5. Dezember 2025
Replik auf Peter Rothenbühlers flammenden Appell in der Weltwoche: Rettet das Frühfranzösisch

Lieber Peter Rothenbühler

Condorcet-Autorin Christine Staehelin antwortet auf den flammenden Appell des Journalisten Peter Rothenbühler (Weltwoche), der das Frühfranzösisch retten will.

Ihr Plädoyer für das Französisch hat mich sehr gefreut! Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass man sich in unserem mehrsprachigen Land gegen das Erlernen einer Landessprache als erste Fremdsprache ausspricht? Gibt es auch nur einen einzigen Grund, warum wir uns hierzulande in einer Sprache verständigen sollten, die für alle eine Fremdsprache ist?

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des baselstädtischen Bildungsrates:

Sprache ist weit mehr als Wörter: Sie trägt Kultur, Geschichte, Werte und Denkweisen. Gerade in unserer mehrsprachigen Schweiz ist gegenseitiges Verständnis unverzichtbar – nicht nur als Mittel zur Information, sondern als Grundlage für Respekt, Miteinander und Anerkennung unserer Verschiedenheit.

Dennoch ist es eine Tatsache, dass nur rund die Hälfte der Deutschschweizer Schülerinnen und Schüler die Grundkompetenzen in Französisch erreicht. Wie konnte es so weit kommen?

Im HarmoS-Konkordat von 2007 wurde festgelegt, dass in der Primarschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden: die erste ab der 3., die zweite ab der 5. Klasse. Wer Kindern bereits mit acht oder neun Jahren eine Fremdsprache zumutet, ignoriert die kognitive Entwicklung: Zu diesem Zeitpunkt fehlen ihnen die Fähigkeiten, abstrakte Grammatikregeln zu verstehen oder Lernstrategien gezielt anzuwenden. Die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Kinder erst ab etwa 11 Jahren Sprachen bewusst, systematisch und strategisch lernen können, weil sie dann abstrakte sprachliche Konzepte erfassen. Ein früheres Einführen erschwert den Erwerb grundlegender Sprachkompetenzen – und dies war bereits 2007 bekannt.

Das Ignorieren entwicklungspsychologischer Tatsachen und didaktischer Prinzipien sind die wesentlichen Gründe für das Scheitern des Frühfranzösisch ab der 3. Klasse.

Dazu kam, dass man in den Passepartout-Kantonen, in denen Französisch als erste Fremdsprache unterrichtet wird, ein vollkommen untaugliches Lehrmittel verwendete. Das Ignorieren entwicklungspsychologischer Tatsachen und didaktischer Prinzipien sind die wesentlichen Gründe für das Scheitern des Frühfranzösisch ab der 3. Klasse.

Peter Rothenbühler, Journalist. Verfechter des Frühfranzösisch.

So unüberlegt, wie man vor zwanzig Jahren zentrale pädagogische Fakten ignorierte und damit den Misserfolg vorprogrammierte, so unüberlegt reagiert man nun auf das Scheitern des frühen Französischunterrichts. Man streicht ihn auf der Primarstufe kurzerhand – ganz nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. Das Problem scheint damit verschwunden, Verantwortung für das Scheitern? Überflüssig. Ursachenforschung? Unnötig. Was bleibt, ist der Verlust – und auch darüber scheint man sich erstaunlich wenig Gedanken zu machen.

Deshalb ist es an der Zeit, Konsequenzen zu ziehen: Französisch muss als erste Fremdsprache an der Primarschule ab der 5. Klasse unterrichtet werden – nicht später, nicht optional, sondern systematisch. Nur so würdigen wir die Mehrsprachigkeit der Schweiz, fördern gegenseitiges Verständnis und stärken die Anerkennung unserer Vielfalt. Vive le français!

Mit freundlichen Grüssen

Christine Staehelin

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Wer einen Schatz an Geschichten und Sachwissen hat, liest besser

Vielen Schulabgängern fällt das Lesen bereits einfachster Texte schwer, wie die PISA-Studie wieder einmal aufgezeigt hat. Dass ein Viertel unserer Schuljugend schlechte Karten für das Erlernen einer ganzen Reihe von Berufen hat, ist ein bildungspolitischer Tiefpunkt. Bei den Experten der Schulentwicklung herrscht Ratlosigkeit, weshalb sich die Lesefähigkeiten trotz aller Stützmassnahmen verschlechtert haben. Alles Mögliche und Unmögliche wird jetzt gefordert, um aus dieser Krise herauszukommen. Die Ratlosigkeit ist so gross, dass einige Bildungspolitiker als Heilmittel gar eine personalintensive Doppelbesetzung in allen Regelklassen vorschlagen. Doch Utopien helfen nicht weiter, meint Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz.

Schulpflicht in Windeln?

Professorin Margrit Stamm formuliert kritische Gedanken zur Frage, ob Kinder zu früh eingeschult werden. Nachdem schon Condorcet-Autor Alain Pichard die Probleme bei der Lehrstellensuche wegen der früheren Einschulung dargelegt hat, wirft dieser Beitrag einen differenzierten Blick in den Kindergarten und enthält auch einen konstruktiven Vorschlag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert