22. März 2023

Ganz neue Töne aus der PH

Nicht nur Condorcet-Autor Urs Kalberer hat sich über die neuen Töne gewundert, die in der Zeit des grassierenden Lehrkräftemangels in den Medien verbreitet werden. Ganz überraschend sind aber die Aussagen von Bildungswissenschaftlern im NZZ-Magazin, wo es um Tipps für Berufseinsteiger geht. Aber lesen Sie selbst.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer: Man hört und staunt.

Im NZZ Magazin findet sich ein längerer Artikel zum Thema «Berufseinstieg für Quereinsteiger in den Lehrberuf: Ein Crashkurs in 9 Punkten». Solche Anleitungen sind ja bekannt, diese allerdings hat es in sich: Aus der Sicht von Lehrern, Wissenschafterinnen, Schulleiterinnen, der Pädagogischen Hochschule Zürich und einer Schülerin werden neun provokative Erkenntnisse für den Berufseinstieg präsentiert.

Lassen Sie das Arbeiten in der Gruppe – am Anfang

Da findet sich unter Punkt 2 beispielsweise der Ratschlag: «Pfeifen Sie auf die Theorie». Punkt 4: «Perfektion ist Ihr Untergang» oder Punkt 8: «Holen Sie sich Hilfe oder suchen Sie das Weite». Aussergewöhnlich ist auch Punkt 7: «Lassen Sie das Arbeiten in der Gruppe – am Anfang». Es handelt sich um den Freispruch des allseits geschmähten lehrergeführten Unterrichts (auch als «Frontalunterricht» bekannt). Wir lesen und reiben uns die Augen: «Trotz allen Lernlandschaften und Wochenplänen an Schweizer Schulen sind sich Praktiker und Hochschulpädagoginnen in einem Punkt nämlich bemerkenswert einig: Auf Primarstufe ist das Konzept des selbständigen Lernens eine Kopfgeburt.»

Sich den Stoff selber zu erschliessen, finde ich heikel

Dr. Christine Neresheimer Mori: Abteilungsleiterin Primarstufe im Prorektorat Ausbildung an der PH Zürich

Dr. Christine Neresheimer Mori von der PH Zürich meint sogar: «Sich den Stoff selber zu erschliessen, klingt zwar gut für Kinder aus engagiertem Elternhaus, mit hoher Intelligenz und Motivation. Aber wenn ein Teil der Schüler noch nicht einmal einen Satz fehlerfrei sprechen kann, dann finde ich das heikel.»

Wenn man bedenkt, dass das selbständige Lernen einer der Grundpfeiler des Lehrplans und der «fortschrittlichen» Pädagogik darstellt, sind solche Aussagen doch bemerkenswert. Kündigt sich hier ein von Wissenschaftern und erfahrenen Lehrern lange ersehnter Kurswechsel in der Pädagogik an?

Verwandte Artikel

Ein Plädoyer für die Fächer

Der Genfer Professor Bernard Schneuwly, der bei der Entstehungsgeschichte unseres Bildungsblogs Pate stand und uns allen die Bedeutung des Marquis de Condorcet bewusst machte, stellte uns ein wichtiges Bildungsdokument aus seiner Werkstatt zur Verfügung. Es geht um die Bedeutung der Fächer, die er als Garant für die Universalität der Bildung hält. In einer Zeit, in der Fächer aufgehoben, Kombinationen wie ERG, NMG, RGM die Runde machen und überfachliche Kompetenzen gepredigt werden, setzt Bernard Schneuwly einen deutlichen Kontrapunkt und weist nach, dass damit auch der Bildungsbegriff verwässert zu werden droht.

Bildungsgerechtigkeit entsteht in der Praxis

In seinem Condorcet-Beitrag beklagt Prof. Tobias Straumann, Universität Zürich, die fehlende Chancengleichheit in der Schweiz. Sie sei, so hält er apodiktisch fest, „schwach entwickelt“. Gleichzeitig wissen wir, welch wichtige Rolle Lehrpersonen für Kinder und Jugendliche spielen, wenn es um die vielzitierte Chancengleichheit bei ungleichen Startchancen geht. Doch darüber schweigt sich Straumann aus. Eine Spurensuche von Condorcet-Autor Carl Bossard, der vieles seinen Lehrerinnen und Lehrern verdankt.

2 Kommentare

  1. Ich erwarte den Gang nach Canossa seitens der PHs. Wie lange wurde jetzt das Gegenteil verkündet und Lehrpersonen unter Druck gesetzt, die dieses Theater nicht mitmachen wollten – aus guten Gründen notabene.
    Es hat definitiv zuviele Funktionärspersonen im Schulwesen.

  2. Ja, im doppelseitigen NZZ-Beitrag mit dem Titel «Ein Crashkurs» weht ein erfrischender Wind in Bildungsfragen. Man staunt nicht schlecht, wie plötzlich ganz andere Prioritäten gesetzt werden, um die Schulqualität zu sichern. Gemeinsamer Klassenunterricht – jahrelang verpönt als altmodischer Frontalunterricht – wird als effiziente Lernform ausdrücklich empfohlen. Selbstorganisiertes Lernen in Form von Wochenplänen wird hingegen als völlig ungeeignet für die Primarschule bezeichnet. Und den vielgepriesenen neuen Lehrplan legen die zitierten Schulpraktiker einfach zur Seite, weil das überladene Jahrhundertwerk als Bildungskompass nichts taugt.

    Lehrerinnen sollen keine grauen Mäuse in Form von beratenden Lernbegleiterinnen sein. Da ist gar die Rede vom Leitwolf, der seine Klasse führt und sich für die Welt der Kinder stark interessiert. Das blasse Lehrerbild eines professionellen Kompetenzenvermittlers hat ausgedient. Man spürt in jeder Textzeile, dass die Verfasser des «Crashkurses» sich zum Ziel gesetzt haben, den jungen Lehrpersonen mit innovativen Vorschlägen Mut zum Unterrichten zu machen. Es wird appelliert, sich an erfahrene Lehrpersonen zu wenden und deren erprobtes Unterrichtsmaterial zu verwenden. Dabei wird deutlich, dass die Fachdidaktik an den Pädagogischen Hochschulen in manchen Fächern zu wenig Startkapital für einen erfolgreichen Einstieg bietet. Nötig wäre ein sanfter Umbau des Ausbildungskonzepts mit einer engeren Verknüpfung von Theorie und Praxis. Bereits mit der Ausarbeitung von Unterrichtsreihen für die aufwändigen Realienfächer könnte Einsteigern viel geholfen und die Lehrerbildung aufgewertet werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert