Christine Staehelin - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 22 Sep 2023 06:19:21 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Christine Staehelin - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Man kratzt an der Oberfläche und erreicht das Gegenteil https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/09/man-kratzt-an-der-oberflaeche-und-erreicht-das-gegenteil/#comments Thu, 21 Sep 2023 15:06:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=14971

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin mit Pädagogik-Studium, beschäftigt sich in Ihrem Beitrag mit der ungenügenden Begründbarkeit vieler Reformen und analysiert messerscharf die gravierenden Konsequenzen.

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In den letzten Jahren prägen Schlagzeilen wie “Lehrpersonen am Ende – Druck auf die integrative Schule”, “Frühfranzösisch und integrative Schule – alles ein Fehler?”, “Frühfranzösisch an der Primarschule ist gescheitert”, “Wegen Gewalt an Schulen – 1000 Lehrer mussten zum Arzt”, “Viele Lehrer schmeissen wegen hoher Belastung hin”, “Eltern erstatten häufiger Anzeige gegen Lehrer”, “Wenn wir nichts unternehmen, geht die Volksschule kaputt”, “Lehrplan 21 im Sperrfeuer der Kritik” den schulischen Diskurs.

Christine Staehelin, Primarlehrerin, Mitglied des Bildungsrates und Nationalratskandidatin der GLP-Basel: Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische.

Die Schlagzeilen, die Debatte und die Kritik beschäftigen sich mit Oberflächlichkeiten. Die Schule steht nicht mehr als Repräsentantin der Kultur und ihrer Aufgabe, diese mittels eines pädagogischen Auftrags zu tradieren, im Zentrum der Debatte. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass die Reformen der letzten Jahrzehnte, welche das Selbstverständnis der Schule erschüttert haben, reine Oberflächeninterventionen waren. Sie haben diese behäbige, prinzipiell konservative Institution mit Neuem überflutet. Dem Neuen, das seine Begründung und damit seinen Sinn weder aus der pädagogischen Praxis oder ihrer Theorie noch aus dem gesellschaftlichen Auftrag der Schule abgeleitet hat, sondern letztlich allein aus der Idee des Neuen selbst. Zusammenhangslos, theorielos, erfolglos und ziellos wurden unzählige Reformen – Beispiele werden weiter unten aufgeführt – den Schulen einfach übergestülpt.

Das hat nicht nur das Selbstverständnis der Schule, sondern auch das pädagogische Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer aus dem Gleichgewicht gebracht. Und die Auswirkungen auf verschiedenen Eben zeigen: Es hat das Vertrauen in die Institution und ihre Glaubwürdigkeit geschwächt. Und in der Debatte rund um die Oberflächlichkeitsphänomene geht vergessen, dass diese nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Es scheint, als wisse die Gesellschaft nicht mehr, was die pädagogische Praxis vor Ort leisten kann und soll. Es wird ihr viel zu viel zugemutet und gleichzeitig wird sie ständig kritisiert. Sie soll also alles richten und gleichzeitig traut man es ihr nicht zu. Die Gesellschaft wird pädagogisiert, lebenslanges Lernen verlangt, aber an den Schulen verschwindet das Pädagogische, das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.

Die praxisfremden Oberflächenneuerungen

Der Lehrplan 21 mit seinen unzähligen Kompetenzen wurde erfunden; neue methodisch-didaktische Konzepte ausgeklügelt, die immer mehr Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler delegieren, weil die ältere Generation meint, die jüngere wisse es besser. Gleichzeitig stiehlt sich die ältere damit der Verantwortung; die Integration aller Kinder vorangetrieben ohne zu berücksichtigen, dass es Kinder gibt, die auf einen spezifischen, ihren Fähigkeiten angemessenen Unterricht angewiesen sind, damit sie später an der Gesellschaft teilhaben können; das Frühfranzösisch wurde eingeführt, ohne zu beachten, dass frühes Erlernen einer Fremdsprache nicht einfach besser ist, sondern dass das Erlernen von Neuem immer auch in einem altersabhängig angemessenen Kontext stattfinden muss, damit es Erfolg haben kann; die Schule wurde mit digitalen Geräten geflutet, um auf die Digitalisierung vorzubereiten, was auch immer das heissen mag, ohne zu berücksichtigen, dass Lernen und Lehren eine grundsätzlich personale Angelegenheit ist und dass die Nutzung technischer Hilfsmittel keine pädagogische Praxis an sich ist.

Die Wirkung der Neuerungen

Dem kann man entgegenhalten, dass dies alles ja nur Oberflächeninterventionen seien, doch diese haben die Schule in ihrem Kern getroffen, da damit eine grundlegende Umgestaltung der pädagogischen Praxis erfolgt ist.

Die unzähligen Kompetenzen des Lehrplans 21 führen in ihrer Oberflächlichkeit genau dazu, dass alles Wesentliche nur noch angetippt wird; es fehlt die Zeit für die vertiefte Beschäftigung, für das Verstehen, für das Üben. Hektisch und atemlos wird versucht, diese Können-Formulierungen irgendwie umzusetzen. Und da die Lehrpersonen hier an ihre Grenzen stossen, werden die Kompetenzformulierungen einfach den Schülerinnen und Schülern übergeben zusammen mit entsprechenden Aufträgen und so genannten Dossiers.

Die methodisch-didaktischen Konzepte treiben die Individualisierung des Unterrichts in unterschiedlichen Variationen voran, die Klasse als Ganzes rückt aus dem Blickfeld, denn es muss auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes Einzelnen eingegangen werden; die gemeinsame Ansprache, worauf das Unterrichten im Kollektiv, wie es an der Schule nun einmal stattfindet, angewiesen ist, wird als Frontalunterricht diskreditiert und dem Prinzip der Individualisierung als unterrichtsleitend gegenübergestellt.

Die integrative Schule ist eine Schule für immer weniger

Die so genannt integrative Schule hat genau das Gegenteil ihrer Absicht verwirklicht: Noch nie hatten so viele Kinder einen so genannten Förderbedarf, noch nie wurden so viele Diagnosen gestellt, verstärkte Massnahmen finanziert, Therapien an Schulen durchgeführt und noch nie wurde so oft moniert, dass die Lehrpersonen aufgrund der Zunahme von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern an ihre Grenzen stossen. Die integrative Schule ist nicht eine Schule für alle, sondern eine Schule für immer weniger, denn immer mehr brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.

Dass das Frühfranzösisch scheitern würde, war vorhersehbar, denn das Konzept des Sprachbads während zwei bis drei Lektionen pro Woche ist weder begründbar noch nachvollziehbar. Doch es ist auch ein Zeichen der Zeit, dass das Experiment das Mittel der Wahl ist und das Argument im Vorfeld keine Chance hat. Dass mit diesem Konzept mehrere Millionen in den Sand gesetzt wurden, dass der Stellenwert des Französisch als Landessprache zusätzlich geschwächt wurde, dass Kinder unzählige Lektionen in einem ineffektiven Unterricht verbringen, das wurde einfach in Kauf genommen.

Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Turbodigitalisierung hat den Lernerfolg nicht gesteigert, im Gegenteil. Es ist empirisch erwiesen, dass das Lesen am Bildschirm oberflächlicher erfolgt als in Büchern, dass der Wortschatz kleiner wird und die Fähigkeit zur Textproduktion sinkt, je häufiger digitale Medien genutzt werden, dass das Schreiben von Hand dem Schreiben mit digitalen Endgeräten überlegen ist. Ganz abgesehen davon führt die extensive Nutzung digitaler Geräte an Schulen dazu, dass die sozialen Interaktionen abnehmen, dass jeder zunehmend nur mit seinem Gerät beschäftigt ist, dass die Lehrperson hinter den Bildschirmen verschwindet und das Wissen irgendwo in den Sphären gesucht werden muss, kurz: Die Schule als Ort, an dem ältere Menschen jüngere Menschen bilden, befindet sich in einem tragischen Zustand, weil Geräte das offenbar besser können.

Die Debatte der Oberflächlichkeiten

Die nun sichtbar gewordenen problematischen Auswirkungen der oberflächlichen Reformen führen zu öffentlichen Debatten, bei welchen alle mitreden, alle sich aufregen, alle kritisieren, alle alles besser wissen können. Sie führen zu oberflächlichen Diskursen und verfehlen damit einerseits die grundsätzliche Problematik eines möglichen Scheiterns der öffentlichen Schule und andererseits werden sie der Komplexität des gesellschaftlichen Auftrags an die Schule, der pädagogischen Praxis und deren Widersprüchlichkeiten nicht gerecht. Man redet über jene Phänomene des Scheiterns, die nun sichtbar werden, ohne nach den eigentlichen Ursachen zu fragen.

Ein Lehrplan, der das Können formuliert, vergisst, dass dieses nicht einfach hergestellt werden kann und dass es grundsätzlich ausschliesst, dass Bildung viel mehr ist, als dass, was verwertet werden kann. Eine finale Formulierung von Kompetenzen schliesst Neugierde, Begeisterung, verstehen Wollen und alles Schöne, aber vielleicht nicht direkt Verwertbare aus. Ausserdem erhebt sie den Anspruch, dass es Instanzen gibt, die genau wissen, was überhaupt gewusst werden soll. Sie nehmen der pädagogischen Praxis die Sinnhaftigkeit, die weit über das hinausgeht zu vermitteln, was unmittelbar als nützlich erachtet wird. Und so diskutieren wir über die Ausformulierung und die Anzahl von Kompetenzen, statt über das Lernen im Kollektiv mit dem Ziel, sich die Welt ein Stück weit anzueignen und sich dadurch einbringen zu können.

Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten.

Individualisierende Unterrichtsformen sollen den Lernbedürfnissen des einzelnen Kindes entgegenkommen, jedes Kind soll als Individuum wahrgenommen und sich selbst sein dürfen, sein aktueller Lernstand soll erhoben und spezifische, darauf ausgerichtete Lernangebote sollen bereitgestellt werden oder es soll aus einem breiten Angebot in einer Lernlandschaft selbst wählen können, was es gerade lernen möchte. Dabei stiehlt sich die Erwachsenenwelt aus ihrer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation und lässt sie zunehmend allein und auf sich selbst bezogen. Zunehmend weniger stehen Instruieren und Intervenieren im Zentrum, sondern Beobachten, Beurteilen Begutachten. Das heisst, die Erwartungen bleiben dieselben, aber sie werden nicht mehr direkt kommuniziert, sondern die Schülerinnen und Schüler müssen sie selbst entdecken, was bedeutend schwieriger ist. Wir Menschen sind soziale Wesen und leben in einer geteilten Welt. Nicht die Debatten darüber, wie die Schule noch mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes eingehen könnte, ist zielführend, sondern die Besinnung darauf, dass wir soziale Wesen sind. Gerade diese herausfordernde Praxis, dass wir, auch wenn wir alle unterschiedlich sind, die Welt teilen und stets von Neuem aushandeln müssen, wie wir zusammenleben wollen, können wir in der Schule erlernen.

Wir reden darüber, mit wie viel zusätzlichen finanziellen Mitteln und zusätzlichen therapeutischen Angeboten wir die integrative Schule retten können, statt darüber zu reden, dass es einige wenige Kinder gibt, für welche die Regelschule nicht das angemessene Setting bieten kann, weil sie nicht auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingeht. Wir schaffen Unterrichtssituationen, die mit ihrer anwachsenden Komplexität, der zunehmenden Unruhe und der steigenden Anzahl von Lehr- und Fachpersonen bei immer mehr Kinder vor Herausforderungen stellen, die sie nicht mehr meistern können. Die Konzentrations- und Lernprobleme und die Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Dies wird dann mit gesellschaftlichen Veränderungen begründet, auch wenn die Probleme systemimmanent sind. Wir gehen tatsächlich so weit, eine immer grössere Anzahl von Kindern und Jugendlichen als förder- und therapiebedürftig zu bezeichnen, anstatt darüber zu reden, wie sehr wir die Schülerinnen und Schüler allein lassen, weil sie sogar ihre Lernziele selbst wählen können, obwohl sie wissen, dass überall versteckte Erwartungen lauern.

Wir streiten über die Ineffizienz des Französischunterrichts, statt darüber zu reden, wie wichtig es für ein mehrsprachiges Land ist, sich gegenseitig zu verstehen und sich austauschen zu können.

Obwohl Digitalisierung ein sehr unscharfer Begriff ist, hat diese Idee und die dafür bereitgestellten Millionenbudgets an den Schulen dazu geführt, dass zunehmend digitale Endgeräte eingesetzt werden. Aktuell wird darüber diskutiert, ob KI und ChatGPT für die Schulen eine Gefahr, eine Revolution oder ein Segen seien. Sie sollen personalisierte Lernprogramme erstellen, den Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern eruieren können und sie beim Lernen unterstützen. Wir aber sollten öffentlich darüber diskutieren, ob wir als Menschen, die das Wissen in unseren Köpfen an die Köpfe der nächsten Generation weitergeben, angereichert mit unserer Begeisterung und unseren Erfahrungen, in einer pädagogischen Beziehung, die auf Vertrauen, Zutrauen, Zumuten und einer manchmal kontrafaktisch positiven Erwartungshaltung basiert, diese Aufgabe tatsächlich an Maschinen delegieren wollen.

Worüber wir eigentlich debattieren sollten

Die Ausführungen wollen aufzeigen, dass die oberflächlichen Reformen der letzten Jahrzehnte und die ausufernden Zumutungen an die Schule sowie die damit einhergehenden oberflächlichen, öffentlichen Debatten die pädagogische Praxis und die Schule als wesentliche Institution einer Demokratie irritiert und verunsichert haben Die Schule als Ort der Widersprüchlichkeiten, des möglichen Scheiterns, der Horizonterweiterung, der personalen pädagogischen Beziehungen, der Begeisterung und der Langeweile, des Lernens im Kollektiv, der Weltzugänge sowie der Freundschaften und der Streitigkeiten ist eine äusserst komplexe Institution. Sie ist auf ein pädagogisches Selbstverständnis angewiesen, das ihren Sinn zumindest teilweise begründet. Das ist der unsichtbare, aber überlebenswichtige Teil des Eisbergs, über welchen wir nicht debattieren. Wenn wir uns nicht damit befassen, sondern nur mit den über dem Meeresspiegel sichtbaren Oberflächlichkeiten, die jeder aus seiner individuellen Perspektive wahrnimmt, interpretiert und kritisiert, dann wird der unsichtbare Teil möglichweise eines Tages geschmolzen sein, ohne dass wir es bemerkt haben. Und wir werden uns fragen, warum die öffentliche Schule verschwunden ist, spätestens dann, wenn niemand mehr dort unterrichten wird.

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Frühfranzösisch in Basel-Stadt: GLP nimmt Stellung https://condorcet.ch/2023/02/fruehfranzoesisch-in-basel-stadt-glp-nimmt-stellung/ https://condorcet.ch/2023/02/fruehfranzoesisch-in-basel-stadt-glp-nimmt-stellung/#comments Wed, 15 Feb 2023 10:13:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=13099

Das Frühfranzösisch kommt in den Passepartout-Kantonen unter Druck. Im Kanton Baselland ist ein entprechendes Postulat zur Überprüfung überwiesen worden. Im Kanton Basel-Stadt soll Französisch für die A-Klassen nur noch freiwillig gewählt werden. Zudem wird auch die GLP der Stadt Basel aktiv. Die beiden GLP-Frauen Christine Staehelin, Mitglied des Bildungsrats, und Sandra Bothe, Grossrätin, lehnen zwar die Motion Biedert in dieser Form ab, unterstützen aber grundsätzlich das Anliegen einer Überprüfung.

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Christine Staehelin, Primarlehrerin, GLP-Fachgruppenleiterin „Bildung/Familie“ und Condorcet-Autorin.
Sandra Bothe, GLP-Grossrätin

Der Landrat im Kanton Baselland fordert, dass der Fremdsprachenunterricht in der Primarschule überprüft wird. In ihrer Motion, die nun in ein Postulat (Anzug) umgewandelt wurde, forderte Anita Biedert die Verlegung des Französischunterrichts auf die Sekundarstufe.

Der Vorstoss hätte zwar pädagogisch einiges für sich, dennoch unterstützen auch wir die Forderungen inhaltlich in dieser Form nicht und begrüssen die Überweisung als Postulat.

Es ist Zeit für ein Up-Date in der „Casa“ Frühfranzösisch – auch in Basel-Stadt.

Der Ansatz des frühen Fremdsprachenunterrichts (ab der 3. Primarklasse) wurde schon vor dessen Einführung kritisiert; längst ist nun bekannt, dass der Erfolg ausblieb. Im Gegenteil: In den sechs Passepartout-Kantonen wurden 100 Millionen ausgegeben und die Leistungen im Französisch sanken, was Studien belegen.

Abgesehen davon, ob Mobilität überhaupt als Argument eines pädagogischen Projekts beigezogen werden soll, ist es auch so, dass die Reihenfolge der Einführung der Fremdsprachen regional koordiniert wird, was das Hauptargument zur Farce werden lässt.

Das HarmoS-Konkordat wollte Ziele der Bildungsstufen harmonisieren. Festgelegt wurde unter anderem, dass auf der Primarstufe der Unterricht in zwei Fremdsprachen eingeführt werden muss.  Als einer der Hauptgründe wurde die Mobilität genannt: Der Anschluss der Schülerinnen und Schüler, die während ihrer Schulzeit den Kanton wechseln, sollte gewährleistet werden. Abgesehen davon, ob Mobilität überhaupt als Argument eines pädagogischen Projekts beigezogen werden soll, ist es auch so, dass die Reihenfolge der Einführung der Fremdsprachen regional koordiniert wird, was das Hauptargument zur Farce werden lässt.

Gleichzeitig sind wir der Ansicht, dass die Zeit bis zur Auswertung der Resultate der ÜGKs – wir wären bereit, bereits jetzt Wetten abzuschliessen auf die Ergebnisse – dazu genutzt werden muss, gemeinsam mit den anderen Passepartout-Kantonen über die Bücher zu gehen.

Auch wenn wir der Meinung sind, dass die versprochenen Erfolge eines frühen Fremdsprachenunterrichts längst widerlegt sind und dass diesbezüglich gemeinsam getroffene Fehlentscheide widerrufen werden können und sollen, statt dass man sich immer wieder auf HarmoS bezieht, schliessen wir uns der Antwort des Regierungsrats Baselland an, der die Evaluationen im Rahmen der ÜGKs 2023 abwarten will.

Gleichzeitig sind wir der Ansicht, dass die Zeit bis zur Auswertung der Resultate der ÜGKs – wir wären bereit, bereits jetzt Wetten abzuschliessen auf die Ergebnisse – dazu genutzt werden muss, gemeinsam mit den anderen Passepartout-Kantonen über die Bücher zu gehen.

Wenn wir den Stellenwert des Französisch als Landessprache gebührend achten wollen, dann müssen wir alles daransetzen, dass unsere Schülerinnen und Schüler gut Französisch lernen. Es gibt genügend Studien, die zeigen, wie das geht.

Den Französischunterricht auf die Sekundarstufe zu verlegen oder freiwillig zu machen, wie dies aktuell im Kanton Basel-Stadt für die Sekundarstufe A ab der 2. Klasse vorgesehen ist, sind nicht die adäquaten Antworten auf die Herausforderungen, sondern nur klägliche Reaktionen auf das Scheitern des frühen Fremdsprachenunterrichts, ohne dass dieser hinterfragt werden würde.

Die Resultate werden u.E. zeigen, dass es auch im Kanton Basel-Stadt Sinn macht, die Bildungsstrategie für die erste weitere Landessprache evidenzbasiert zu überprüfen und eine neue Zieldefinition zu formulieren, die konkrete Vorschläge beinhaltet und aufzeigt, wie die Leistungen im Fremdsprachenunterricht für alle Schülerinnen und Schüler verbessert werden können.

Den Französischunterricht auf die Sekundarstufe zu verlegen oder freiwillig zu machen, wie dies aktuell im Kanton Basel-Stadt für die Sekundarstufe A ab der 2. Klasse vorgesehen ist, sind nicht die adäquaten Antworten auf die Herausforderungen, sondern nur klägliche Reaktionen auf das Scheitern des frühen Fremdsprachenunterrichts, ohne dass dieser hinterfragt werden würde.

Auch wenn die Zielsetzung des Französischunterrichts «Freude und Neugier an der fremden Sprache» in den Vordergrund stellt, müssten dennoch die gigantischen Investitionen auch dringend die Verbesserung der Leistung erwirken.

«Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen das A falsch war» Bertold Brecht

Deshalb können wir uns den Beginn des Fremdsprachenunterrichts wieder ab der 5. Primarklasse vorstellen, also eine Rückkehr zum früheren Modell. Lieber kürzer, dafür besser!

«Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen das A falsch war» Bertold Brecht

Wir sollten uns also endlich für einen gelingenden Französischunterricht einsetzen. Dass fundierte Kenntnisse der deutschen Sprache die Grundlage für den Erwerb von Fremdsprachen bilden, muss offenbar explizit erwähnt werden, denn diese Tatsache scheint aus dem Blickfeld geraten zu sein.

Deshalb erwarten wir auch eine Prioritätensetzung der Bildungsziele, insbesondere was die sinkenden Leistungen beim Leseverständnis und Schreiben in Deutsch (PISA-Studie 2018) betrifft. Denn wer auf Deutsch nichts zu sagen hat, kann dies auch in keiner Fremdsprache tun.

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Schule der Zukunft? https://condorcet.ch/2022/10/schule-der-zukunft/ https://condorcet.ch/2022/10/schule-der-zukunft/#comments Mon, 31 Oct 2022 09:59:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=12176

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, GLP-Mitgled im baselstädtischen Bildungsrat und Primarlehrerin, warnt in ihrem Beitrag davor, mit überfrachteten Kompetenzerwartungen eine Ideologisierung von Unterricht zu betreiben.

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Condorcet-Autorin Christine Staehelin

Seit Jahren prägen Begriffe wie Kompetenz, Handlungskompetenz, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, digitales Lernen, kooperatives Lernen, selbstorganisiertes Lernen, Integration, Kooperation, Partizipation etc. den schulischen Diskurs.

In der Praxis irritieren diese Begriffe. Einerseits weil ihre Bedeutung im schulischen Alltag nicht wirklich geklärt ist – obwohl sehr wortreiche Ausführungen dazu durchaus vorhanden sind –, und andererseits aufgrund ihrer Einseitigkeit. Es lässt sich weder über diese Begrifflichkeiten diskutieren noch lassen sie Gegenentwürfe zu. Es sind positiv besetzte Ausdrücke, gegen welche man vermeintlich nichts einwenden kann. Wer will schon inkompetent sein, wer kann etwas gegen digitales Lernen haben, wer möchte schon jene sein, die nicht kooperiert?

Die Kompetenzen orientieren sich nicht am Lehren, sondern fokussieren einzig auf die Schülerinnen und Schüler, die in irgendeiner Form kompetent sein müssen.

Doch möglicherweise geht die Irritation über die Begrifflichkeiten hinaus und trifft das Berufsverständnis in seinem Kern, weil wir uns als Lehrerinnen und Lehrer darin nicht wiederfinden. Denn die Kompetenzen orientieren sich nicht am Lehren, sondern formulieren nur, was am Schluss beim Lernenden zu finden sein müsste, sie fokussieren also einzig auf die Schülerinnen und Schüler, die in irgendeiner Form kompetent sein müssen. Das digitale, kooperative und selbstorganisierte Lernen schliesst die Lehrpersonen ebenfalls aus, denn entweder lernen die Kinder und Jugendlichen mit einem Gerät, mit anderen oder selbstorganisiert, was auch immer damit gemeint sein mag. Und Integration, Kooperation und Partizipation sind Beschreibungen von einem widerspruchslosen Tun irgendeiner gleichförmigen Masse: Alle sind dabei, alle arbeiten zusammen und machen mit. Diese erforderte Bereitschaft, einfach mitzugehen, ist durchaus bedenklich, denn das bedeutet nichts anderes, als dass man einfach mitwirkt, ohne zu fragen, woran. Das spielt offenbar keine Rolle.

Wenn das Lehren und Lernen nicht mehr als personales Geschehen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern beschrieben wird; wenn es nichts mehr mit der Vermittlung von Wissen, das die Lehrpersonen in ihren Köpfen haben und mit Leidenschaft und Begeisterung weitergeben wollen, zu tun hat; und wenn jedes Nichtmitmachen in irgendeiner Form – das ja durchaus auch von gesundem Menschenverstand und Urteilsfähigkeit zeugen könnte – gar kein Thema mehr ist, dann stellt sich die Frage, was noch übrigbleibt.

Hannah Arendt beschreibt in ihrem Aufsatz über die Krise der Erziehung, dass «diese eine allgemeinere Krise und Brüchigkeit der modernen Gesellschaft» reflektiert. Wenn wir davon ausgehen, dass das, was in der Bildung und Erziehung passiert, etwas mit dem Zustand unserer Gesellschaft zu tun hat, dann müssen wir danach fragen, was denn dieser Zustand sei. Ein Unterfangen, dass sich durchaus schwierig gestaltet, da oft erst im Nachhinein erkannt werden kann, was die Gegenwart auszeichnet.

Die Welt ist nicht mehr etwas Gestaltbares, sondern nur noch etwas zu Bewältigendes.

Aktuelle Entwicklungen wie beispielsweise der Entwurf zum Rahmenlehrplan für die Maturitätsschulen können möglicherweise erhellen, wie der Zustand der Welt eingeschätzt wird. So spricht er von den «gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen, welche Schülerinnen und Schüler bewältigen müssen» und meint damit die «raschen gesellschaftlichen Veränderungen sowie die Problemfelder, welche die Umwelt, die Menschenrechte, die politische Mitwirkung und die Digitalisierung betreffen». Diese sind «so komplex und heikel, dass sie umfassende pädagogische und analytische Ansätze erfordern, die über die Grenzen der einzelnen Fächer hinausgehen».

Die Welt ist folglich nicht mehr etwas Gestaltbares, sondern nur noch etwas zu Bewältigendes. Und dazu brauchen die Erwachsenen von morgen Studierkompetenz, Regelkompetenz, Anwendungskompetenz, Endkompetenz, räumliche Kompetenz, Darstellungskompetenz, nichtkognitive Kompetenz, Querschnittskompetenz, persönlichkeitsbezogene Kompetenz, Sozialkompetenz, Problemlösungskompetenz, Sprachkompetenz, Argumentationskompetenz, kulturelle und interkulturelle Kompetenz, Methodenkompetenz, Auftrittskompetenz, rezeptive Kompetenz usw., wie ebendieser Entwurf aufzählt. Kurz: Sie müssen absolute Superhelden ausgestattet mit Superkräften sein, damit sie die Welt, die wir ihnen hinterlassen, retten können und nicht an ihr verzweifeln. Dass dies mit pädagogischen Ansätzen gelingen soll, die über den Fachunterricht hinausgehen, wie das im Rahmenlehrplan formuliert wird, verwechselt den pädagogischen Auftrag mit Indoktrination, indem bereits im Detail festgehalten ist, was genau gekonnt werden muss und dies nicht nur fachlich, sondern auch überfachlich; entworfen wird ein genau normierter Mensch. Dabei wird die immer noch geltende aufklärerische Aufgabe der Bildung übersehen, trotz Zwang die Freiheit zu kultivieren, wie Kant das formuliert hat. Niemand kann die zukünftige Generation als Trägerin unzähliger Kompetenzen verstehen, die sie selbstorganisiert erworben haben sollte, damit sie die Probleme, die wir ihnen überlassen, löst.

Die ältere Generation scheint überhaupt nicht mehr zu wissen, wohin die Reise gehen soll.

Die Erfindung noch so vieler Kompetenzen kann nichts daran ändern, dass wir damit der heranwachsenden Generation die volle Verantwortung für die Zukunft der Welt übertragen, obwohl sie diese nicht selbst gestaltet haben. Dies tangiert das Generationenverhältnis, in welches die Kinder mit ihrer Geburt als die Neuen, die in eine bestehende Welt eingeführt werden, treten, in essenzieller Weise. Denn die ältere Generation scheint überhaupt nicht mehr zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Sie scheint weder auf ihr Wissen noch auf ihre Erfahrungen zu vertrauen, sondern nur auf die nächste Generation. Und dies wiederum trifft das Erziehungs- und Bildungsverständnis in seinem Kern. Denn wenn die Erwachsenen sich hilflos zeigen gegenüber der Welt, wenn sie nicht mehr für diese einstehen und diese verantworten, was wollen sie dann der nächsten Generation zeigen?

Als Lehrerinnen und Lehrer, die mit dieser Veränderung des Erziehungs- und Bildungsverständnisses angesichts der hilflosen Reformen der letzten Jahrzehnte im Alltag konfrontiert sind, gerät unser Selbstverständnis zunehmend in eine Schieflage. Entgegen allen Trends vertreten wir verzweifelt optimistisch die Idee eines Lernens im Kollektiv; wollen wir Wissen vermitteln, obwohl wir manchmal daran scheitern; halten wir an einer Welt fest, die wir trotz all ihrer Unzulänglichkeiten und Katastrophen auch unendlich schön finden; glauben wir, dass Traditionen und Kultur eine bedeutsame Rolle spielen; wollen wir unmittelbare Zugänge zur Welt schaffen jenseits jener, die sich nur noch hinter Bildschirmen zeigt und vertrauen wir auf unsere Autorität als Vertreter einer älteren Generation, die die Welt aus Erfahrung bis zu einem gewissen Grad kennt und vertritt.

Aber vielleicht müssen wir uns aufgrund der ständigen Irritation durch die Unterstellungen, dass Kompetenzen in unendlichen Variationen hilfreicher sind als die Vermittlung von Wissen, dass Lernen auch ohne uns stattfinden kann und dass Kooperation und Partizipation – die aus unserer Sicht nur verdecken, dass eine pädagogische Beziehung immer asymmetrisch ist– die Zauberworte einer Auseinandersetzung der jüngeren mit der älteren Generation sind, anerkennen, dass unser Beruf, wie wir ihn verstehen, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit ist.

Dass wir folglich an einem antiquierten Verständnis von Bildung, Erziehung und Vermittlung festhalten, dass durch die ständigen Irritationen geschwächt wird und seinen Sinn verliert. Warum tun wir das? Vielleicht weil wir als Lehrerinnen und Lehrer die nächste Generation nicht sich selbst überlassen und weil wir uns nicht aus der Verantwortung nehmen wollen. Vielleicht wollen wir uns einfach nicht überreden lassen von Worthülsen, die so keine Bedeutung haben in einem Unterrichtsalltag, in welchem uns junge Menschen gegenüberstehen, die sich letztlich vor allem wünschen, dass wir unerschütterliche Gegenüber sind in einer konfusen Welt; dass wir ihnen das vermitteln, wovon wir überzeugt sind, dass es wichtig ist; dass wir ihnen dabei helfen und dass wir anerkennen, dass sie Neues einbringen in die alte Welt, für die wir einstehen.

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Reformen haben Bedingungen fürs Lehren und Lernen verschlechtert https://condorcet.ch/2022/10/reformen-haben-bedingungen-fuers-lehren-und-lernen-verschlechtert/ https://condorcet.ch/2022/10/reformen-haben-bedingungen-fuers-lehren-und-lernen-verschlechtert/#comments Sun, 23 Oct 2022 07:07:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=12063

Die Primarlehrerin und Erziehungsrätin für die Grünliberale Partei Christine Staehelin fordert von der Bildungspolitik keine Einigkeit, aber ein gemeinsames Umdenken. Eine Antwort auf die Analyse von BaZ-Autor Sebastian Briellmann.

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Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel und Erziehungsrätin für die Grünliberale Partei: Die Schule ist keine widerspruchsfreie Institution.

Sebastian Briellmann moniert zu Recht die hohen Personalausgaben pro Schüler und Schülerin an der obligatorischen Schule in Basel-Stadt – die höchsten in der Schweiz. Gleichzeitig weist er auf die Ergebnisse der letzten schweizweiten Vergleichstests hin, wo man auf dem letzten Platz landete. Die Effizienz des Basler Bildungssystems scheint im Vergleich also gering zu sein. (Lesen Sie hier die ganze Analyse zur Basler Schulmisere: Note «ungenügend» – Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik)

Warum dem so ist? Briellmann nennt ein bekanntes Problem: Bloss keinen Widerstand, bloss niemandem auf den Schlips treten. Diese Tatsache habe dazu geführt, dass gut klingende Reformen widerspruchslos umgesetzt worden seien und in der Realität zu einer Verlotterung der Schulen geführt hätten.

Nun kann man sich parteipolitisch gegenseitig die Schuld geben. Zu bedenken gilt es: Einzelne politische Stimmen äusserten sich bereits früher kritisch – was in einer Zeit, da Innovation als Zauberwort jede weitere politische Legitimation überflüssig machte, allerdings nicht goutiert wurde. Die meisten Parteien haben die Reformen befürwortet, ansonsten wären sie kaum zustande gekommen.

Viel interessanter ist die Frage, warum die pädagogisch fundierten Argumente gegen die Reformen, die vor deren Umsetzung vornehmlich aus dem Berufsfeld kamen, nicht ernst genommen wurden. Man war überzeugt, dass die Schüler mit Frühfranzösisch besser Französisch lernen, dass eine integrative Schule allen zugutekommt, dass die Kompetenzorientierung – was auch immer darunter verstanden wird – bessere Leistungen erzielt.

Die widersprüchliche Schule

Aber: Schülerinnen und Schüler lernen mit einem neuen Lehrmittel zu einem früheren Zeitpunkt nicht einfach besser Französisch, nicht alle können in einem integrativen Unterricht am besten lernen – und ein ausufernder kompetenzorientierter Lehrplan bietet nicht wirklich eine handlungsleitende Grundlage für gutes Unterrichten.

Die Reformen haben die Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen verschlechtert statt verbessert – für alle Beteiligten.

Man hat vergessen, dass es keine einseitigen Interventionen gibt, die ohne Nebenwirkungen alles zum Bessern wenden. Die Schule ist keine widerspruchsfreie Institution. Niemand will eine Schule, bei der jeder Input zu einem entsprechenden Output führen würde, denn dann wäre man von einer Gleichmacherei und Abrichtung der Schüler nicht mehr weit entfernt. Mit Bildung hätte das nichts mehr zu tun.

Es gilt beim täglichen Unterrichten, jeweils einen Mittelweg zu finden, und es besteht immer die Möglichkeit des Scheiterns.

.Jede Lehrerin, jeder Lehrer kennt die Widersprüche: Soll ich mich der Sache zuwenden oder der Person? Soll ich mich dem Einzelnen oder der Gruppe widmen? Steht die Organisation im Vordergrund oder die Interaktion? Es gilt beim täglichen Unterrichten, jeweils einen Mittelweg zu finden, und es besteht immer die Möglichkeit des Scheiterns. Lehrpersonen sind aber auf Rahmenbedingungen angewiesen, welche die tägliche Herausforderung nicht zu einer Überforderung werden lassen.

Die Reformen haben die Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen verschlechtert statt verbessert – für alle Beteiligten. Dies, weil man davon ausging, dass Verbesserungen im Bildungsbereich mit bestimmten Interventionen widerspruchsfrei möglich seien. Eine Negation der Tatsache, dass die Schule eine widersprüchliche Institution ist – und dass das gut ist so.

Es ist bedauernswert, dass diese Erkenntnis, so alt wie die Idee der Bildung selbst, nicht ernst genommen wurde. Aber es bedeutet, dass es keine Reform geben kann und soll, die davon ausgeht, dass ein ganz bestimmter Input einen ganz bestimmten Output generiert.

Nur wenn alle Perspektiven und Argumente auf den Tisch kommen, verhindert man, dass wieder jene Stimmung der Alternativlosigkeit der Nullerjahre aufkommt.

Ja, es wurden Fehler gemacht

Da die Schule für eine liberale Demokratie eine äusserst bedeutsame Institution ist, kann es nun nicht darum gehen, dass man vergangene Fehler politisch instrumentalisiert oder sich mit neuen Vorschlägen parteipolitisch profiliert: Nur wenn alle Perspektiven und Argumente auf den Tisch kommen, verhindert man, dass wieder jene Stimmung der Alternativlosigkeit der Nullerjahre aufkommt. Diese führte zu jener Widerspruchslosigkeit, die wir jetzt vielleicht bedauern.

Es geht aber auch nicht darum, sich anschliessend auf irgendwelche kompromissfähigen Programme für die Schule zu einigen, sondern nur darum, gemeinsam festzuhalten, welches denn die grundlegenden Rahmenbedingungen für die öffentlichen Schulen sein müssen, damit sie als Institution weiter bestehen können. Dass man sich dabei an pädagogischen Erkenntnissen und Theorien orientiert und das Berufsfeld einbezieht, was zuvor vernachlässigt wurde, ist bestimmt hilfreich.

Verhindert werden müssen nur widerspruchsfreie Lösungsvorschläge; diese führen, wie wir gesehen haben, in die Irre.

Und es braucht wohl Mut, einzugestehen, dass Fehler gemacht wurden – um bereit zu sein, wirklich nochmals genau hinzuschauen. Aber mutig sein ist eine Tugend und auch ein wünschenswerter Effekt von Bildung. Es braucht auch nicht überall Einigkeit. Verhindert werden müssen nur widerspruchsfreie Lösungsvorschläge; diese führen, wie wir gesehen haben, in die Irre.

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Plädoyer gegen das Könnenmüssen https://condorcet.ch/2021/08/plaedoyer-gegen-das-koennenmuessen/ https://condorcet.ch/2021/08/plaedoyer-gegen-das-koennenmuessen/#comments Thu, 26 Aug 2021 01:39:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=9206

Primar- und Sekundarschüler üben sich seit der Einführung des Lehrplans 21 im Könnenmüssen. Derzeit werden die KV-Ausbildung und nun auch das Gymnasium durch das Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM) auf Kompetenzen ausgerichtet. Damit erhält die Umstellung unseres humanistischen Bildungsideals auf ein utilitaristisch-ökonomisch orientiertes Modell seinen Abschluss. Ein geeigneter Anlass für Condorcet-Autorin Christine Staehelin, sich zu Sinn und Unsinn des neuen Ideals des Könnenmüssens Gedanken zu machen.

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Christine Stähelin: Primarlehrerin in der Stadt Basel, GLP, Mitglied des Bildungsrates.

Das Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM) will die Qualität der gymnasialen Maturität und den damit erworbenen prüfungsfreien Zugang zur Universität langfristig sicherstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird u.a. der Rahmenlehrplan der EDK von 1994 aktualisiert.

Unter matu23.ch kann der Entwurf des Rahmenlehrplans, bestehend aus den Fachlehrplänen sowie einem zweiten Teil, betreffend die «Transversalen Bereiche», eingesehen werden. Beide Teile zusammen umfassen knapp 500 Seiten. Gemäss dem ebenfalls dort einsehbaren Vademecum sollen insbesondere Freiräume entstehen durch «die Begrenzung der Anzahl Lernziele, damit die Lehrperson zusätzlich eigene Akzente setzen kann», was angesichts des immens angewachsenen Umfangs doch erstaunt. Zum Vergleich: Der aktuelle Lehrplan für die Gymnasien Basel-Stadt von 2018 umfasst 108 Seiten.
Jeder einzelne Fachlehrplan führt die entsprechenden allgemeinen Bildungsziele, den Beitrag des Fachs zu den überfachlichen Kompetenzen sowie die Lerngebiete und die fachlichen Kompetenzen auf. Dabei handelt es sich um «präzise Lernziele, die den Fachinhalten zugeordnet sind und die das zu erreichende Wissen und Können festhalten», wie im Vademecum ausgeführt wird.

Fachliche Kompetenzen sind unter die überfachlichen Kompetenzen gesetzt.

Die überfachlichen Kompetenzen werden unterteilt in kognitive überfachliche Kompetenzen und nicht-kognitive überfachliche Kompetenzen; ergänzt werden sie mit ihrem jeweiligen Beitrag zu den basalen fachlichen Kompetenzen für die Allgemeine Studierfähigkeit in der Erstsprache bzw. in Mathematik, wobei sich fragen lässt, warum hier die fachlichen Kompetenzen unter die überfachlichen gesetzt werden. Letzteres liest sich dann wie eine – teilweise schon fast verzweifelte und eigentlich überflüssige – Rechtfertigung der Berechtigung jedes einzelnen Fachs als Teil des Fächerkanons an Maturitätsschulen.

Neugierde als Bildungsziel?

Die Unterscheidung in kognitive überfachliche und nicht-kognitive überfachliche Kompetenzen führt aber auch zu interessanten Aussagen: Als nicht-kognitiv werden beispielsweise das intuitive Denken aufgeführt und die intellektuelle Neugierde. Darüber hinaus lassen sich viele weitere interessante Beispiele finden, die einer vertieften Diskussion über Kognition, Denken, Lernen, Persönlichkeit, Kommunikation usw. durchaus würdig wären.

Alle Kompetenzen werden mit dem Verb «können» eingeleitet, das Verb «wissen» wird im Rahmenlehrplan nicht erwähnt.

Alle Kompetenzen werden mit dem Verb «können» eingeleitet, das Verb «wissen» wird im Rahmenlehrplan nicht erwähnt. Nun könnte man ja denken, dass der Ersatz von «wissen» durch «können» zu vernachlässigen wäre. Ausserdem erklären die Freunde der «Können»-Formulierung natürlich, dass Kompetenzen eine Verbindung von Wissen und Können meine bzw. dass Können Wissen voraussetze. Doch wenn das Wissen nur noch unter dem Aspekt seiner Anwendbarkeit betrachtet wird und wenn die Anwendung stets zu einem Können führen muss, was als solches  bewertet wird, dann ist das m.E. problematisch. Denn wenn wir von Bildung reden, geht es ja nicht nur um die Anwendung bzw. Verwertung von Wissen, sondern auch um den Bestand des Wissens als solches, wie er von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es handelt sich hier ja erst um einen Rahmenlehrplan. Möglicherweise ist vorgesehen, dass die kantonalen Lehrpläne das Wissen inhaltlich weiter fassen, was allerdings  nicht zu einer Verschlankung des Monumentalwerks führt, und so fragt man sich umso mehr, wo nun die angekündigten Freiräume bleiben.

Es geht mir hier darum, Vermutungen darüber anzustellen, was einerseits beabsichtigt wird und was andererseits effektiv passiert, wenn Rahmenlehrpläne sich auf die Beschreibung mehr oder weniger ausführlicher Könnenformulierungen reduzieren, wie das ja auch beim Lehrplan 21 geschehen ist und aktuell im Rahmen der Reform Kaufleute 2022 (bald wohl 2023 oder so nie) stattfindet.

Beabsichtigt ist offensichtlich die Verbesserung des status quo, denn das Projekt «soll dazu beitragen, dass die gymnasiale Ausbildung auch künftige Anforderungen erfüllt», wie auf der Website zu lesen ist – es wäre ansonsten ja wohl obsolet.

Es bleibt der Glaube an zukünftige Generationen, die jene Welt – für die die jetzige Erwachsenengeneration die Verantwortung nicht mehr übernimmt – zu einer besseren und kontrollierbareren machen werden.

Mit der Könnenformulierung verschiebt sich der Fokus vom Lehren auf das Lernen.

Nun, die Zukunft bleibt wie immer offen, doch das menschliche Dasein scheint sich gegenwärtig in erster Linie als eine Bewältigungsform zu zeigen, die verzweifelt und hyperaktiv um eine Lösung zukünftiger Probleme bemüht ist, was angesichts des Klimawandels, der Pandemien, der Angst vor Inflation und Verarmung, des Artenrückgangs usw. ja erklärbar ist. Allem zugrunde liegt die Angst vor dem Kontrollverlust angesichts von menschlichem Handeln, das Prozesse in Gang gesetzt hat, die nun quasi automatisch verlaufen, ohne dass sie gebremst werden können. Es bleibt der Glaube an zukünftige Generationen, die jene Welt – für die die jetzige Erwachsenengeneration die Verantwortung nicht mehr übernimmt – zu einer besseren und kontrollierbareren machen werden. Dafür müssen erstere (aus)gebildet werden und das braucht sehr viel Können, nimmt man an, womit vielleicht die unzähligen Könnenformulierungen als folgerichtig erscheinen. Was aber gekonnt werden muss, ist heute noch nicht klar. Also wird eine Bildung, die auf möglichst umfassende und komplexe Kompetenzformulierungen setzt, zum Mittel der Wahl für diesen Zweck, und zwar obwohl heute damit nicht einmal mehr eine attraktive Zukunft versprochen wird, sondern wohl eher ein letzter Ausweg. Inwiefern damit die junge Generation selbst zum Mittel wird, bleibt hier offen.

Also werden die Kompetenzen inhaltlich und zahlenmässig möglichst ausschweifend formuliert, auch um dem Vorwurf zu entgehen, man habe Wesentliches vergessen.

Hanna Arendt: Man schlägt den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand.

Wer so viele Wörter braucht, um sogenannte Kompetenzen zu beschreiben, übernimmt die Verantwortung nicht, sich auf das inhaltlich Wesentliche zu beschränken bzw. zu beurteilen, was wesentlich ist. Das mag daher kommen, dass aus einer berechtigten Einsicht heraus nicht so getan werden soll, als ob man schon wüsste, was zukünftig wesentlich sein wird. Also werden die Kompetenzen inhaltlich und zahlenmässig möglichst ausschweifend formuliert, auch um dem Vorwurf zu entgehen, man habe Wesentliches vergessen. Doch «jede Generation kann nur das weitergeben, was sie weiss und was sie schätzt»[1]. Wissen wir nicht mehr, was wir schätzen, angesichts der Tatsache, wohin das Wissen und unser Tun uns bis heute geführt haben? Wollen wir nicht mehr einstehen für die Welt, wie wir sie geschaffen haben? Rührt daher die Scheu vor dem konservativen Moment von Bildung und Erziehung? Die Komplexität der Inhalte und die gleichzeitig überdeterminierte Festschreibung von Können in unterschiedlichsten Variationen will wohl für eine ungewisse Zukunft vorbereiten. Doch «indem man sie auf etwas Neues vorbereitet, schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand».[2]

Durch die Festschreibung aller erdenklicher sogenannter Kompetenzen (darunter fallen auch «staunen können», «Prüfungsstress antizipieren», «Anstrengung akzeptieren» usw.) wird das ganze Schülerleben reduziert auf Anpassung, Konformität und Ausführung.

Staunen als Bildungsziel?

Durch die Festschreibung aller erdenklicher sogenannter Kompetenzen (darunter fallen auch «staunen können», «Prüfungsstress antizipieren», «Anstrengung akzeptieren» usw.) wird das ganze Schülerleben reduziert auf Anpassung, Konformität und Ausführung; weder Hadern noch Scheitern, weder Zögern noch Widersprechen, weder Ausschweifen noch Hoffen und Träumen haben ihren Platz. Der Könnensanspruch ist erdrückend und hat nichts mehr zu tun mit dem Humboldtschen Bildungsideal von «der Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung»[3].

Es wäre vermessen zu glauben, dass zwischen der Instruktion und dem Können immer ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang besteht.

Mit der Könnenformulierung verschiebt sich der Fokus vom Lehren auf das Lernen. Das setzt auch Lehrerinnen und Lehrer unter Druck, nicht nur ausgehend von der schieren Anzahl der erwarteten Kompetenzen, sondern auch weil sich der Fokus von der Begeisterung für die Sache, für das Wissen, für die Kultur – also für das Bestehende – und der ihnen zugeschriebenen Wichtigkeit sowie für deren personale Vermittlung verschiebt auf die Könnenserwartung gegenüber den Schülerinnen und Schülern.

Es gehört zu den Lehrertugenden, davon überzeugt zu sein, dass das Wichtige vermittelbar ist.

Natürlich ist es Lehrerinnen und Lehrern wichtig, dass ihre Lernenden etwas verstehen und können, aber es wäre vermessen zu glauben, dass zwischen der Instruktion und dem Können immer ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang besteht. Es gehört zu den Lehrertugenden, davon überzeugt zu sein, dass das Wichtige vermittelbar ist, auch wenn es manchmal nicht den Anschein macht angesichts möglicherweise verständnisloser Blicke seitens der Schülerinnen und Schüler. Dann werden neue Erklärungsversuche gewagt, es werden andere Zugänge gesucht, oder man beginnt nochmals von vorn. Aber eine unüberschaubare Liste von Kompetenzbeschreibungen führt auch beim enthusiastischsten Pädagogen angesichts der Fülle zum Scheitern am Anspruch und verleitet zu einem Abarbeiten von Vorgegebenem.

Somit verschwindet das Freiheitsmoment aus dem pädagogischen Prozess – und zwar für beide Seiten, für die Lehrenden und für die Lernenden, während die Anpassung gewinnt.

Einerseits komplex, gleichzeitig zu konkret, normativ geprägt und trotzdem nicht messbar.

Erziehung zur Anpassung?

Natürlich geschieht das auf beiden Seiten nicht widerstandslos. Während Schülerinnen und Schüler auf den Anpassungsdruck vielleicht mit Absentismus, Gleichmut, psychosomatischen Beschwerden, Verweigerung, Gehorsam oder Widerstand reagieren, sind Lehrerinnen und Lehrer möglicherweise in erster Linie irritiert. Einerseits weil die Kompetenzbeschreibungen auf der Ebene des Wissens bzw. der zu vermittelnden Bildungsinhalte zu umfassend, zu komplex und gleichzeitig zu konkret sind, andererseits weil sie überprüfbare Könnensanforderungen in den verschiedensten Bereichen einfordern, die teilweise stark normativ geprägt und gleichzeitig nicht messbar sind («kommunikativ sicher auftreten», «den Menschen als Teil der Natur einstufen», «neben dem kognitiven auch das intuitive Denken wertschätzen und entwickeln» usw.). Ausserdem versinkt das pädagogische Dreieck, das das Verhältnis von Lehrperson, Sache und Lernenden jeweils zueinander beschreibt, im Chaos. Lehren heisst, sich mit der Sache befassen und diese als bedeutsam einschätzen, sich überlegen, wie diese am besten vermittelt wird, die Vermittlung zu einer personalen Angelegenheit machen und das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit bei den Schülerinnen und Schülern zu stärken. Angewiesen sind die Lehrerinnen und Lehrer dabei auf einen in Bezug auf das zu vermittelnde Wissen inhaltlich geklärten Lehrplan. Wie sie die Sache vermitteln, diesem Leben einhauchen, Begeisterung dafür wecken, das ist ihr pädagogischer Auftrag. Dass sie dabei das Können, das Tun, das Verstehen, das Erkennen und gleichzeitig die Freude am Lernen im Auge behalten, ist selbstverständlich. Wenn die Formen des Könnens bei den Kompetenzen im Rahmenlehrplan gleich mitbeschrieben werden, dann bedeutet das nichts anderes als eine Entmündigung der Lehrerinnen und Lehrer.

Lehren heisst, sich mit der Sache befassen und diese als bedeutsam einschätzen, sich überlegen, wie diese am besten vermittelt wird, die Vermittlung zu einer personalen Angelegenheit machen und das Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit bei den Schülerinnen und Schülern zu stärken.

Der Entwurf zur Maturreform tangiert das Selbstverständnis von Bildung im weitesten Sinne.

Nun, die Entwürfe für den Rahmenlehrplan stehen. Argumentativ ist den Ausführungen nicht zu begegnen, denn diese tangieren – wie auch der Lehrplan 21 – das Selbstverständnis von Bildung im weitesten Sinne; es ist fraglich, wo das Thema beginnt und wo es aufhört. Es liegt an den Lehrerinnen und Lehrern der Gymnasien zu entscheiden, ob dieses Instrument ihnen ermöglicht, ihren Beruf sinnvoll, freudig und gewinnbringend auszuüben oder ob die Zerkleinerung von wesentlichen Kultur- und Wissensbeständen in Könnens-Splitter sie davon abhält. Würde Letzteres zutreffen, wäre der Rahmenlehrplan in dieser Form abzulehnen – ohne Diskussion.

 

[1] Reichenbach, R. (2014). Progressiv sein heisst heute Dinge konservieren. Die Wochenzeitung 08/2014.  https://www.woz.ch/-4bab

[2] Arendt, H. (2000). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im Politischen Denken (hrgs. von U. Ludz). München: Piper (S. 258)

[3] Von Humboldt, W. (1903). Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Auszug. In A. Leitzmann (Hrsg.) Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Bd.1. Berlin: B. Behrs’s Verlag. S. 106

 

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Von gescheiterten Reformen und warum die Lehrkräfte verstummen https://condorcet.ch/2020/12/von-gescheiterten-reformen-und-warum-die-lehrkraefte-verstummen/ https://condorcet.ch/2020/12/von-gescheiterten-reformen-und-warum-die-lehrkraefte-verstummen/#comments Wed, 09 Dec 2020 05:07:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=7153

Condorcet-Autorin Christine Staehelin antwortet auf Herrn Köhlis Aufruf, nicht mehr weiter zu analysieren, sondern zum Angriff überzugehen. Sie zeichnet ein bedrückendes Bild bildungsbürokratischer Übergriffe und gibt den Ball zurück.

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Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel: Unerschütterlicher Glaube, dass es dennoch möglich ist.

In seinem Blogbeitrag schreibt Hans-Peter Köhli: «Die Urheber von Lehrplan 21, Frühfremdsprachenkonzept, Totalintegration usw. lesen den Blog vielleicht auch, schmunzeln jedoch dabei und freuen sich, dass ihren Neuerungen allen Anfeindungen zum Trotz nichts passiert. Wann endlich wird einmal zum Angriff übergegangen?»

