Bei vielen kreativen grossen Geistern sticht eine paradox anmutende umgekehrte Proportionalität von Ambition und Aufwand ins Auge. Gemeinsam ist ihnen eine Leidenschaft für das, was sie tun; ein Ehrgeiz, etwas zu erreichen, was noch niemand erreicht hat; ein oft obsessiv anmutender Tunnelblick auf nur ein Ziel, nur ein Objekt. Und gleichzeitig stellt man erstaunt fest, mit wie wenig Zeitaufwand dieses Ziel verfolgt wird.
Werfen wir einen Blick auf die Tagesagenda eines der grössten und produktivsten Wissenschafters der Moderne: Charles Darwin. Nach Morgenspaziergang und Morgenessen in seinem Wohnsitz Down House beginnt er um acht Uhr mit der Arbeit, anderthalb Stunden lang. Um halb zehn liest er die Post und schreibt Briefe. Um halb elf wendet er sich ernsthafter Forschung zu: Beobachtungen in der Voliere oder im Gewächshaus, Experimente im Laboratorium. Mittags erklärt er: „Ich habe gutes Tageswerk verrichtet.“ Eine bis zwei Stunden lang geht er auf eine Wanderung durch die Gegend, auf seinem Denkweg, dem „Sandwalk“. Danach nimmt er einen Lunch zu sich und beantwortet weitere Briefe. Um drei Uhr hält er ein Nickerchen. Aufgewacht, vertritt er sich um vier Uhr wiederum kurz die Beine, um dann bis halb sechs in seinem Studierzimmer zu arbeiten. Danach ist es Zeit, sich dem Kreis seiner Familie zum Abendessen anzuschliessen.
Dieser wohlabgestimmten Kadenz aus Phasen des Tuns und Nichtstuns entstammt ein gewaltiges wissenschaftliches Werk, das noch heute unser Denken über die Natur prägt. Was auffällt: In dieser Agenda beobachten wir drei anderthalbstündige Perioden, in denen Darwin das tut, was wir gemeinhin „Arbeit“ nennen. Er arbeitete in diesem Sinne etwa vier bis fünf Stunden am Tag. Der Rest ist schon schwieriger zu klassifizieren. Nennen wir ihn „Bummeln“. Darwin war ein Bummelant.
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Darwin ist keine Ausnahme. Bei vielen Wissenschaftern konstatieren wir dieses Muster eines von Auszeiten gespickten Arbeitstages. Henri Poincaré, der grosse französische Mathematiker, produzierte im Laufe seines Lebens ein Werk von beeindruckendem Gewicht, 30 Bücher, gut 500 Artikel, von der Zahlentheorie, über Topologie bis zur Himmelsmechanik und Philosophie. Der Psychiater Edouard Toulouse konstatierte in seiner Studie über die „Intelektuelle Superiorität“ (1910), dass Poincaré etwa vier Stunden pro Tag „richtig“ arbeitete. Vier bis fünf Stunden Arbeit ist auch bei vielen Künstlerm der tägliche Durchschnitt. Raymond Chandler sagte, dass es pro Tag eine Zeitspanne geben müsse, in der ein Profi nichts anderes tun sollte als schreiben, mindestens vier Stunden lang. Für Ingmar Bergman war es notwendig, jeden Tag pedantisch während einer solchen Dauer zu arbeiten, unabhängig davon, ob man in Stimmung war oder nicht. Joyce Carol Oates sekundierte: Man müsse nicht in Stimmung sein, um zu schreiben, sondern schreiben, um in Stimmung zu kommen.
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Diese Schüler, so zeigte sich, übten im Durchschnitt nicht länger als normal begabte, sie taten dies aber fokussierter, organisierter, reflektierter: eben: deliberativer.
Die Psychologen Karl Anders Ericsson, Ralph T. Crampe und Clemens Tesch-Römer publizierten 1993 eine Studie über die „Rolle deliberativen Übens im Erwerb von Expertenkompetenz“. Unter anderem beobachteten sie das Übungsverhalten von aussergewöhnlich begabten Violinschülerinnen und –schülern an der Berliner Hochschule der Künste. Diese Schüler, so zeigte sich, übten im Durchschnitt nicht länger als normal begabte, sie taten dies aber fokussierter, organisierter, reflektierter: eben: deliberativer. Das bedeutet, Dinge immer wieder zu tun, die man noch nicht beherrscht; sich an den Grenzen seiner selbst zu bewegen und diese Grenzen zu erweitern suchen; aber auch, Dinge zu tun, die anderen belanglos erscheinen.
Die Ethnologen haben den Begriff „Tiefes Spiel“ für Tätigkeiten eingeführt, denen Outsider kaum Bedeutung beimessen, die von Insidern aber geradezu mit Lebensernst praktiziert werden. Auch Violinübungen haben für ambitionerte Schüler oft diesen Charakter des „tiefen Spiels“, das mit einer Sturheit und Ausdauer verfolgt wird, die man nur wenige Stunden aushält. Wie lange? Vier bis fünf Stunden pro Tag, sagen Ericsson et al. Ihr Schluss: „In den meisten Bereichen, wo Expertentum gefragt ist, beginnen die Menschen schon in der Kindheit mit einem Regime des deliberativen Übens zur Leistungsoptimierung (..) Viele Charakteristika, die man früher auf angeborene Talente zurückführte, sind tatsächlich das Ergebnis solch intensiven Übens, das sich über mindestens zehn Jahre erstreckt.“
Kreativität ist die Kunst, sich Auszeit zu nehmen, Pause zu machen, und diese Pause für sich arbeiten zu lassen.
Sowohl Übung als auch Unterbruch der Übung machen den Meister. Die begabtesten Schülerinnen und Schüler erkannten nicht nur den Wert des deliberativen Übens, sondern auch der deliberativen Pause. Sie fanden früh heraus, dass die entscheidenden Lernsprünge sich häufig in der Auszeit ereignen, in der sich das Unbewusste abrackert; sie lernten, nicht nur ihr Violinspiel, sondern auch die Pausen zu üben, zu verbessern. Pausen sind das unabdingbare Komplement des Übens. Beide zusammen bilden so etwas wie Diastole und Systole des kreativen Prozesses. Kreativität ist die Kunst, sich Auszeit zu nehmen, Pause zu machen, und diese Pause für sich arbeiten zu lassen.
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Dennoch darf neben dem gekonnten Pausieren etwas nicht vergessen werden: die Routine. Sie ist schlecht beleumdet, steht sie doch gewöhnlich für das genaue Gegenteil des Kreativen: für das Mechanische, Automatische, Geistlose. Deshalb müsste man, parallel zum Pausieren, eine alternative, höhere Werthaltung auch zu Routine und Automatismus entwickeln. Wir veräusserlichen Automatismen zu sehr an Maschinen, statt gleichzeitig ihre Verinnerlichung zu pflegen.
Routine ist die Mutter aller Kreativität, im Handwerk wie im Kopfwerk.
Der fundamentale Irrtum ist die Verwechslung der beiden Arten von Automatisierung. Die erste Art beschert uns ohne Zweifel Erleichterung und Entlastung, aber die zweite Art gehört zum Prozess der Menschenbildung. Das heisst, alle unsere Kulturtechniken eignen wir uns an über den mühsamen Weg des Nachahmens und Sich-an-explizite-Regeln-haltens, bis sie schliesslich quasi in den „Rumpf“ impliziter Fähigkeiten sinken, als selbstläufige körperliche und intellektuelle Fertigkeiten: als Routine. Nicht nur vermittelt uns die Routine eine gewisse „intuitive“ Sicherheit in der Beurteilung vieler Lebenssituationen, wir können aus dieser Routine auch immer wieder ausbrechen, um unsere bereits gewonnenen Fähigkeiten zu verbessern und zu verfeinern. Routine ist die Mutter aller Kreativität, im Handwerk wie im Kopfwerk. Darin könnte auch ein Grund liegen für die oft beobachtete fast planetarische Regelmässigkeit des Tagesablaufs schöpferischer Menschen.
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Ich würde so weit gehen, auch – nein: gerade das Scheitern als inspirativ zu betrachten, im Sinn von Samuel Beckett: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Der verstorbene Spitzenbergsteiger Ueli Steck – den man ja füglich als kreativen Kletterer bezeichnen kann – äusserte sich in einem Interview ähnlich. Er, der Erfolgsgewohnte, überraschte mit der Aussage, dass das Scheitern für ihn allmählich den gleichen Wert erhalte wie der Triumph. Das liesse sich so interpretieren, dass der Erfolg zur Routine geworden ist, und dass nicht noch grössere Erfolge, sondern das Scheitern einen Ausbruch aus der Routineschleife darstellt. Kreativität hat immer zu tun mit solchen Ausbrüchen. Meist können sie nicht genau geplant werden, sie ereignen sich. Die grössten wissenschaftlichen Entdeckungen beruhen auf produktivem Scheitern. Und genau das ist ja auch das Faszinosum am Exploit: die Zelebrierung des Ungeplanten.
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Bummeln, Üben, Pausieren, Routine, Scheitern – das sind Antriebs- und Erhaltungskräfte der Kreativität. Sie treten bei jedem Menschen in individueller Mischung auf, und das entscheidende Moment des Schöpferischen lässt sich nicht rezeptartig festhalten. Der „richtige“ Zeitpunkt entzieht sich uns, bleibt ein Rätsel. Die alten Griechen nannten ihn kairos, und die Mythologie personifizierte ihn sogar als Gott: als Gott des glücklichen Augenblicks. Er hat in einer Arbeitswelt der Effizienz, Leistungsoptimierung und Abrufbarkeit kaum noch etwas zu suchen. Darum ist diese Welt auch so arg unglücklich.