24. April 2024

Die vergessenen Baustellen der Berner Bildung

Der Lehrkräfte-Mangel überlagert die akuten Probleme der Berner Bildung. Sie produziert zu wenig Fachkräfte. Sie favorisiert an der Laufbahn-Schnittstelle die Mädchen. Sie integriert die Benachteiligten in grosse Klassen und verheizt damit ihr Personal. Und sie hält titanisch am Frühfranzösisch fest, obwohl der Dampfer längst gesunken ist. Condorcet-Autor Andreas Aebi schreibt über die Baustellen im Berner Bildungssystem.

Res Aebi, Sekundarlhrer, Publizist, Fussballtrainer und Buchautor

Bernhard Pulver war nicht nur ein rhetorisches Genie à la Habeck, er besass auch ein feines Gespür für das Machbare. Sein Mantra lautete: Die heissen Suppen friert man besser ein. Zu diesen Suppen gehörten die Abschaffung der Noten (eine Forderung von links), die Reform des Sek-Übertritts (ein Postulat der Bürgerlichen), die Entlastung der Klassenlehrpersonen (ein Hilfeschrei von Bildung Bern) und die staatspolitisch heikle Französisch-Frage.

Der Drang der Mädels zur Akademie

An internationalen Konferenzen singen unsere Bildungsminister gerne das Hohelied des Dualsystems. In der Realität verschiebt sich das Gleichgewicht aber immer mehr Richtung Akademie. Bürgerliche Politiker:innen schreiben das auch einem Konstruktionsfehler im Selektionsverfahren für die Oberstufe zu. Der Sek-Übertritt begünstige die Mädchen, die nachher alle studieren gingen. Das sind zwei pauschale Aussagen, deren kausale Verknüpfung erst einer Prüfung unterzogen werden muss.

Solange die Wirtschaft nicht bereit ist, sogenannte «Frauenberufe» aufzuwerten, werden diese Mädchen die Flucht Richtung Uni antreten.

Als Selektionsfächer für die Stufe Sek 1 dienen Mathematik und die Sprachfächer Deutsch und Französisch. Misst man die Fächer an ihrer Dotation, muss Französisch zwingend durch das weitläufigere Fach Natur, Mensch und Gesellschaft ersetzt werden. Dass die Jungs anteilsmässig von dieser Minireform profitieren, halte ich für möglich. Gewinnen wir damit mehr Fachkräfte? Nein. Die stärksten Mädchen schaffen es auch mit NMG locker ins Sek-Niveau. Und solange die Wirtschaft nicht bereit ist, sogenannte «Frauenberufe» aufzuwerten, werden diese Mädchen die Flucht Richtung Uni antreten. Es ist die Flucht vor Diskriminierung und Niedriglohn.

Langnau, Hauptort im Emmental

Ist die Quoten-Debatte ein Tabu?

Mit schöner Regelmässigkeit werden in den Medien die ungleichen Bildungschancen unserer Schüler:innen gerügt. Die Chancen auf eine Mittelschul-Laufbahn seien in der Stadt höher als auf dem Land, monieren sie dann. Tatsächlich schaffen es mehr Stadt- als Landkinder ans Gymnasium, aber das ist natürlich nicht eine Frage der Intelligenz, sondern der Quotenwillkür, welche wiederum von unterschiedlichen Kulturen abhängt. Ich war sechs Jahre Schulleiter an einer Land- Sekundarschule mit dem (Auslauf-)Modell 1. Von unseren Schulabgänger:innen beschritten 55 Prozent eine Berufslaufbahn, 35 Prozent gingen in eine Mittelschule und 10 Prozent ergriffen ein Brückenangebot. Eine Mittelschulquote von 35 Prozent also? Nein, nur die Hälfte! Denn in der Statistik fehlen die Realschüler:innen, die in unserer Wohngemeinde 50 Prozent ausmachten und etwa zur Hälfte ein 10. Schuljahr absolvierten oder eine Berufslehre. Die Fifty-fifty-Zuteilung war ein Erfolgsmodell für Sekundar- und Realschule: gutes Niveau hüben wie drüben und ein Laufbahnprozess, der dem Anspruch der dualen Berufsbildung gerecht wurde.

Städtische Kolleg:innen beklagen sich heute darüber, dass ein Berufswahlprozess bei ihnen gar nicht gefragt sei. Im Fokus stehe vielmehr die Wahl der Mittelschule.

In den Städten ist das Vergangenheit. In vielen Quartieren schraubten sich die Sek-Quoten so lange in die Höhe, bis die Realschule das Sammelbecken benachteiligter Bevölkerungsgruppen war. Und mit der steigenden Zahl Sekschüler:innen wuchs die Selbstverständlichkeit der Eltern, ihr Kind an eine Mittelschule zu schicken. Städtische Kolleg:innen beklagen sich heute darüber, dass ein Berufswahlprozess bei ihnen gar nicht gefragt sei. Im Fokus stehe vielmehr die Wahl der Mittelschule. Müssen wir uns also bei den inflationären Sek- und Mittelschulquoten über die Verflachung des Niveaus und das Fehlen von Fachkräften wundern? Und müsste der Kanton nicht endlich eine Debatte über eine maximale Bandbreite der Übertrittsquoten führen – oder diese gar plafonieren?

Integration vom Discounter

Integrative Schulmodelle funktionieren ganz gut – in kleinen Klassen.

Landauf, landab wenden sich die Berner Schulen integrativen Schulmodellen zu. Die konkrete Umsetzung wird aber zum Verheizungsmotor für Lehrpersonen. Statt Kinder mit besonderem Förderbedarf partiell in die Regelklassen zu integrieren, setzen viele Gemeinden gleich auf volle Heterogenität. Zum Spagat mit Leistenbruch-Garantie wird die Umstellung dann, wenn sie zum Billigtarif vorgenommen wird. In unserer Schullandschaft gibt es Gemeinden, die ihrem Personal gemischte 20er-Grundklassen Sek/Real mit integrierten KbF-Kindern zumuten und dieser Mixtur zwei Sporttalente und ein ukrainisches Flüchtlingskind beifügen. Dabei müsste jedem kommunalen Bildungsrat bekannt sein: Integrative Schulmodelle funktionieren ganz gut – in kleinen Klassen. Schraubt man die Klassengrösse in die Höhe, steht die Lehrperson im Unterricht vor einer unlösbaren Aufgabe. Sie macht dann entweder eine Triage – oder brennt aus.

 

«Bei uns spricht der Franzlehrer Deutsch»

Die Französisch-Lehrer:innen an den Gymnasien verzweifeln; punkto Sprechen und Schreiben beginnen sie praktisch bei null. Schon einfache Quervergleiche deuten an, dass unsere Schüler:innen nach sieben Jahren Französisch nicht weiter sind als die Ostschweizer:innen nach fünf Jahren. Dass die Volksschule ihren Auftrag nicht erfüllt, wurde bisher zu Recht, aber auch zu einseitig, den Passepartout-Lehrmitteln zugeschrieben. Die Malaise beginnt natürlich beim fehlenden Fachpersonal. Wiederholt berichten Schulleiter:innen, sie müssten die Französisch-Lektionen einer Lehrperson zuteilen, die die Sprache noch gar nicht im Köcher habe. Aus der Französisch-Sackgasse führt also nur ein Ausweg: Wir machen es kürzer, aber intensiver. C’est-à-dire: Wir stoppen Frühfranzösisch und konzentrieren die kompetenten Lehrpersonen auf fünf Jahre. Wir erhöhen die Französisch-Dotation in der 5./6. Klasse. Und wir steigen aus den Passepartout-Lehrmitteln aus. Die andern können’s besser.

Dieser Artikel ist zuerst im Organ des LEBE  “Bildung Bern” erschienen.

 

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