Wogegen soll der Angriff gerichtet sein?

Die Frage von Hanspeter Köhli ist durchaus verständlich. Warum geschieht dies nicht? Warum folgen auf Reformen, die sich nicht bewähren, neue Reformen, um die Reformen zu reformieren? Weil, so schreibt Niklas Luhmann, «das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist»[1], wobei das auch dadurch zu begründen sei, dass rasch vergessen werde, «dass das, was man vorhat, schon einmal (oder mehrmals) versucht worden und gescheitert ist»[2].

Reichenbach vermutet einen Grund der Zunahme bei gleichzeitiger Erfolglosigkeit von Reformen darin, dass es »zu spät zum Aufhören« sei, denn «je länger man einen schlechten Film anschaut, desto wahrscheinlicher wird es, dass man ihn bis zum Ende sieht«[3]. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von der «Concordefalle», die dieses Vorgehen symbolisiert.

Prof. Roland Reichenbach: Zu spät zum Aufhören.

Man könnte also einerseits davon ausgehen, dass die Reformen gemäss einer ihnen eigentümlichen Dynamik der Selbstreproduktion und des ständigen Vergessens einem ständigen Werden und Vergehen unterworfen sind, welches nicht unterbrochen werden kann, weil es als Kreislauf funktioniert.

Doch scheint andererseits die Gelassenheit oder die Einsicht zu fehlen, dies als ausreichende Begründung zu akzeptieren, da somit ja ein Zweck ausserhalb der Dynamik selbst nicht vorhanden wäre. Es müsste zweckloses Handeln unterstellt werden im Sinne von Hauptsache, es wird etwas getan. Dafür sind die Reformen jedoch zu kostspielig, nicht nur aus finanzieller Sicht.

«Das Neue als Reiz kommt ohne Fortschritt aus».Roland Reichenbach

Vielleicht ist es so, wie Reichenbach[4] schreibt: «Das Neue als Reiz kommt ohne Fortschritt aus». Dieser Reiz wäre dann also gleichzeitig Mittel und Zweck von Reformen im Bildungsbereich. Somit müsste die Sinnfrage auch nicht mehr gestellt werden und das Verstehen erschöpfte sich in dieser Aussage, was letztlich jedoch auch keine befriedigende Antwort sein kann.

Warum können pädagogische Einwände die Reformen nicht aufhalten? – Antwort: Es geht gar nicht um Pädagogik oder Bildung.

Schon wieder eine Analyse, wird Hans-Peter Köhli nun einwenden – zu Recht. Und dann noch eine unbefriedigende, wenn allein Zirkelschlüsse, Demenz sowie Erkenntnisse aus der Aviatik und dem Behaviorismus die Bildungsreformen begründen sollen. Vielleicht ist die Analyse dennoch angemessen. Sie könnte nämlich erklären, warum pädagogische Einwände die Reformen nicht aufhalten können – es geht gar nicht um Pädagogik oder Bildung. Worauf also soll folglich ein Angriff überhaupt abzielen?

Das Verschwinden des professionellen Lehrerhandelns

Neben den oben erwähnten Begründungen für die hohe Kaskade von scheiternden Reformen gibt es möglicherweise eine Unzahl weiterer. Als Hypothese möchte ich hier eine hervorheben: Das Verschwinden des Lehrberufs als Profession, wie sie Luhmann beschreibt[5], und damit jener Autorität, die in diesem Berufsfeld in erster Linie überhaupt etwas zu sagen hätte.

Entscheidend für Professionen ist, dass das bestmögliche Wissen «nicht direkt, logisch, problemlos angewandt werden kann, sondern jede Anwendung mit dem Risiko des Scheiterns belastet ist. Das gilt für die Prototypen der Diskussion, für Ärzte und Juristen, aber, wie leicht zu sehen, auch für Pädagogen. Im Zentrum für Professionen steht mithin die Distanz zwischen Idee und Praxis, die durch Wissen allein nicht überbrückt werden kann»[6].

Die Lehrkraft braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut

Jede Lehrerin, jeder Lehrer ist sich dessen bewusst. Alle wissen, dass auch mit hohem Engagement und bester Absicht sich Lernerfolg nicht immer einstellt, dass auch Wissen, Erfahrung und Routinen nicht vor dem Scheitern schützen. Es braucht «Gelassenheit, mit der der Lehrer Erfolg und Misserfolg erträgt. Der Lehrer braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut»[7].

Die Distanz zwischen Idee und Praxis ist ein Wesensmerkmal von Erziehung und Bildung.

Die Distanz zwischen Idee und Praxis ist ein Wesensmerkmal von Erziehung und Bildung. Überbrückt wird dieser Gap durch die Person der Lehrenden. Denn sobald «die Interaktion Unterricht beginnt, sind Lehrer wie Schüler deren Dynamik ausgeliefert […]. Die Organisation zieht sich gleichsam zurück und überlässt der Interaktion die Führung»[8]. Weiter schreibt Luhmann: «Die Berufspraxis soll weitgehend autonom durchgeführt werden unter Absehen von kleinlichen Festlegungen des Verhaltens»[9].

Eigentümliche Dynamik der Selbstreproduktion

Warum sind diese Ausführungen in diesem Zusammenhang bedeutsam? Weil Reformen sich immer auf Fragen der Organisation beziehen. Doch es wird ihnen «kaum gelingen, die Unterrichtsinteraktionen zu perturbieren»[10]. Der unerschütterliche Glaube von Entscheidungsträgern ­– die in der Bildungsverwaltung, nicht (mehr) im Klassenzimmer arbeiten –, dass es dennoch möglich sei, über Neubeschreibungen der Organisation das Unterrichtsgeschehen bzw. den Lernerfolg zu beeinflussen, führt zu immer weitergehenden Reformen. Damit sollen deren Erfolglosigkeit und unerwünschten (Neben-)wirkungen kaschiert werden. In erster Linie aber bedrängen die ständigen Reformen die professionellen Handlungsmöglichkeiten von Lehrerinnen und Lehrern und damit das eigentliche Unterrichtsgeschehen durch den zunehmenden Bürokratismus bei gleichzeitig abnehmender Interaktionsfreiheit von Lehrerinnen und Lehrern immer ernsthafter, bedrohen gar deren Handlungsspielraum und damit ihren Status als Profession. Die weiteren Ausführungen zeigen auf, was geschieht, wenn die Organisation versucht, das Unterrichtsgeschehen direkt zu beeinflussen, sei es durch entsprechende Lehrpläne bzw. Lehrmittel, sei es durch ideologisch geprägte Ausbildungsgänge u.a.

Bürokratismus als Folge von Kontrollverlust

Weder führt ein neuer Lehrplan dazu, dass die Schülerinnen und Schüler mehr lernen, noch verbessert ein Lehrmittel bzw. ein früher einsetzender Unterricht die Französischkenntnisse, noch bewirkt  die Integration, dass alle integriert sind, noch ergibt selbstorganisiertes Lernen mehr Lernfreude und -erfolg, noch schafft die Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen eine neue Generationen von begeisterten Lehrerinnen und Lehrer, noch wird die so genannte Digitalisierung die jungen Menschen auf die wichtigen Herausforderungen der Zukunft vorbereiten.

Passepartout, ein gigantisches Scheitern

Im Gegenteil: Der Lehrplan ist voll von fragwürdigen so genannten Kompetenzen («können erste Erfahrungen mit den drei Hauptwortarten Nomen, Verb und Adjektiv sammeln», «können zeigen, wie sie zählen»), die mehr verwirren als klären; der erfolglose frühe Französischunterricht mit dem umstrittenen Lehrmittel «mille feuilles» ist zum Politikum geworden;  die Integration hat dazu geführt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler einen Förderbedarf ausweisen und ein geregelter und effizienter Unterricht manchmal gar nicht mehr möglich ist;  das selbstorganisierte Lernen verkennt einerseits, dass man immer selber lernt, und stiehlt andererseits dem Unterricht, der immer eine personale Angelegenheit ist, die Seele; die Neuausrichtung der Ausbildung der Lehrpersonen führt dazu, dass fünf Jahre nach dem Berufseinstieg mehr als die Hälfte der Ausgebildeten nicht mehr unterrichtet und die Digitalisierung des Unterrichtsgeschehens löst das Generationenverhältnis auf, untergräbt die Autoriät der Lehrpersonen und verzichtet auf deren Leidenschaft für die Welt und für das Lehren, setzt Medium und Inhalt gleich und spiegelt die Tatsache vor, dass heute schon klar wäre, was morgen von Bedeutung sei und dass das irgendetwas mit Bildschirm und Tasten zu tun haben müsse.

Da das Scheitern der Reformen im Bildungsbereich immer offensichtlicher und vielfältiger wird und die gesellschaftliche Anerkennung der öffentlichen Schule ins Wanken gerät, nimmt der Bürokratismus zu und raubt der Schule den Atem, möglicherweise in bester Absicht.

Bürokratismus raubt der Schule den Atem

Und was tun die Bildungsverwaltungen angesichts dieser unkontrollierten (Neben-)Wirkungen von Reformen? Sie treffen ständig neue Entscheidungen  und reagieren damit auf die uneingestandene Unmöglichkeit, mittels ständiger Neubeschreibungen der Organisationen «die Operationen, auf die es letztlich ankommt, nämlich Unterricht und Forschung, zu kontrollieren, geschweige denn verbessern zu können»[11]. Da das Scheitern der Reformen im Bildungsbereich immer offensichtlicher und vielfältiger wird und die gesellschaftliche Anerkennung der öffentlichen Schule ins Wanken gerät, nimmt der Bürokratismus zu und raubt der Schule den Atem, möglicherweise in bester Absicht.

Wann endlich wird einmal zum Angriff übergegangen?

Viele Lehrerinnen und Lehrer verstummen.

Die Ausführungen sollen aufzeigen, dass es nicht so einfach ist, zum Angriff überzugehen. Neben vielen weiteren möglichen Ansätzen stehen m.E. drei Probleme im Vordergrund: Erstens scheinen Reformen grundsätzlich weitere Reformen zu bewirken, zweitens möchten die Reformen über Neubeschreibungen von Organisationsformen die Interaktionen im Unterrichtsgeschehen beeinflussen, was a priori nicht möglich ist. Und drittens sind viele Lehrerinnen und Lehrer verstummt, weil sie das Scheitern von Unterrichtsinteraktion, das heute zu einem grossen Teil auf völlig unangemessenes und in das tägliche Unterrichtshandeln hineinspielende Organisationshandeln zurückzuführen ist, als persönliches Versagen sehen.

Die Deprofessionalisierung des Lehrberufs geht linear einher mit den Reformen der letzten Jahrzehnte. Alle wissen es besser als die Lehrerinnen und Lehrer.

Die Schule hat grundsätzlich drei gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen: Sie muss qualifizieren, selektionieren und integrieren.
Die Organisation muss jene Voraussetzungen schaffen, damit diese Aufgaben einerseits strukturell und inhaltlich gestaltet und andererseits im Rahmen von Interaktionen im Unterricht überhaupt stattfinden kann. Der Beruf der Lehrerin bzw. des Lehrers muss als Profession im Luhmannschen Sinn anerkannt sein. Dazu gehört in allererster Linie eine hochstehende und dem Beruf angemessene Ausbildung, eine weitgehend autonome Berufspraxis und ausserdem muss der Lehrberuf «hinreichende Vorteile an Reputation und an Einkünften bieten, um für gute Kandidaten attraktiv zu sein»[12].

Also haben die Lehrerinnen und Lehrer zugelassen, dass die Verwaltung ihren Beruf zunehmend kontrolliert und bürokratisiert hat und dass über die Organisation versucht wird, Bereiche des Unterrichts zu beschreiben und in die Interaktion hineinzuwirken.

Wer soll den Angriff starten?

Die Deprofessionalisierung des Lehrberufs geht linear einher mit den Reformen der letzten Jahrzehnte. Alle wissen es besser als die Lehrerinnen und Lehrer. Wenn letztere die Reformen inhaltlich und mit pädagogischen Argumenten kritisiert haben, wurden sie zu Ewiggestrigen gestempelt. Doch wer will schon als altmodisch gelten? Wer kann schon gegen Integration und Digitalisierung sein? Also haben die Lehrerinnen und Lehrer zugelassen, dass die Verwaltung ihren Beruf zunehmend kontrolliert und bürokratisiert hat und dass über die Organisation versucht wird, Bereiche des Unterrichts zu beschreiben und in die Interaktion hineinzuwirken. Diese Reformen waren insofern erfolgreich, als dass der Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehrern zunehmend geprägt ist von Organisation und Bürokratismus; aber auch von Ohnmachtsgefühlen, weil mit Lehrmitteln gearbeitet werden muss, die ineffektiv sind, weil sich die Klassenzusammensetzung aufgrund der vielen separativen Förderangeboten innerhalb eines Morgens mehrmals ändert usw. Und letztlich vor allem auch, weil ihnen nicht zugehört wird. Lehrerinnen und Lehrer werden keinen Angriff starten, denn wenn einem Beruf der Status der Profession nicht zugeschrieben wird, hat man nichts zu sagen.

Sie, lieber Herr Köhli

Lieber Herr Köhli, nehmen Sie Einfluss über die Politik, legen Sie den Irrtum offen zu glauben, man könne über die Organisation in die Interaktion des Unterrichts hineinwirken. Damit raubt man dem Lehrberuf das Wesentliche, nämlich jene Autonomie im Handeln, die es einem erlaubt, mit Begeisterung und Leidenschaft Wissen weiterzugeben, neue Perspektiven zu eröffnen und dies tagtäglich und über Jahre und Jahrzehnte tun zu wollen, obwohl man manchmal scheitert, weil einem die nächste Generation am Herzen liegt.

