Stefan Wolter, die Tamedia-Zeitungen haben im Dezember berichtet, dass noch nie so viele Junge ihren Lehrvertrag aufgelöst oder ihre Lehre abgebrochen haben. Ist das eine weitere Schwächung der Berufslehre?
Gerne sehe ich die Zahlen nicht. Eine Lehrvertragsauflösung kann zwar auch nur eine Vertragsanpassung bedeuten, aber auch diese ist oft mit Kosten verbunden; für die Jugendlichen, für die Betriebe. Etwa, wenn die Lehre ein Jahr länger dauert.
Das muss aber nicht immer schlecht sein?
Nein, man kann die Flexibilität auch positiv bewerten, wenn man so für beide Seiten ein besseres Gesamtpaket findet. Unangenehm wird es, wenn die Auflösungen aufgrund ungenügender schulischer Lösungen passieren – vor allem, wenn das Risiko, dass dies geschieht, schon bei der Einstellung absehbar gewesen ist.
Was heisst das konkret?
Es legt die Schwierigkeiten der dualen Lehre sehr gut offen. Es zeigt sich vor allem in der Westschweiz oder auch im Kanton Basel-Stadt, aber am ausgeprägtesten ist es in Genf: Dort wechseln zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler ins Gymnasium oder in die Fachmittelschule – und vom Rest beginnt wiederum weniger als die Hälfte eine Lehre. Also können die Betriebe ihre Lehrstellen aus einem Pool von weniger als 20 Prozent aller Schüler besetzen. In der Ostschweiz sind es 60 bis 70 Prozent. Ein gewaltiger Unterschied.
Nun wird es interessant. Während die Matura in allen Kantonen unterschiedlich schwer ist, wie Sie sagen, ist das bei den Lehrstellen nicht der Fall, da die Anforderungen standardisiert sind.
Genau, die Anforderungen bleiben dieselben. Was zur Folge hat, dass in den angesprochenen Kantonen die Lehrvertragsauflösungen und die Abbrüche zunehmen.
Kann man das nicht auch als Erfolg taxieren? Während das Niveau in den Basler und Genfer Gymnasien wegen des grossen Zulaufs ständig nach unten nivelliert, bleibt es bei den Lehrstellen gleich…
Das kann man so sehen. Bei der Berufsbildung wird tatsächlich besser standardisiert. Ein Problem aber bleibt beim Einstieg: Aufgrund der demografischen Lage können viele Jugendliche ihre Lehrstelle nach ihren Präferenzen wählen. Weil die Betriebe händeringend nach Lehrlingen suchen, werden zu viele Lehrverträge abgeschlossen, bei denen das Risiko des Misserfolges vorprogrammiert ist. Hier muss man auch die Beratungsstellen kritisieren: Es wird zu viel Rücksicht auf Präferenzen und Neigungen genommen – und zu wenig auf Fähigkeiten. Damit tut man den Jugendlichen keinen Gefallen.
Man hört aus der Wirtschaft aber auch: Viele Lehrlinge sind weniger motiviert und mit ihrer Lehrstelle unzufrieden, da sie sich abgeschoben fühlen, weil es nicht fürs Gymnasium gereicht hat.
Es ist durchaus so, dass es eine gefühlte Bildungshierarchie gibt. Das Gymnasium ist die beste Option, eine FMS die zweitbeste, eine Lehre die drittbeste. Wenn nun ein Kanton eine Übertrittsquote ins Gymi von 15 Prozent hat, spielt das aber keine zu grosse Rolle: Es werden sich nicht 85 Prozent schlecht fühlen, da man deutlich in der Mehrheit ist. Aber in Genf oder in Basel: Da kann tatsächlich der Gedanke kommen, dass man zweitklassig ist.
Der SP-Doyen Rudolf Strahm hat in der NZZ gesagt: «Wenn die Schweiz funktioniert, dann dank den Leuten, die eine Berufslehre gemacht haben.» Das betonen Wirtschaft und Politik auch mantraartig. Was kann man gegen den aktuellen Trend tun?
Wir kennen aus unserer Forschung den richtigen Adressaten: Es sind nicht die Jugendlichen, es sind deren Eltern. Warum sind so viele bereit, ihr Kind ans Gymi zu schicken, obschon das Risiko eines Misserfolges so gross ist? In Genf etwa scheitert fast die Hälfte. Können sie die Leistungen ihrer Kinder nicht richtig einschätzen? Kennen sie die Misserfolgsquote nicht? Oder ist alles andere als das Gymi so verpönt?
Und?
Unsere Forschung zeigt, dass es tatsächlich nichts neben dem Gymnasium gibt, das zählt. Die Eltern in der Westschweiz weichen auch dann nicht von ihrer Haltung ab, wenn sich das Risiko des Misserfolges am Gymnasium erhöht.
Die Eltern wissen nicht, wie unser System funktioniert, oder glauben nicht daran.
Liegt es auch daran, dass immer mehr 25-Jährige keinen Sek-2-Abschluss haben – aus Frust durch Misserfolg?
Die Anzeichen dafür gibt es. Wir wissen, dass an gewissen Orten eine anspruchsvolle Lehre erst mit durchschnittlich 20 Jahren begonnen wird. Das heisst: Man geht ans Gymnasium – und scheitert. Dann geht man an die FMS – und scheitert. Dann sucht man sich immer noch keine Lehre, sondern eine vollschulische Berufsausbildung – und erst wenn auch dieser Plan scheitert, kommt man zu einer Lehre oder resigniert. Misserfolge gehen aber nicht spurlos an einem vorbei.
Was kann man gegen diese Abwärtsspirale tun?
Die Eltern wissen nicht, wie unser System funktioniert, oder glauben nicht daran. Sie wählen lieber unbewusst den Abstieg nach unten, obwohl die Durchlässigkeit nach oben gegeben wäre – und zwar praktisch und nicht nur in der Theorie. Man kann eine Lehre machen, dann die Berufsmatur, dank einer Passerelle sogar an die Uni. Als Psychologe würde ich sagen: Für die, die nur knapp ins oder durch das Gymnasium kommen, wäre vielleicht ein Erfolg in der Lehre besser und weckte den Appetit auf mehr Bildung.
Und ist auch aus finanzieller Sicht wohl kein Nachteil?
Nein, aber vor allem auch nicht aus Sicht der Bildungslaufbahn.
Erklären Sie.
Ich kann unsere Erkenntnisse an einem Beispiel aufzeigen. Nehmen Sie zwei 15-Jährige, keine Überflieger, denen es im Gymnasium aber reichen könnte. Nimmt man das Risiko in Kauf? Oder wäre eine Lehre besser, die beide locker schaffen würden?
Ich nehme an, die Eltern forcieren das Gymnasium: Hauptsache, Matura.
Ja, und das kann man verstehen, wenn man nur an diese Entscheidung denkt. Aber der Entscheid ist häufig falsch, wenn man zehn Jahre in die Zukunft denkt. Die Statistik zeigt: Nur 80 Prozent der Maturanden gehen überhaupt an eine Uni – und schon im Bachelor scheitert ein Viertel davon. Wer also nur knapp durch die Matura kommt, ist da durchaus oft dabei. Wer hingegen eine Lehre macht, dann eine Berufsmatur, vielleicht sogar mit der Passerelle, der steht mit 25 Jahren bildungsmässig nicht selten besser da.
Die Deutschkenntnisse haben stark nachgelassen, aber das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und betrifft nicht nur Studenten.
Der Ökonom Mathias Binswanger beklagte in dieser Zeitung, dass die Akademisierung «groteske Züge» annimmt, wir «mittelmässige Akademiker» fördern. Sie sehen das anders – aber bestätigen Sie nicht gerade seinen Befund?
Nein. Ich kenne das Interview – und sehe es fundamental anders. Die gymnasiale Maturitätsquote ist nur leicht gestiegen in den letzten zwei Jahrzehnten, von 19 auf 22 Prozent. Von denen gehen, wie erwähnt, nur vier von fünf an eine Uni – und diese selektionieren noch immer gleich streng wie vor zwanzig Jahren. Noch wichtiger ist aber der ökonomische Befund. Wären die Absolventen tatsächlich vermehrt Mittelmass, dann hätte ihr Lohnvorteil gegenüber den Nicht-Akademikern zurückgehen müssen, denn keine Firma zahlt einen Lohnvorteil für nicht vorhandene Kompetenzen. Nichts von dem kann beobachtet werden.
Aber die Klagen werden lauter. Erst kürzlich sagte ein renommierter Jus-Professor der Uni Zürich: Die Studenten könnten kein Deutsch mehr, man verstünde ihre Antworten nicht…
Das ist sicherlich so, die Deutschkenntnisse haben stark nachgelassen, aber das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und betrifft nicht nur Studenten. Man darf das bedauern, beklagen auch. Aber: Dafür beherrschen Studenten heute Dinge, die sie vor dreissig Jahren nicht zeigen mussten. Englisch ab dem ersten Semester und alles digital. Und diese Kompetenzen entsprechen der arbeitsmarktlichen Realität.
Zumindest die Universitäten haben in ihrem Selektionsdruck nicht nachgelassen.
Alles im Lot also?
Es gibt immer Sachen, die man verbessern kann, aber zumindest die Universitäten haben in ihrem Selektionsdruck nicht nachgelassen. Aus dem einfachen Grund, dass sie Studenten aus allen Kantonen und dem Ausland haben. Sie können somit viel weniger unter Druck geraten, wenn das Schulsystem in einem Kanton nach unten nivelliert; die Guten setzen die Massstäbe. Übrigens: Heute werden weniger Masterabschlüsse vergeben als früher Lizenziate. Erstens, weil schon im Bachelor selektioniert wird und zweitens, weil nicht alle in einen Master übertreten oder dort reüssieren.
Nichtsdestotrotz: Die Ansprüche steigen stetig, sogar Kindergärtnerinnen brauchen einen Hochschulabschluss – ist das wirklich nötig?
Welche Qualifikationen ein Beruf verlangt, darüber entscheiden nicht die Hochschulen. Aber ja: Es gibt eine Tertiärisierung, aber die ist nicht mit einer Akademisierung gleichzusetzen. Da zudem drei Viertel des Wachstums bei den tertiären Abschlüssen gar nicht auf den gymnasialen Weg zurückzuführen ist, kann man die Entwicklung sogar anders interpretieren.
Alles, was in den Augen arrivierter Eltern zählt, ist ein akademischer Abschluss.
Wie?
Sie war die Rettung der Berufsbildung. Ohne Berufsmatura, ohne Fachhochschulen wäre der Druck aufs Gymnasium so hoch geworden, dass das Bildungssystem Schaden genommen hätte: Schaffung von zweit- und drittklassigen Hochschulen oder Eingangsselektion durch die Hochschulen mit dem Resultat, dass die Maturität nur noch auf dem Blatt Papier etwas wert wäre. Kein Land der OECD hat die Quote tertiärer Bildungsabschlüsse derart steigern können wie die Schweiz, ohne dafür das Berufsbildungssystem opfern zu müssen. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte.
Das mag für gewisse Branchen sein. Aber wir brauchen doch Pflegefachpersonal und Elektromonteure, Schreiner, Köche und Polymechaniker, wie Mathias Binswanger sagt, «Praktiker mit ganz speziellen Fähigkeiten, die man sich on the job aneignet».
Ich bin Realist, nah an der Wirtschaft – und sehe: Das Jobwachstum findet bei den Jobs mit hohen Ansprüchen statt – und ein Bildungswesen, das seinen Bürgern den Zugang zu diesen Jobs nicht mehr gewährleisten kann, hat versagt. Die Firmen würden sonst einfach noch stärker im Ausland rekrutieren oder die Stellen dorthin verlagern.
Es gibt tatsächlich einen gesellschaftlichen Trend, Bildung nicht nur wegen des Arbeitsmarktes, sondern wegen des damit verbundenen sozialen Status nachzufragen. Bildung kann einen exzessiven Stellenwert bekommen.
Das wäre doch auch mit einer Lehre möglich. Braucht es immer noch zwingend einen «Fötzel» einer Hochschule?
Wo Sie recht haben: Es gibt tatsächlich einen gesellschaftlichen Trend, Bildung nicht nur wegen des Arbeitsmarktes, sondern wegen des damit verbundenen sozialen Status nachzufragen. Bildung kann einen exzessiven Stellenwert bekommen. Ein Politiker aus Kalifornien hat mir einmal Folgendes gesagt: Früher hatten in seiner Stadt jene den höchsten sozialen Status, die am meisten Steuern bezahlten. Heute sind es jene mit dem höchsten Bildungsabschluss – selbst, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Dieses Phänomen kennen wir auch in der Schweiz.
Wirklich? In der Schweiz spricht man gern schnell von Sozialschmarotzern…
In der Schweiz ist es sicherlich nicht so krass wie in den USA oder in Frankreich. Aber in der Schweiz spreche ich immer vom Golfplatzsyndrom. Da verstecken sich die Eltern gleich, wenn sie die Frage befürchten müssen, was die Kinder machen – ihre Kinder aber keine akademische Karriere eingeschlagen haben. Auch wenn die Eltern selbst erfolgreich unterwegs sind und das Kind vielleicht auch ohne akademischen Abschluss Karriere macht. Alles, was in den Augen arrivierter Eltern zählt, ist ein akademischer Abschluss.
Ich kann es ehrlich gesagt verstehen, wenn Lehrer dann denken: Wenn die Eltern unbedingt wollen, dass das Kind ins Gymi geht, dann soll es doch. Wenn es scheitert, ist das nicht mein Problem…
Für Eltern sind Kinder immer «Weltwunder», aber sind nicht auch die Lehrer für eine realistische Einschätzung verantwortlich? Heute sagt einem Schüler doch niemand mehr: Du, ich sehe dich in einer Bank- oder Kochlehre.
Klar ist: Jugendliche müssten so beraten werden, dass sie eine realistische Standortbestimmung vornehmen können und nicht nur ihren Präferenzen und Neigungen folgen. Die Berufswahlvorbereitung ist zwar obligatorisch, aber nicht jeder Lehrer ist deswegen automatisch ein Profi für Arbeitsmarktfragen, und bei kritischen Entscheiden und Feedback kann man auch keine Wunder von ihnen erwarten …
…wegen des Drucks von aussen?
Ja, hat man eine schlechte Note verteilt, kommt schon der Rekurs. Ich kann es ehrlich gesagt verstehen, wenn Lehrer dann denken: Wenn die Eltern unbedingt wollen, dass das Kind ins Gymnasium geht, dann soll es doch. Wenn es scheitert, ist das nicht mein Problem…
Das ist menschlich, aber kann nicht die Lösung sein. Sie haben einen Ansatz…
Man könnte viel Druck von den Lehrern nehmen, wenn wir mehr standardisierte Tests einsetzen würden. Das wäre zudem auch meritokratisch und fair. In Kantonen mit Aufnahmeprüfungen kommen eigentlich keine schulisch schwachen Schülerinnen und Schüler ans Gymnasium. Eine Mehrheit der Bevölkerung möchte deshalb auch Prüfungen, aber es gibt eine Gruppe, die sich erfolgreich wehrt.
«Wir können es uns auf die Dauer gar nicht leisten, für jede Vollzeitstelle zwei bis drei Personen auf Hochschulniveau auszubilden.»
Stefan Wolter, Bildungsforscher
Die Akademiker?
Ja. Sie haben nur eine Präferenz: Ihr Kind muss ans Gymnasium – und da stehen die Chancen immer besser, wenn man Möglichkeiten hat, den Übertrittsentscheid direkt zu beeinflussen.
Die Akademiker wehren sich wohl auch gegen eine andere Idee von Ihnen, die für ordentlich Furore gesorgt hat: nachgelagerte Studiengebühren. Was genau ist das?
Es geht darum, dass beim fortschreitenden Trend zur Teilzeitarbeit Bildung aus der Sicht der Gesellschaft keine lohnende Investition mehr wird, da die Kosten gleich hoch bleiben – aber die Steuererträge diese über das Erwerbsleben gesehen nicht mehr decken. Das ist ein grosses Problem. Somit fehlt auf Dauer das Geld für die nächste Generation und verschärft sich der Fachkräftemangel. Das zentrale Argument ist für mich: So zahlen jene mit wenig Bildung denen mit Bildung die Bildungskosten. Und es kann nicht sein, dass das Studium des Teilzeit-Arztes von der Kassiererin bezahlt wird. Die heutige Generation finanziert die Akademiker von morgen: Und das Geld muss zuerst erarbeitet werden.
Wie stellen Sie sich die nachgelagerte Studiengebühr konkret vor?
Ich kann Ihnen ein Beispiel geben. Eine tertiäre Ausbildung kostet 100’000 Franken – und diese Kosten sollen über die Mehrsteuern kompensiert werden. Als Vergleich dient eine Person ohne tertiäre Bildung, die jährlich 5000 Franken Einkommensteuern zahlt. Der Akademiker müsste bei einer Abzahlungsfrist von beispielsweise 25 Jahren also jährlich 4000 Franken mehr Einkommensteuern zahlen, damit er nicht auf Kosten der Nichtakademiker studiert hat. Zahlt er das oder mehr, spürt er nichts von der Steuer. Zahlt er in einem Jahr aber nur 7000 Franken, müssten 2000 Franken nachgezahlt werden. Das ist die nachgelagerte Studiengebühr.
Wie viel muss ein Akademiker ungefähr arbeiten, damit er nichts zahlen muss?
Im Durchschnitt wohl etwas über 70 Prozent. Nicht Vollzeit, denn auch jene ohne tertiäre Ausbildung arbeiten ja nicht alle 100 Prozent – und verdienen im Durchschnitt auch weniger. Übrigens stelle ich mir auch vor, dass Frauen mit Frauen verglichen werden und Männer mit Männern, dann gibt es wegen dieses Instruments auch keine Benachteiligung eines der Geschlechter.
Warum dieser geschlechtsspezifische Vergleich?
