Spätestens seit der dänische Bildungsminister, Mattias Tesfaye, sich im Dezember 2023 öffentlich dafür entschuldigte, dass die dänische Regierung Jugendliche zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe, ist auch eine weitere Blase der Heilsversprechungen unserer Bildungspolitiker geplatzt. Der Däne erklärte, man sei als Gesellschaft zu „verliebt gewesen in die Wunder der Digitalwelt“. Jetzt müsse man, zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, dringend umsteuern.
Wir erinnern uns: Die digitale Transformation liess die einzelnen Schulen Wandtafeln herausreissen und durch Whiteboards ersetzen, massenweise IPad und Laptops anschaffen, Whatsapp und Lernprogramme auf den IPhone nutzen, Kommunikation über Teams statt über Telefon und mit Briefen führen und den Unterricht an Algorithmen delegieren. Der Alltag eines Oberstufenschülers sah – zweifellos etwas verkürzt – folgendermassen aus: Die Jungen wachen auf, schauen zuerst auf ihr Handy, nach Frühstück und Instagramkonsum steigen sie in den Bus, tauschen neuste Infos digital aus. Dann kommen sie in die Schule, in der ersten Stunde schauen sie einen Film, in der zweiten Stunde machen sie am Computer eine Französisch-Übung, in der dritten Stunde schreiben sie auf dem Compi einen Text. Dann gehen sie heim, hören ihre Musik, schauen Youtube-Videos, essen, kommen wieder in die Schule, erledigen im Englisch eine eigenständige Übung auf einer Lernsoftware und schauen eine Dokumentation über die Arktis. Sie gehen – immer das Handy benutzend – nach Hause, lösen die digital versandten Hausaufgaben des Lehrers, und beginnen mit ihren Kollegen zu gamen. Wenn sie von der Mutter zum Schlafen aufgefordert werden, folgt noch eine letzte TikTok- oder Instagram-Session, bevor ihnen die Augen zufallen. Und vielleicht, vor dem Einschlafen, spüren sie den Verlust an Phantasie. Seit der US-amerikanische Professor Jonathan Haidt mit seinem Buch »Generation Angst« Eltern und Lehrpersonen in der Vermutung bestärkte, dass die Smartphone-Nutzung von Kindern und Teenagern ein massives Problem darstelle, reagieren auch unsere Bildungspolitiker. Es sind zum Teil dieselben Leute, die uns noch vor einigen Jahren die Segnungen der neuen Technologien gepredigt und gefordert hatten, man müsse mit dem Programmieren bereits im Kindergarten beginnen.
Als «Sündenbock» haben diese Aktivisten aus der Komfortzone das I-Phone ausgemacht und verlangen nun mit sonorer Stimme und breiter Brust ein gesetzliches Verbot der Handynutzung an den Schulen. Dieser Forderung schliessen sich auch Autoren dieses Blogs an und unterstützen ebefalls ein gesetzliches Handyverbot an den Schulen. Der verdiente Hanspeter Amstutz meinte, es stärke den Lehrkräften den Rücken, der lvb-Präsident Philipp Loretz ist wie immer für einheitliche Lösungen und auch die brillante Denkerin Christine Staehelin stört sich daran, dass die Schulen unterschiedliche Regelungen in der gleichen Stadt praktizieren. Leute, die sich sonst regelmässig über die Regulierungsdichte beklagen, fordern nun selber eine Regulierung.
Zunächst einmal eine staatskundliche Nachhilfe für den Kollegen Amstutz, der ja stets das Fehlen des Staatskundeunterrichts an unseren Schulen beklagt. Die Schulen haben als staatliche Institution die Stellung einer Anstalt (wie das Gefängnis, das Spital oder das Altersheim). Die Anstaltsleiter bzw. die Anstalt sind befugt, fundamentale Freiheitsrechte (Redefreiheit, Bewegungsfreiheit, persönliche Freiheit usw.) ausser Kraft zu setzen. Sie müssen sich aber an vier Grenzen halten.
- Grenze des Ortes (Schulareal)
- Grenze der Zeit (Stundenplan)
- Grenze des Zwecks (eine Regelung muss einen schulischen Zweck erfüllen)
- Persönliche Grenze (keine Demütigungen, Schläge oder Kollektivstrafen)
Ein Handyverbot in der Schule kann demnach ohne Weiteres durchgesetzt werden. Die Schulen unseres Landes beweisen dies in grosser Zahl. Es braucht nicht den «Papa Staat», der den Lehrkräften den «Rücken stärkt» oder die Richtung vorgibt.
Zahlreiche Lehrkräfte reagieren auf die populistischen Voten der Bildungspolitiker längst nicht mehr mit einem entschlossenen «NEIN» oder «JA», sondern eher mit einem resignierten «Ja, ja». Viele von uns haben diese Technologie-Hype skeptisch beurteilt. Wir haben nie digital, sondern mit digitalen Werkzeugen gearbeitet. Wir haben selten digital kommuniziert, sondern eine digitale Infrastruktur genutzt. Wir lebten mit unseren Schülern nie digital, sondern immer noch als Menschen in realen Gemeinschaften.
Die Schulen haben die fatale Entwicklung längstens erkannt und reagiert. Sie taten das meist mit ihren direkten Partnern: Den Schülern und den Eltern.
Die Schulen haben die fatale Entwicklung längstens erkannt und reagiert. Sie taten das meist mit ihren direkten Partnern: Den Schülern und den Eltern. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren forderte der Schülerrat des OSZ-Orpund, dass man das Handy in der Pause nutzen dürfe, was vorher verboten war. An der Lehrerkonferenz begründeten sie dies eloquent und eine Mehrheit der Lehrkräfte stimmte diesem Anliegen auf Versuchsbasis zu. Die Situation lief vollkommen aus dem Ruder. In den Pausen sah man fast ausschliesslich Jugendliche am Handy und kaum mehr direkte Gespräche, geschweige denn spielerische Tätigkeiten. Das Handyverbot wurde wieder eingeführt, mit dem Auftrag, eine gangbare Praxis bei der Umsetzung zu finden. Alle haben etwas gelernt.
Ein Verbot ist schnell ausgesprochen, aber nicht leicht umzusetzen. Was machen wir mit unseren Whatsapp-Gruppen in den Skilagern, die uns schon aus manch kniffligen Situationen gerettet haben?
Gesetzliche Verbote oder eine auf Vereinheitlichung abzielende Regulierungswut stören hier nur. Ein Verbot ist schnell ausgesprochen, aber nicht leicht umzusetzen. Was machen wir mit unseren Whatsapp-Gruppen in den Skilagern, die uns schon aus manch kniffligen Situationen gerettet haben? Dürfen wir die Handys für Strassenreportagen, Fotos oder bei Pflanzenbestimmungen nutzen? Und wie steht es mit den liebgewonnenen Quizlet-Übungsapps, mit denen man leicht Vokabeln büffeln kann? Und wie reagieren wir auf Verstösse gegen ein Handyverbot? Konfiszieren, bestrafen, von der Schule weisen? Die Verfechter einer einheitlichen Regelung sind mit Don Quixote vergleichbar, der eine Mühle angreift, in der Annahme es handle sich um den wahren Gegner. Wieso soll das Handy verboten, das IPad aber erlaubt sein? Und was die Fähigkeiten unserer Schüler im Umgang mit IPads und Computern angeht, wenn sie individualisiert in den Gängen arbeiten, wissen wir zur Genüge. Keine Frage: Grundsätzliche Fragen müssen angesichts des immer deutlichen zutage tretenden Scheiterns einer forcierten Digitalisierung beantwortet werden. Dazu gehört zum Beispiel auch die Frage, ob es sinnvoll ist Kindergärten und die Unterstufe mit Computern auszustatten. Sogar der gegenüber Regulierung nicht abgeneigte LCH riet in einer Stellungnahme von einem gesetzlichen Verbot ab, was Kollege Amstutz postwendend als mutlos bezeichnete.
Ein Durchschnittsschüler wird in den 10 bis 11 Jahren obligatorischer Schulzeit etwa 10% seiner Lebenszeit in einem schulischen Umfeld betreut.
Wer sich übrigens von einem Handyverbot in der Schule auch einen Rückgang von Mobbing auf den Social Media erhofft, dem sei Folgendes zum Nachdenken mitgegeben: Ein Durchschnittsschüler wird in den 10 bis 11 Jahren obligatorischer Schulzeit etwa 10% seiner Lebenszeit in einem schulischen Umfeld betreut. Den Rest seiner Kindheit verbringt er zu Hause, in den Sportvereinen, mit seinen Freunden oder in den Ferien. Der exzessive Umgang unserer Jugend mit Smartphones und anderen digitalen Geräten lässt sich also nicht mit einem Nutzungsverbot aus der Welt schaffen. Es hilft nichts, die Schulen müssen selbst schauen, wie sie mit dieser Problematik umgehen und nicht auf Masterpläne oder generelle Verbote hoffen. Und sie müssen sich vernetzen und voneinander lernen. Und das können die Schule eigentlich, sofern sie kompetent geleitet und selbstbewusst sind.