21. November 2024

Die Lehrkräfte spüren: «Hier werde ich gebraucht!»

Interview mit Ruth Wiederkehr (61 Jahre alt) und Kurt Neujahr (52 Jahre alt). Beide sind seit 1996 in der Schulleitung des 1996 gebildeten Oberstufenzentrums Orpund. Alain Pichard führte für den Condorcet-Blog das Interview. Wir veröffentlichen hier den ersten Teil des Gesprächs.

Alain Pichard
Liebe Ruth, lieber Kurt, das Oberstufenzentrum Mett-Bözingen litt zu Beginn seiner Entstehung unter dem Ruf seiner Vorgängerin, der Sekundarschule Sahligut, dann zu Beginn der 2000-er Jahre galt sie als  Ghettoschule der Stadt Biel. Heute wird sie nicht selten als Modellschule bezeichnet, die viel Lob erhält. Alt-Bildungsdirektor Bernhard Pulver zeigte sich nach seinem Besuch hier begeistert, Schuldirektor Némitz sprach sogar von seiner besten Schule in der Stadt. Und auch Umteilungsgesuche gibt es kaum noch.  Im Gegenteil, heute stellen Eltern den Antrag, zu euch zu kommen. Was waren damals die grössten Herausforderungen?

Kurt Neujahr, Schulleiter und Informatikbeauftragter der Stadt Biel

Neujahr

1996 war ja der Startschuss, eine Oberstufenreform, ein neuer Lehrplan und die Gründung des Oberstufenzentrums Mett-Bözingen. Zwei Herausforderungen stellten sich zu Beginn: Erstens die unterschiedlichen Lehrkräfte, die zu einem Kollegium zusammenkamen. Da trafen völlig verschiedene Vorstellungen aufeinander, wie Schule sein muss. Zweitens die erste grosse Migrationswelle nach dem Balkankrieg, welche uns viele SchülerInnen mit Sprachbarrieren und völlig anderen Mentalitäten brachte.

Wiederkehr

Gleichzeitig wurden auch die geleiteten Schulen eingeführt. Man wies uns auch eine pädagogische Aufsicht zu, was für Kolleginnen und Kollegen schwer zu akzeptieren war. Die Schulleitungen waren ja bisher sogenannte Primus inter Pares, also Verwalter unter ihresgleichen.

Alain Pichard

Aber so klar war die Kompetenzverteilung nicht geregelt. Die Weisungsbefugnis war eher diffus und es gab  noch immer Schulkommissionen!

Neujahr

Ganz klar, so wie die Schulleitung heute funktioniert, war sie damals keineswegs aufgestellt. Wir haben der Schulkommission Stück für Stück mehr Kompetenzen abgerungen. Übrigens immer im Einverständnis mit der Aufsichtsbehörde.

Alain Pichard

Zum Beispiel?

Neujahr

Wir haben die Vorstellungsgespräche mit den neuen Lehrkräften selber geführt, konnten schneller reagieren und bekamen dadurch die Personalplanung in unsere Hand. Das war sehr wichtig.

Ruth Wiederkehr, Schulleiterin, Initiatorin des Leseprojekts

Wiederkehr

Und schliesslich kam auch noch dazu, dass wir die starre Trennung von Sekundar- und Realschule in Biel gelockert haben. Es gab die Niveaufächer, und einzelne Übertritte oder sogar Stammklassenwechsel waren jetzt möglich. Das hatte allerdings zur Folge, dass Sekundarlehrkräfte es nun mit Realschülerinnen und -schülern zu tun bekamen. Auch hier kam es zu Reibungen und Überforderungen.

Neujahr

Alles in allem hatten wir wirklich einen sehr anspruchsvollen Start.

Alain Pichard

Hattet ihr eigentlich einen Plan, wie ihr vorgehen wolltet?

Neujahr

Nicht wirklich. Zunächst einmal haben wir möglichste viele Facetten des Kollegiums in die Schulleitung aufgenommen, was dazu führte, dass wir zu Beginn ein 4-er-Team hatten. Daraus wurde dann nach anderthalb Jahren ein Triumvirat.

Wiederkehr

Grundsätzlich sind wir immer sehr behutsam vorgegangen. Wir haben den Kolleginnen und Kollegen viele Freiheiten gelassen, was übrigens heute noch ein Markenzeichen unserer Schule ist. Wir haben ältere Kollegen nicht gezwungen, die Veränderungen mitzumachen, erwarteten allerdings auch, dass diese umgekehrt unsere Pläne nicht torpedierten.

Alain Pichard

Und das funktionierte?

Wiederkehr

Nicht immer, aber im Grossen und Ganzen schon. So hatten wir an der Lehrerfront Ruhe und konnten uns den pädagogischen Fragen zuwenden.

Alain Pichard

Und die waren?

Wiederkehr

Nun, die neue Zusammensetzung der Schülerschaft mit mangelnden Deutschkenntnissen, die vielen Disziplinlosigkeiten, die prekäre Lehrstellensituation, die Entwicklung der Unterrichtsqualität… es gab eine Menge zu tun…

Alain Pichard

Womit habt ihr angefangen?

Wiederkehr

Man muss nie alles auf einmal machen und Geduld haben. Ein ganz wichtiges erstes Ziel war vor allem: kein Chaos. Keine gescheiterten Klassen, eine gewisse Ordnung und ein Lernklima, in dem sich arbeiten lässt. Dazu muss man auch genau hinschauen, wo die Probleme liegen, man muss die Probleme in den Klassenzimmern erkennen und darf sie nicht zudecken. Dann muss man mit den Lehrkräften nach Lösungen suchen. Dabei darf man auch ruhig mal über den eigenen Tellerrand schauen, sprich von anderen Schulen lernen.

Neujahr

Ich will hier ein Beispiel geben. Wir erkannten schnell einmal, dass unsere Schülerinnen und Schüler bei Ihrer Lehrstellensuche grosse Probleme hatten. Die Zahl der Lehrverträge war viel zu gering. Daraus entstand dann unser Berufswahlprojekt 9. Schuljahr, das den Unterricht in der 9. Klasse massiv umstellte.

Alain Pichard

Was habt ihr da konkret verändert?

Neujahr

Wir haben die begleiteten Berufspraktika eingeführt, einen festen Tag in der Woche Projekt- und Wahlunterricht eingeführt, ein Netzwerk mit den Lehrbetrieben aufgebaut u.v.m. Heute kommen viele Schulen, um unseren Berufswahlunterricht zu studieren…

Wiederkehr

Aber auch hier galt, wir haben immer wieder Dinge verändert, wenn sich etwas als nicht mehr praktikabel erwies. Man muss bereit sein, auch liebgewonnene Inhalte zu verändern, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern.

Neujahr

Vieles entstand aus konkreten Problemsituationen, die es praktisch zu lösen galt. Manchmal auch aus Fehlern. Wir hatten zum Beispiel einmal einen Bock geschossen, als wir einen Unterrichtsausschluss verfügten, was damals gesetzlich gar nicht möglich war. Es war aber der Anstoss für eine weitere Änderung. Wir setzten uns mit der Schulkommission, der Schulinspektorin und der Erziehungsberatung zusammen, die damals noch von dem legendären Herrn Von Felten geleitet wurde. Daraus entstand dann der befristete Unterrichtsausschluss, das sogenannte Timeout. Was zunächst von einigen Institutionen stark kritisiert wurde, erwies sich sehr schnell als eine sehr wirksame Massnahme gegen die Alltagsdisziplinlosigkeiten, welche den Unterricht so stark belasten.

Wiederkehr

Oder das Leseprojekt. Da engagierten wir zwei absolute Fachkräfte, die sogenannten Lesefrauen, welche uns bei der Installierung eines Lesekonzepts halfen. Und zwar von der 7. bis in die 9. Klasse. Regelmässig machen wir Lesenächte, literarische Gespräche, Dichterlesungen und Lesewettbewerbe.

Die Bibliothek, der Stolz der Schule.

Alain Pichard

Und da machen alle Lehrkräfte mit oder braucht es da Zwang?

Wiederkehr

Es ist ein Prozess. Heute sind all diese Dinge unbestrittener Bestandteil des Unterrichts. Aber auch, weil wir bereit sind, Dinge zu verändern, wenn die Lage es erfordert

Den 2. Teil des Gesprächs können Sie nächste Woche (3.6.2019) lesen.

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Aufgrund der fundamentalistischen Interpretation der Salamanca-Erklärung von 1994 ( https://condorcet.ch/2023/04/das-missverstaendnis-von-salamanca/ ) erfolgte fast 2 Jahrzehnte später im Rahmen des Lehrplan 21 die Inkludierung aller Schüler in den Normalunterricht. Die Folgen davon sind bekannt. In den inkludierten Klassen herrscht ein Kommen und Gehen.

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