus.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass es dabei primär um eine Neuschreibung unserer jüngeren Geschichte geht. Die Qualitäten historischer Persönlichkeiten werden ausgeblendet, weil sie nicht in allen Teilen in unser modernes Weltbild passen. So soll ein Alfred Escher vom Sockel gestürzt werden, weil die Verstrickung seines Onkels in den karibischen Sklavenhandel eine Würdigung seines grossen Lebenswerks verbietet. Seine Pionierleistungen in der Zeit unseres jungen Bundesstaats werden übersprungen mit der Begründung, der politische Hardliner Escher sei ein Profiteur rassistischer Umtriebe.

Diese Art von Geschichtsverständnis verdienen unsere Schüler nicht. Sie haben ein Recht auf einen Unterricht, der weder weitsichtiges Unternehmertum noch historische Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten pauschal verunglimpft. Welche Schulabgänger wissen schon, dass Alfred Eschers grosses Werk die Gotthardbahn war und dass er mit seiner unglaublichen Schaffenskraft der Schweizer Wirtschaft zu europaweitem Einfluss verholfen hat?

Zu wenig Frauen

Es gibt zu wenig Frauen in der AutorInnenschaft.

In einem Punkt kann ich den Autorinnen folgen. Sie bemängeln, dass nur selten politisch aktive Frauen in den Geschichtsbüchern zu Wort kommen. Man kann dies entschuldigen mit dem Hinweis, dass erst vor gut hundert Jahren die politische Frauenbewegung in Europa Fahrt aufgenommen hat und die Zeit davor sehr männlich dominiert war. Doch unterdessen haben im zwanzigsten Jahrhundert unzählige weibliche Persönlichkeiten die politische Bühne betreten und der Gleichberechtigung der Geschlechter zum Durchbruch verholfen. Diese Leistungen in spannenden Biografien für den Unterricht zu würdigen, könnte unser Geschichtsbild im besten Sinn verändern.

Der Skandal liegt nicht im Fehlen des Willens zur kritischen Auseinandersetzung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass an unserer Volksschule kaum noch Wert auf gründliche Kenntnisse historischer Zusammenhänge gelegt wird.

Wenn jetzt lautstark ein kritischeres Geschichtsverständnis gefordert wird, ist das im Bereich der Volksschule schon fast grotesk. Der Skandal liegt nicht im Fehlen des Willens zur kritischen Auseinandersetzung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass an unserer Volksschule kaum noch Wert auf gründliche Kenntnisse historischer Zusammenhänge gelegt wird. Geschichte steht in der Sekundarschule sowohl von der Lektionenzahl wie von der Bedeutung her weit hinten im aktuellen Bildungsprogramm. Doch unseren Schülern wird zugemutet, dass sie sich über heikelste politische und gesellschaftliche Fragen ein souveränes Urteil bilden können. Da fehlt jeder pädagogische Realitätssinn.

Respekt wächst im Unterricht

Zum Schluss sei die Frage erlaubt, ob die beiden Autorinnen bei ihrem Einsatz für mehr  Toleranz in unserer Gesellschaft nicht aufs falsche Pferd gesetzt haben. Gegenseitiger Respekt in einer Klassengemeinschaft wächst in erster Linie durch einen Unterricht, in dem konsequente Ermutigung und sichtbare Fairness ein Klima des Vertrauens schaffen. Lehrpersonen mit Verständnis für Schwächere und einem wachsamen Auge für jede Form des Mobbings können weit mehr zu Achtsamkeit und Toleranz beitragen als ein antirassistischer Aktivismus bei der Schaffung von Lehrmitteln.

Hanspeter Amstutz

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Lieber Herr Amstutz
    Mir ist irgendwie auch bei Ihrer Verteidigung der Lehrmittel nicht so recht wohl. Mir scheint, dass das, was Sie über die betreffenden Inhalte schildern, in Sachen kompensierender “Schuldanerkennung” aufgfrund heutiger Moralkriterien überschiesst. Mir schwebt ein Geschichtsunterricht vor, der von diesem moralisierenden Unterton befreit ist und auch frühere Moralvorstellungen ohne Vorverurteilung zum Thema macht.

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