Diese Spielvariante Männer versus Männer und Frauen versus Frauen muss man vorschlagen. Sonst wird die Idee gleich vom Tisch gewischt, mit dem Argument – das durchaus etwas für sich hat –, dass derzeit die Kindererziehung, die unbezahlte Hausarbeit etc. halt immer noch bei den Frauen liegt – und man deshalb von den Frauen nicht die gleichen Pensen erwarten dürfe wie von Männern. Dann ist es einfach so, dass Frauen mit einem Hochschulabschluss nicht mehr Teilzeit arbeiten dürften als Frauen ohne Hochschulabschluss.
Was erhoffen Sie sich – ganz geschlechterübergreifend – von dieser Gebühr?
Anreize. Maturanden sollen sich besser überlegen, was sie studieren wollen – und noch vielmehr soll bewerkstelligt werden, dass sie nachher auch arbeiten. Wir können es uns auf die Dauer gar nicht leisten, für jede Vollzeitstelle zwei bis drei Personen auf Hochschulniveau auszubilden. Zudem soll die Garantie, dass jene, die von der staatlichen Förderung profitiert haben, später der Gesellschaft auch wieder genügend zurückgeben, eine Polarisierung zwischen unten und oben verhindern.
Eigentlich klingt das wie ein sozialer Vorschlag. Gutverdienende geben etwas an Schlechterverdienende zurück – und liefern ihr Geld beim Staat ab. Aber gerade von der politischen Linken kommt am meisten Widerstand gegen Ihre Idee…
Das stimmt. Wir haben eine Umfrage mit 6000 Leuten gemacht: Linke stimmen knapp zur Hälfte zu – je rechter die Personen sind, desto grösser wird die Zustimmung. Bis zu 70 Prozent.
«Bei den Linken immer das Totschlagargument: Es ist sowieso genug Geld zum Umverteilen da – man muss ja nur die Reichen stärker besteuern, dann braucht man auch keine nachgelagerten Studiengebühren.»
Stefan Wolter, Bildungsforscher
Was zeigt: Die Linken vertreten nicht mehr die Arbeiter, sondern das Bildungsbürgertum?
Es sieht zumindest so aus.
Welche Argumente gegen Ihre Idee hören Sie denn von linker Seite?
Die kenne ich auch nur aus der Zeitung. Es sind die üblichen: Bildung darf nicht ökonomisiert werden; Studenten sollen sich Studienfächer ohne ökonomische Zwänge auswählen dürfen; kostenlose Bildung sei ein Menschenrecht; Studenten in Fächern mit schlechten Arbeitsmarktaussichten würden bestraft; das Risiko des Arbeitsmarktmisserfolges werde auf die Studenten abgewälzt; die Idee laufe gegen den Zeitgeist, der verlange, dass immer mehr Leute dank Teilzeitarbeit Familie und Beruf besser verbinden können.
Das überzeugt Sie nicht?
Bei all diesen Argumenten fällt den Personen, die sie vorbringen, nie auf, dass scheinbar nur Personen mit Hochschulbildung solche Vorteile geniessen sollen und dürfen. Jene ohne Hochschulbildung, die teilweise gar keine Löhne haben, bei denen sie sich Teilzeitarbeit leisten können, sollen gefälligst zahlen. Und am Schluss kommt immer das Totschlagargument: Es ist sowieso genug Geld zum Umverteilen da – man muss ja nur die Reichen stärker besteuern, dann braucht man auch keine nachgelagerten Studiengebühren.
Diese Argumentationslinie kennt man – aber es ist immerhin eine. Von bürgerlicher Seite kommt wenig Initiative…
Das ist immer so bei Bildungsthemen. Da nicht alle betroffen sind, gibt es Themen, die mehr Wähler binden – und somit verlockender sind. Aber die Idee ist nicht einfach Effekthascherei, wir stehen erst am Anfang der Diskussion. Schliesslich ist der Vorschlag nicht realitätsfremd, da es Länder gibt, die heute schon nachgelagerte Studiengebühren kennen. Nur mit dem Unterschied zu unserem Vorschlag, dass diese auch dann bezahlt werden müssen, wenn man schon mehr Steuern bezahlt hat. Wir wollen keine Doppelbesteuerung.
Stefan C. Wolter, geboren 1966, ist der wohl bedeutendste Bildungsexperte dieses Landes. Er ist Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) und Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern, an der er seit über 20 Jahren für die Forschungsstelle für Bildungsökonomie verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus wird der Ökonom immer wieder in nationale und internationale Ausschüsse berufen, wo er die Schweiz in Bildungsfragen berät und vertritt – etwa bei der OECD. (sb)