Und weil man für den Lehrberuf die Besten auswählen sollte, braucht es Aufnahmeprüfungen mit berufsspezifischen strengen Aufnahmekriterien.

Wir brauchen die besten im Lehrberuf

Und setzen Sie sich politisch dafür ein, dass die Pädagogischen Hochschulen eine hervorragende Berufsausbildung anbieten, welcher je nach Ausbildungsziel ein universitäres Fachstudium vorausgeht. Den Lehrberuf studiert man nicht. Sonst kann man am Ende der Ausbildung zwar eine wissenschaftliche Arbeit schreiben, aber unterrichten, das kann man nicht. Und weil man für den Lehrberuf die Besten auswählen sollte, braucht es Aufnahmeprüfungen mit berufsspezifischen strengen Aufnahmekriterien.

Wenn Sie es schaffen, dass sich die Organisationsbeschreibungen von Bildungsverwaltungen auf jene Bereiche beschränken, die überhaupt etwas mit Organisation zu tun haben, und wenn es Ihnen gelingt, die Ausbildungen an den Pädagogischen Hochschulen auf ein Höchstniveau zu bringen und berufsspezifisch auszurichten bei einer gleichzeitigen Beschränkung der Aufnahmen, ich glaube, dann haben Sie viel erreicht.

Und nicht zuletzt ist es von enormer Bedeutung, dass jene die Organisationsbeschreibungen vornehmen, die dem Berufsstand der Lehrerinnen und Lehrer angehören: Sie wissen, welche Lehrmittel wirksam sind, wo die Grenzen der so genannt integrativen Schule liegen, wie ein Lehrplan, der diesen Namen verdient, aussehen soll und ganz grundsätzlich, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit erfolgreicher Unterricht stattfinden kann.

Es ist höchste Zeit für den Angriff, Herr Köhli. Und er muss auf dem politischen Weg geschehen. Nicht weil ich der Meinung wäre, das wäre der richtige Weg. Aber es ist der einzige, weil man den Lehrerinnen und Lehrern seit Langem nicht mehr zuhört.

Christine Staehelin, Basel

 

[1] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (166).

[2] ebd., 167

[3] Reichenbach, R. (2008). In der »Concorde-Falle«: Erfolgreiches Scheitern von Bildungsreformen (eine »Replik« auf Walter Herzogs Kritik an der Reform). In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 30 (2008) 1, S. 53-63.

[4] Reichenbach, R. (2020). Bildungsferne. Zürich. Diaphanes (141).

[5] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (147ff.).

[6] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (148).

[7]  ebd. 152

[8] ebd. 160f.

[9] ebd. 150

[10] ebd. 166

[11] ebd. 163

[12] ebd. 150

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Die Grenzen der Integration https://condorcet.ch/2020/08/die-grenzen-der-integration/ https://condorcet.ch/2020/08/die-grenzen-der-integration/#comments Sat, 29 Aug 2020 09:56:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=6208

In der Reihe Bildungspolitik in Zeiten der Wahlen publizieren wir hier den Beitrag unserer Condorcet-Autorin Christine Staehelin. Sie ist Primarlehrerin im St. Johann-Quartier und kandidiert in Basel-Stadt für die Grünliberale Partei.

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Die integrative Schule scheint an ihre Grenzen zu gelangen. So steht zum Beispiel in der «bz – Zeitung für die Region Basel» vom 24. Februar 2020 im Hinblick auf die Situation in der Volksschule Basel-Stadt: «Mittlerweile fällt eines von zwanzig Kindern unter die sogenannte Separationsquote. Erziehungsdirektor Conradin Cramer sagte vergangene Woche im Basler Parlament, dass er davon ausgehe, dass die Zahl weiter steigen werde – auch weil man die integrative Schule entlasten wolle».

Anscheinend überlastet

Das System scheint überlastet.

Das System scheint «überlastet» zu sein, Tendenz offenbar steigend. Das heisst nichts anderes, als dass die Volksschule an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit stösst bzw. ihren Qualifikations- und Selektionsauftrag nicht mehr vollumfänglich gewährleisten kann. Oder anders gesagt: Kinder scheitern zunehmend in der Schule.

Massnahmen gegen das Scheitern

Dieser Tatsache begegnet die Volksschule, indem sie verschiedene Massnahmen trifft:

Die Schulen stellen ein Förderangebot bereit, das Schulische Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Deutsch als Zweitsprache, Begabungsförderung, Therapie bei Lese-Rechtschreibstörung und Dyskalkulie u.a. umfasst.

10 Prozent der Schülerinnern und Schüler im Kanton Basel-Stadt erhalten einen Nachteilsausgleich.

Kindern mit einer Behinderung werden so genannte ‘Verstärkte Massnahmen’ zugesprochen. Sie werden individuell vermehrt unterstützt, was wiederum Ressourcen generiert.

Wenn solche Massnahmen zunehmen, bedeutet das: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen einen Förderbedarf aus und sind auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen.

Die Schule stellt Zivildienstleistende, Praktikantinnen und Praktikanten oder Assistierende an, um den Schulbetrieb zu unterstützen.

Immer mehr SchülerInnen weisen einen Förderbedarf aus. Bild: stock.adobe.com

10 Prozent der Schülerinnern und Schüler im Kanton Basel-Stadt erhalten einen Nachteilsausgleich, d.h. diese absolvieren Prüfungen unter besonderen Bedingungen, weil sie eine Beeinträchtigung haben, die es ihnen verunmöglicht, ihr Wissen und Können unter den vorbegebenen Bedingungen vollumfänglich unter Beweis zu stellen.

Für Schülerinnen und Schüler, welche die Ziele des Lehrplans in einem bestimmten Ausmass und über längere Zeit nicht erreichen, können individuelle Lernziele festgelegt werden.

Wenn solche Massnahmen zunehmen, bedeutet das: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen einen Förderbedarf aus und sind auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen. Dadurch wird diese Thematik an den Schulen immer stärker gewichtet. Somit verschiebt sich der Fokus der Schule vom Lehren und Lernen zunehmend auf Förderung und Therapie.

Überzogene Ideale

Die Volksschule scheint auch an ihren überzogenen Idealen zu scheitern. So steht im Rahmenkonzept «Förderung und Integration» des Kantons Basel-Stadt: «Der Volksschule ist also aufgetragen, die Ziele Integration und Leistung zusammenzudenken, indem sie die Kinder und Jugendlichen in einer integrativen Schulform bestmöglich fördert» [1].

Auch die pädagogischen Hochschulen vermitteln einen idealisierten Zugang zum Thema, welcher die Studierenden in der Praxis ziemlich ratlos zurücklässt.

Eingefordertes Zusammendenken und ideologisierte Zugänge verhindern die Debatte. Überhaupt scheint die Diskussion über die Integration eine eher peinliche Sache zu sein, denn wer ist schon gegen die Integration? Doch «wo alle nur mit dem Kopf nicken können […], stimmt etwas nicht»[2]. Insbesondere die oben beschriebene Zunahme von Massnahmen zur Aufrechterhaltung des Systems zeigen, wie dringend eine öffentlich geführte Diskussion wäre.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Selbstverständlich müssen alle Kinder, welche einen besonderen Bildungsbedarf ausweisen, «eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist»[3]. Und diese Grundschulung soll auch «soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen»[4] integrativ in der Regelschule erfolgen.

Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht mehr

Darum geht es hier nicht. Sondern allein um die unerwünschten Nebenwirkungen der integrativen Schule, wie sie sich aktuell zeigen: Um die Zunahme des Förderbedarfs, der Diagnosen und Therapien, um die Zunahme der Zuschreibung einer Behinderung, um die Begründungszusammenhänge zwischen Diagnosen und Ressourcen, um die Veränderung des Fokus vom Lehren und Lernen auf das Fördern und Therapieren. Schliesslich um die fehlende Diskussion darüber, was eigentlich wirklich geschieht: Dass nämlich immer mehr Kinder und Jugendliche nicht in das bestehende System zu passen bzw. den Anforderungen der Volksschule zu genügen scheinen und dem nur mit zusätzlicher Förderung bzw. Separation begegnet wird. Und darüber, dass der Schulalltag für Lehrerinnen und Lehrer zunehmend schwieriger zu bewältigen ist.

Was stimmt hier nicht mehr?

Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht mehr.

Dies zeigt sich auch ganz konkret in der täglichen Praxis. Die unterschiedlichen Fördermassnahmen führen dazu, dass ein Unterrichtsmorgen an einer Primarschule so aussehen kann: Die Heilpädagogin unterrichtet eine Kleingruppe von Lernbehinderten einer Klasse separativ oder integrativ, ein Kind besucht während einer Lektion die Psychomotorik, ein anderes geht eine Lektion später in die Logopädie und in den letzten beiden Lektionen des Morgens stösst das Kind, welches separativ den Unterricht Deutsch als Zweitsprache besucht, zum Klassenverband hinzu. Zwei Kinder haben Streit in der Pause und besuchen darum anschliessend die Schulsozialarbeiterin, um die Situation zu klären. Und die Klassenlehrerin versucht, den Unterricht im Klassenverband aufrecht zu erhalten, organisatorisch den Überblick zu bewahren, die dazugehörende Bürokratie zu bewältigen und die Kooperation mit allen Beteiligten zu bewerkstelligen – eine Sisyphosaufgabe.

Der Lehrauftrag geht vergessen …

Doch eigentlich hätte sie einen Lehrauftrag. Also die wunderbare Aufgabe, sich gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern vertieft einer bedeutsamen Sache zu widmen, um Zugänge zu einer gemeinsamen und geteilten Welt zu erschliessen. Diese erfolgt letztlich über das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen, über das gemeinsame Nachdenken und Ausprobieren, über das Zeichnen und Singen, über das Lernen in der Gemeinschaft, das an sich wiederum die Zivilität als Grundlage jedes Zusammenlebens anerkennt. Wenn wir davon ausgehen, dass der Sinn der Schule im hier beschriebenen Tun liegt und wir diesen Sinn aufrechterhalten wollen, weil wir als demokratische Gesellschaft dies als bedeutsam für dieselbe erachten, dann müssen wir die Grundlagen dafür, dass dies gelingt, herstellen.

Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden, dann werden Probleme nicht mehr thematisiert und diskutiert, das Scheitern verschwiegen und die unerwünschten Effekte bagatellisiert.

Was tun?

Es gibt keine Patentrezepte und einfachen Lösungen. Aber wir müssen der Tendenz der zunehmenden Pathologisierung von Kindern und Jugendlichen entgegenwirken. Ansonsten verkehrt sich die Absicht der Integration in ihr Gegenteil. D.h. wir müssen darüber nachdenken, Therapien auch ausserhalb des Schulalltags stattfinden zu lassen – zur Beruhigung des Schulalltags und damit diejenigen Kinder, die diese besuchen, nicht den Unterricht verpassen; die Diagnosestellungen genau zu überprüfen (aktuell stellen oft jene die Diagnose, die auch therapieren), um die Zunahme begründen zu können; unsere Normalitätsvorstellungen wieder zu erweitern, damit vermehrt Kinder ohne zusätzliche Unterstützung unterrichtet werden können; separative Angebote bereitzustellen, die genau auf die Bedürfnisse der Kinder mit besonderem Bildungsbedarf zugeschnitten sind.

Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden …

Und das Wichtigste: Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden, dann werden Probleme nicht mehr thematisiert und diskutiert, das Scheitern verschwiegen und die unerwünschten Effekte bagatellisiert. Das kann nicht im Sinne einer funktionsfähigen Institution Schule, der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern und der Lehrerinnen und Lehrer sein. Es ist Zeit für eine öffentliche und pragmatische Diskussion.

Eine Anmerkung zum Schluss: Im Artikel werden die Zahlen aus dem Kanton Basel-Stadt verwendet, weil mir diese freundlicherweise von der Volksschulleitung zur Verfügung gestellt wurden. Die Situation in anderen Kantonen zeigt sich aber möglichweise ähnlich.

[1] Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt (2010). Rahmenkonzept «Förderung und Integration an der Volksschule«.

[2] Reichenbach, R. (2003). Pädagogischer Kitsch. Zeitschrift für Pädagogik, 49, 785.

[3] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3.

[4] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3.

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Über die behauptete Notwendigkeit der Digitalisierung des Schulbetriebs https://condorcet.ch/2020/06/ueber-die-behauptete-notwendigkeit-der-digitalisierung-des-schulbetriebs/ https://condorcet.ch/2020/06/ueber-die-behauptete-notwendigkeit-der-digitalisierung-des-schulbetriebs/#respond Sat, 20 Jun 2020 15:06:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=5546

Condorcet-Autorin Christine Staehelin ist Primarlehrerin in Basel-Stadt und hinterfragt die so oft kolportierte Notwendigkeit der Digitalisierung. Und sie erinnert an die Mahnung von Hanna Arendt, dass die Schule auch der Ort sein solle, wo «die schiere Tätigkeit des Räsonierens selbst» seinen Platz findet.

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Christine Staehelin, Lehrerin in Basel: Entwicklung ist nicht naturgegeben.

Die Coronakrise und mit ihr das aufgezwungene Homeschooling haben der Diskussion rund um die Digitalisierung der Schulen einen enormen Auftrieb gegeben. So schreibt Nils Pfändler in der NZZ: «Die Ausnahmesituation hat der Digitalisierung des Schulbetriebs den Schub verliehen, auf den das Bildungswesen jahrzehntelang gewartet hat».[1] Der Titel eines Artikels von Sandrine Gehriger in der NZZ am Sonntag lautet: «Wie die Corona-Epidemie die Schweizer Schulen in kurzer Zeit zukunftsfähig gemacht hat»[2].

Das Unbehagen

Warum löst diese in einer enormen Krise aufgezwungene Digitalisierung trotz des plötzlich eingelösten Versprechens einer zukunftsfähigen Schule dennoch Unbehagen aus? Warum haben wir die gemäss Pfändler wichtige Transformation des Bildungswesens nicht längst realisiert? Es liegt wohl nicht in erster Linie daran, dass die Budgets nicht gesprochen wurden, die Technologien nicht ausgefeilt genug wären oder die digitalen Lehrmittel fehlten. Es gibt genügend Anbieter, die schon lange bereitstehen, um die Digitalisierung der Schullandschaft voranzutreiben und auch mit entsprechenden Slogans öffentlichkeitswirksam dafür werben. Woran liegt es dann?

Wer möchte nicht innovativ sein?

Was kann dagegen einzuwenden sein, dass das Wissen von einer Lernsoftware digital aufbereitet, die Lernangebote personalisiert, die Aufgabenstellungen den Fähigkeiten unmittelbar angepasst werden und die Rückmeldungen stets prompt erfolgen?

Wer möchte zu jenen gehören, die den Anschluss verpassen, nicht auf die Zukunft vorbereitet sind, wer möchte nicht innovativ, vernetzt und agil sein?

Notwendigkeit als Argument

Vielleicht ist es genau diese geforderte Notwendigkeit der Digitalisierung des Bildungsbereichs, die dieses Unbehagen verursacht. Die Notwendigkeit wird in Bezug auf eine Welt formuliert, von der angenommen wird, dass sie sich zukünftig unseren Kindern in einer bestimmten, unausweichlichen, aber unbekannten Form präsentieren wird. Eine Welt, für welche die Kinder gewappnet sein sollen.

Das Besondere daran ist, dass wir, die Erwachsenen von heute, Prozesse, die in die Zukunft hineinwirken, initiiert haben, die wir nicht beenden und deren Auswirkungen wir nicht kontrollieren können, weil wir sie nicht kennen.

Damit mitgemeint ist, dass der Mensch nicht mehr in der Lage sei, diese Zukunft selbst zu bauen; zu gestalten im Hinblick darauf, wie wir uns diese wünschen und was wir in Bezug darauf tun wollen und sollen. Es wird suggeriert, diese rolle quasi auf uns zu. Das Besondere daran ist, dass wir, die Erwachsenen von heute, Prozesse, die in die Zukunft hineinwirken, initiiert haben, die wir nicht beenden und deren Auswirkungen wir nicht kontrollieren können, weil wir sie nicht kennen. Früher hatte es die Technik den Generationen ermöglicht, die Welt zu gestalten, indem sie Dinge hergestellt haben, die ein Menschenleben zwar oft überdauerten, dennoch aber grundsätzlich auch zerstört und damit rückgängig gemacht werden konnten. Heute stehen wir vor der Tatsache, dass die Technik der Digitalisierung Entwicklungen in Gang gesetzt hat, die kontinuierlich weiterwirken, sich verselbstständigen und selbstreferenziell weiterentwickeln.

Nicht mehr in der Lage, die Zukunft selbst zu bestimmen.

Damit bestimmen die Prozesse unser Handeln, nicht umgekehrt. Womit sich die Frage stellt, ob der Begriff Handeln überhaupt noch der passende ist und ob nicht reagieren, sich anpassen oder sogar unterwerfen angemessener wären.

Unaufhaltsamkeit der Technologisierung

Das Interessante daran ist, dass der Mensch immer Naturprozessen ausgesetzt war, gegen die er sich zu schützen versuchte – die Covid-19-Pandemie ist ein aktuelles Beispiel dafür – ; heute aber ist er auch sich verselbstständigenden Technikprozessen ausgesetzt durch lernende Software und damit der Erschaffung künstlicher Intelligenz.

Es stellt sich die Frage, wie viele Daten aus welchen Bereichen gesammelt werden dürfen und welche Entscheide in welchen Lebensbereichen wir Algorithmen und selbstlernender Software überlassen wollen.

Und wie er sich dagegen schützen soll, wovon er sich so viel Fortschritt erhoffte, ist nicht klar. Dabei stellt sich, neben ganz verschiedenen ethischen Fragen, die sich mit einzelnen Phänomenen der Digitalisierung befassen, die ganz grundlegende Frage, ob es ethisch vertretbar ist, Technologien einzuschränken oder zu stoppen, die Innovationen, welcher Art und in welcher Form auch immer, bringen – und was das kosten darf. Also wie viele Daten aus welchen Bereichen gesammelt werden dürfen und welche Entscheide in welchen Lebensbereichen wir Algorithmen und selbstlernender Software überlassen wollen. Diese Fragen der Ethik gehen nun weit über jene Fragen hinaus, die das Handeln der Menschen und ihr Sein thematisieren und dabei ein gewisses Mass an potentieller Freiheit miteinschliessen. Denn plötzlich ist auch das Entscheiden von Maschinen möglich geworden. Diese ethischen Fragen stellen sich im Rahmen des rasanten Fortschreitens der Möglichkeiten der Technologien immer gleichzeitig zur Entwicklung, was eine ganz neue Herausforderung darstellt.

Diese Ausführungen sollen aufzeigen, dass die Frage nach der Notwendigkeit der Digitalisierung und der sich daraus ergebenden ethischen Fragen hochkomplex sind.

Notwendigkeit bildet keine Entscheidungsgrundlage

Schule unter dem Diktat der Notwendigkeit

Was hat das nun mit der geforderten Notwendigkeit der Digitalisierung von Schulen zu tun? Wenn die Zukunft möglicherweise eine digitale Transformation fast aller Lebensbereiche bringt, was wir nicht wissen, so liegt die Antwort darauf nicht in der Notwendigkeit einer Vorwegnahme dieser Entwicklung an der Schule. Eine drohende Vereinnahmung des menschlichen Daseins durch die Digitalisierung kann nicht reflektiert werden durch eine Übernahme desselben Prozesses an den Schulen. Notwendigkeit bildet deshalb aus zweierlei Hinsicht keine Entscheidungsgrundlage für einen Paradigmenwechsel an Bildungsinstitutionen. Einerseits beruht eine geforderte Notwendigkeit darauf, dass wir davon ausgehen, dass die Geschichte einen Verlauf nimmt, den wir an sich nicht beeinflussen können und dass die Schule als Institution jener Ort sein soll, der diesen Verlauf antizipieren soll. Andererseits kann Notwendigkeit nicht zu einer Leitidee für Schulen werden, weil die Schule – wenn sie neben der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eine Erziehung zur Mündigkeit und damit zur Urteilsfähigkeit verfolgen will – auch ein Ort des gemeinsamen Nachdenkens, Diskutierens, Abwägens und Argumentierens sein sollte. Allein darin lernt der Mensch, sich in einen Bezug zur Welt und zu den anderen zu setzen, und wird dabei der Freiräume des Handelns und Denkens gewahr. Wenn Mittel und Zweck von Schule als Bildungsinstitution darin zusammenfallen, dass sie sich an Notwendigkeiten orientieren, dann verliert diese Schule ihre gesellschaftliche Aufgabe und ihren Sinn.

Das Räsonieren schafft einen Raum zwischen den Menschen, in dem die Freiheit wirklich ist[3]

Julian Nida-Rümelin, Philosoph: Das personale Band zwischen Lehrkraft und Lernenden [ist] von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg.
Die Schule sollte auch der Ort sein, wo «die schiere Tätigkeit des Räsonierens selbst»[4] seinen Platz findet. Ein mündiger und damit urteilsfähiger Mensch zu werden, setzt sehr viel Wissen über die Welt, deren Geschichte, Traditionen und Errungenschaften voraus, zu welchen auch die technologischen gehören. Sich dieses anzueignen, ist anstrengend und zeitaufwändig. Es setzt voraus, dass Lehrerinnen und Lehrer die Begeisterung dafür wecken können, sich die Welt ein klein wenig anzueignen, indem sie selbst als Personen diese Leidenschaft für die Welt weitergeben. Lehren und Lernen bleiben immer personale Angelegenheiten, «das personale Band zwischen Lehrkraft und Lernenden [ist] von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg», wie Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer – auch in der NZZ[5] – schreiben. Ohne eine Person als Gegenüber bleibt vieles undurchschaubar, unreflektiert und ohne Bezug.

Form und Inhalt nicht zusammenfassen

Der Einsatz digitaler Medien kann situationsabhängig durchaus sinnvoll sein, genauso wie das Programmieren als Lerninhalt, so wie die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Gefahren der Digitalisierung durchaus ihre Berechtigung haben kann. Wenn aber die Form der Vermittlung mit dem Inhalt zusammenfällt, geht jene Distanz verloren, die es braucht, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen und diese zu verstehen.

Wenn Kinder und Jugendliche, mit einem Tablet ausgerüstet, individuell hinter dem Bildschirm ihre personalisierten Themen mit adaptiven Aufgabestellungen abarbeiten und ihre sofortigen, automatisierten Rückmeldungen erhalten, während die Lehrerin oder der Lehrer nur noch online kontrolliert, ob alle etwas tun, oder hilft, wenn das WLAN oder das Login der Software nicht funktionieren; wenn das soziale Lernen nur noch das gegenseitige Helfen bei Schwierigkeiten mit den Aufgabenstellungen oder mit der Hardware meint, und wenn die Selbstkompetenz vor allem darin besteht, sich nicht von anderen Möglichkeiten, welche das Tablet auch noch bietet, ablenken zu lassen und eine gewisse Frustrationstoleranz zu entwickeln, wenn die unmittelbare Belohnung durch eine positive Rückmeldung des Systems ausbleibt, dann stellt sich die Frage, was die Schule überhaupt noch repräsentiert ausser jenen Ort, an welchem diese Geräte bedient werden – Lehrerinnen und Lehrer, welche das Wissen in ihren Köpfen aufbewahren, weitergeben und reflektieren, sind dann überflüssig.

Über Fragen der Notwendigkeit von Entwicklungen und über ethische Fragen kann der Mensch nur nachdenken, solange er Entwicklungen nicht als naturgegeben anschaut, welchen er sich anzupassen hat, sondern noch Platz lässt für Sollen, Wollen und Können und damit eine geteilte Welt, die einen Gestaltungsraum offenlässt. Die Voraussetzungen dafür kann die Schule als Ort der Kultur- und Wissensvermittlung zwischen einer älteren und einer jüngeren Generation und im Kollektiv von Gleichaltrigen, wo auch Zivilität eingeübt wird, leisten, und dies macht auch ihren Sinn aus. Keine Maschine kann das übernehmen, im Gegenteil, sie schaffen diesen Sinn ab.

 

 

[1] Pfändler, N. (2020, April 7). Die Schule erhält einen digitalen Schub. Neue Zürcher Zeitung, S. 10.

[2] Gehringer, S. (2020, April 24). Wie die Corona-Epidemie die Schweizer Schulen in kurzer Zeit zukunftsfähig gemacht hat. Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen von https://www.nzz.ch…

[3] Arendt, H. (2012). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München und Zürich: Piper, S. 205

[4] Arendt, H. (2012). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München und Zürich: Piper, S. 205

[5] Nida-Rümelin, J. & Zierer, K. (2020, Juni 8). Die Debatte über die digitale Bildung ist entgleist. Neue Zürcher Zeitung, S.8

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Wir müssen die Reformrhetorik entblättern https://condorcet.ch/2020/02/wir-muessen-die-reformrhetorik-entblaettern/ https://condorcet.ch/2020/02/wir-muessen-die-reformrhetorik-entblaettern/#comments Tue, 18 Feb 2020 11:22:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=4022

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin in der Stadt Basel, weiss, wovon sie redet, wenn sie mit Begriffen wie Integration, Frühförderung oder Kompetenzorientierung konfrontiert ist. Aber wissen es die anderen auch, oder besser, reden alle vom Gleichen? Eine brisante Analyse aus der Praxis!

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Die Schulreformen der letzten zwanzig Jahre sind geprägt von Begriffen wie Integration, Partizipation, Kompetenzorientierung, Individualisierung, Frühförderung und früher Fremdsprachenunterricht, sowie Digitalisierung und nicht zuletzt selbstorganisiertes Lernen und Selbstreflexion.

Praktische Begriffe

Diese Begriffe sind äusserst praktisch: Damit lassen sich Notwendigkeiten von Reformen begründen, Zielvorstellungen formulieren und Prozesse beschreiben. Auch im Diskurs selbst sind sie vielfältig einsetzbar: Man kann damit fordern, argumentieren, plädieren, diskutieren, reflektieren, moralisieren, widersprechen, zustimmen; was auch gern getan wird und worin vielleicht ihr eigentlicher Zweck liegt.

Vielseitige Einsatzbarkeit und Jongliermöglichkeiten

Mit diesen Begriffen kann frivol jongliert werden.

Doch was genau repräsentieren diese Begriffe eigentlich? Könnte es sein, dass ihre vielseitige Einsetzbarkeit und die Jongliermöglichkeiten in erster Linie darauf hinweisen, dass niemand weiss, was eigentlich damit gemeint ist, dass sie also keine eigentliche Bestimmung haben? Dass sie in erster Linie Prozesse beschreiben, die irgendwelche Zustände herbeiführen wollen, welche aber als solche auch nicht geklärt sind? Ganz abgesehen davon muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist, davon auszugehen, dass sich zukünftige Zustände überhaupt beschreiben lassen, ausser man geht davon aus, dass sie sich aus dem bis anhin Geschehenen naturgemäss weiterentwickeln werden.

Wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden will, muss sie selbstverständlich klären, wie sie sich zeitlich und räumlich strukturiert, wie das erzieherische Verhältnis und das Vermitteln beschrieben werden sollen und wie sie den Zugang zur Welt mit dem Ziel der Partizipation an derselben schaffen will.

Beim Versuch der Verortung der Begriffe erkennt man bei der Frühförderung und dem frühen Fremdsprachenunterricht einen zeitlichen sowie bei der Integration und der Partizipation einen räumlichen Aspekt. Individualisierung, selbstorganisiertes Lernen und Selbstreflexion scheinen sich am einzelnen Kind zu orientieren, während Kompetenzorientierung und Digitalisierung vielleicht etwas damit zu tun haben, wie der Welt begegnet wird oder begegnet werden soll.

Wenn die Schule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden will, muss sie selbstverständlich klären, wie sie sich zeitlich und räumlich strukturiert, wie das erzieherische Verhältnis und das Vermitteln beschrieben werden sollen und wie sie den Zugang zur Welt mit dem Ziel der Partizipation an derselben schaffen will.

Eine Gesellschaft, die nicht weiss, was ist und wohin es geht

Doch die oben beschriebenen Schulreformen scheinen nach dem Prinzip der «pädagogischen Panik» (Basil Bernstein) zu funktionieren, welche er als «eine tiefe Panik in unserer Gesellschaft» beschreibt, «die nicht weiss, was ist und wohin es geht».

Wohin geht die Reise?

Die Tatsache, dass nicht alle in der offenbar angestrebten Weise an der Welt partizipieren können, führt zur Forderung einer integrativen Schule und vermehrter Partizipation. Vermutete mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen nach einer Vorverlegung der Instruktion. Wenn nicht mehr klar ist, was die nachfolgende Generation wissen und tun soll und die Probleme als kaum zu bewältigen erscheinen, dann sollen die Kinder selber wissen, was sie können und tun müssen, Hauptsache sie werden in irgendeiner Form kompetent; und nicht zuletzt sollen sie auch auf die zunehmende Digitalisierung – was auch immer damit gemeint ist – vorbereitet sein. Die Reformen sind nichts Anderes als schnelle Antworten mit im Schulkontext schwer zu verortenden und ungeklärten Begriffen auf Herausforderungen, auf welche die ältere Generation keine Antworten weiss und die sie damit der jüngeren Generation weitergibt; damit wird das Pädagogische, welches jeder Erziehung per se zugrunde liegt, letztlich ausgeklammert.

Das Pädagogische wird ausgeklammert.

Der Schule die Lösung von Herausforderungen der Zukunft mittels Reformen zuzumuten, die auf ungeklärten, allein Prozesse beschreibenden Begriffen basieren, macht sie in erster Linie kritikanfällig und instabil. Ganz abgesehen davon, dass die Herausforderungen an sich ungeklärt sind, wie alles, was erst in der Zukunft – wenn überhaupt – eintreten wird.  Die damit einhergehende Infragestellung der Leistungsfähigkeit und

Lehrerinnen und Lehrer müssen ihr Tun immer häufiger legitimieren.

Autorität der Schule impliziert auch jene der Lehrerinnen und Lehrerin, der eigentlichen Träger der Institution; sie müssen ihr Tun und Lassen immer häufiger legitimieren. Dies fällt zunehmend schwer, da Lehrerinnen und Lehrer sich durchaus bewusst sind, dass viele Vorgaben nicht einlösbar bzw. nicht richtig verortet sind und dass ihre Tätigkeit vorwiegend aus einem Tun und Handeln besteht, nicht aus der Herstellung von Zuständen.

Lehrkräfte stellen keine Zustände her

Die Reformen der letzten zwanzig Jahre hatten durchaus bestimmte Zielsetzungen bzw. Absichten. Nur konnten sie diese nicht einlösen. Dies mag damit zu tun haben, dass Bildungs- und Erziehungsprozesse nicht nach dem Kausalitätsprinzip funktionieren. Die Gründe dafür liegen aber auch darin, dass die Verantwortlichen nie klärten, ob die Begriffe, welche den Reformen ihren Stempel aufgedrückt haben, als solche überhaupt geklärt sind, in der Institution funktionieren und woran sie sich eigentlich orientieren bzw. inwiefern sie mit Bildung, Erziehung und Wissensvermittlung etwas zu tun haben.

Aber das eigentliche Lehren und Vermitteln ist letztlich eine personale Angelegenheit und findet in unserem täglichen Tun statt.

Der Berufsalltag muss leistbar bleiben

Als Lehrerinnen und Lehrer verstehen wir uns als Wissensvermittler, als jene, welche das Wissen, welches Weltzugänge ermöglicht, in einem kollektiven Setting, – das als solches an sich wiederum viele Lernmöglichkeiten bietet – weitergeben möchten. Wir verfügen über ein bestimmtes Professionswissen, das unserer Arbeit zugrunde liegt. Aber das eigentliche Lehren und Vermitteln ist letztlich eine personale Angelegenheit und findet in unserem täglichen Tun statt. Wir wissen, dass dies nicht immer so gelingt, wie wir uns das vorstellen, wir wissen, dass wir es mit widersprüchlichen Herausforderungen zu tun haben – Gleichheit oder Gerechtigkeit, Mensch oder Sache, Gemeinschaft oder Individuum etc.  – ,

Nicht leistbare Zumutungen

bei welchen wir uns immer wieder und oft kurzfristig zugunsten des einen oder anderen entscheiden müssen. Wir lehren und steuern, fordern heraus und ermutigen, begeistern und regulieren, ermöglichen und korrigieren, schaffen Freiräume und setzen Grenzen, reüssieren und scheitern, kurz: Wir wissen um die Komplexität unseres Berufsauftrags und auch darum, dass die Schule ökonomische, soziale und politische Aspekte aufweist. Doch der Berufsauftrag muss leistbar bleiben. Wenn das Lernen immer früher institutionalisiert stattfinden soll, wenn das Setting aufgrund der unterschiedlichen Lernfähigkeiten immer komplexer wird wegen der so genannt integrativen Schule, wenn wir vor lauter Kompetenzen die Inhalte nicht mehr sehen, wenn Kinder alles selber lernen und organisieren sollen, wenn die Schülerinnen und Schüler hinter Bildschirmen verschwinden und wir nur noch Administratoren und Begleiter sein müssen: Dann können wir nicht mehr pädagogisch tätig sein.

Wenn das Lernen immer früher institutionalisiert stattfinden soll, wenn das Setting aufgrund der unterschiedlichen Lernfähigkeiten immer komplexer wird wegen der so genannt integrativen Schule, wenn wir vor lauter Kompetenzen die Inhalte nicht mehr sehen, wenn Kinder alles selber lernen und organisieren sollen, wenn die Schülerinnen und Schüler hinter Bildschirmen verschwinden und wir nur noch Administratoren und Begleiter sein müssen: Dann können wir nicht mehr pädagogisch tätig sein.

Es gilt Abschied zu nehmen von Utopien, von nicht leistbaren Zumutungen und von Begriffen, die Zustände herstellen wollen, welche sich per se nicht herstellen lassen, ohne dass alles Unerwartete ausgeschaltet würde und allein Anpassung als Möglichkeit des menschlichen Daseins übrigbliebe. Eine Schule, die nicht mehr versteht, was sie tut bzw. tun muss, wird in ihrer eigentlichen Sinnhaftigkeit erschüttert. Sie muss zurückfinden zu ihrem eigentlichen Auftrag als Institution der Gesellschaft für die Gesellschaft. Wir verlieren sonst mehr, als wir uns wahrscheinlich vorstellen können.

 

 

 

 

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Bildung 4.0 – über die Reduktion auf das Zweidimensionale https://condorcet.ch/2019/05/digitalisierung/ https://condorcet.ch/2019/05/digitalisierung/#respond Wed, 01 May 2019 22:41:29 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=835

Politik, Industrie und Verwaltung fordern, Kindergärten und Schulen mit allerlei digitalen Wunderwaffen zu überhäufen. Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel-Stadt, erhebt Einspruch,

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Industrie 4.0, Arbeit 4.0 und Gesellschaft 4.0: Die Digitalisierung breitet sich zunehmend in alle Lebensbereiche aus. Obwohl sich deren Auswirkungen erst im Nachhinein feststellen lassen werden, soll die Schule nun auf diese Industrie-, Arbeits- und Gesellschaftsveränderungen vorbereiten. Die so genannte Bildung 4.0 steht im Raum – ein neuer Bildungsbegriff ist geschaffen. Doch was ist damit eigentlich gemeint?

Es bleibt offenbar keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn wenn man die aktuellen Entwicklungen an den Schulen beobachtet, scheinen jene, welche diese vorantreiben, schon genau zu wissen, was Bildung 4.0 ist und wie man diese vortrefflich umsetzt: Auf die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche glaubt man sich an den Schulen am besten unmittelbar mit einer immer intensiveren und vielfältigeren Nutzung digitaler Geräte und Lehrmittel vorbereiten zu müssen. Und da man davon ausgeht, dass die Nutzung digitaler Medien auch Gefahren mit sich bringt – wobei der übermässige Gebrauch an sich schon eine darstellt –, soll die Schule auch gleichzeitig vermitteln, wie man sich, auch in der Freizeit, dagegen schützt. Das nennt man heute Medienkompetenz.

Doch treten heute nach einer von zunehmendem digitalem Medienkonsum geprägten Kleinkind- und Vorschulzeit teilweise Kinder in den Kindergarten ein und verstehen nicht, wovon eine erzählte Geschichte handelt. Es fehlt ihnen an Imagination. Mangelndes Vorstellungsvermögen und mangelnde Anstrengungsbereitschaft führen dazu, dass sie nicht mehr in der Welt des Spielens und des konkreten Tuns versinken können. Geprägt von digitalen Bildern, die allein als glänzende Oberflächen erscheinen, können sie den Bezug zur realen Welt nicht mehr herstellen. Mit dem Schulbeginn lernen sie, Buchstaben zu Wörtern zu verbinden und diese auch zu erlesen. Doch der Sinn hinter vielen Wörtern, Sätzen und Texten erschliesst sich ihnen nicht, da ihnen ein Erinnern und die entsprechende Imagination fehlen. Und Ziffern bleiben Ziffern, dass sich dahinter konkrete Mengen und Ordnungen verbergen, wird ihnen nicht ersichtlich.

Wenn sich die Welt nur zweidimensional zeigt, dann geht dabei jener Raum verloren, der es erlaubt, sich selbst dazu in eine Beziehung zu setzen, sich von der Welt an sich berühren und beeindrucken zu lassen. Ein Ort, wo es darum geht, verstehen zu wollen, zu denken und nachzudenken, zu fragen und zu hinterfragen, sich von Problemen und Widersprüchlichkeiten herausfordern zu lassen und manchmal auch zu verzweifeln, weil es Dinge gibt, die sich nicht so einfach erschliessen lassen. Das ist anstrengender als jeder Klick. Es führt aber dazu, dass die Lernenden sich die Welt in einer Form aneignen, die sie zu einem Teil ihres Selbst werden zu lassen.

An den Schulen war es bis anhin die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, diese Weltzugänge zu ermöglichen, indem sie sich Gedanken darüber machten, wie die Zugänglichkeit über Anschauung, Auswahl, Reduktion und Anschlussmöglichkeiten an bereits Gelerntes geschaffen werden kann. Das bedeutet, dass sie einerseits selbst über das entsprechende Wissen verfügen müssen und andererseits aber auch ihre Begeisterung und Leidenschaft für die Welt teilen und weitergeben sowie Horizonte eröffnen wollen. Ansonsten bleibt das Wissen, auch wenn es noch so gut «aufbereitet» ist, leblos. Wissensvermittlung über digitale Medien geschieht in einer Form, die keine offenen Anschluss- und Bearbeitungsmöglichkeiten bietet, wie dies im personalen Austausch und in der Begegnung mit dem Gegenstand an sich noch möglich ist. Gesteuert, vermessen und kontrolliert wird das Lernen über die Software. Der Lehrerin bleibt es einzig und allein vorbehalten, als so genannter Coach bei der Lösung von Aufgaben behilflich zu sein. Das raubt der Lehrerin ihren Ort, weil zwischen der digital aufbereiteten Welt und den Lernenden kein gestaltbarer Raum mehr besteht.

Die Schule bietet nicht nur den Raum für Weltzugänge, sondern auch jenen für Begegnungen unter Menschen. Sie ist der Ort, an welchem Schülerinnen und Schüler aufeinandertreffen, die sich zuvor nicht gekannt und die jene Gruppe, die sie nun bilden, auch nicht gewählt haben. Sie nehmen wahr, dass es die Anderen gibt, die sich unterscheiden, die unterschiedlich reden, handeln und urteilen und eigene Perspektiven einbringen. Wenn Kinder in die Schule eintreten, ist dies ein Schritt hinein in eine halböffentliche Sphäre, die sich klar von jener der familiären unterscheidet. Hier lernen sie verschiedene Gegenüber kennen, die mit ihnen nicht privat, sondern allenfalls freundschaftlich, möglicherweise aber auch gar nicht verbunden sind. Die Schule bietet jenen Raum, in welchem sich das Zusammenleben bestens erlernen lässt; wo man sich einigen oder im Dissens verharren lernt, wo man sich begegnet und wieder auseinandergeht, ohne sich zu nahe zu treten. Wenn man jedoch unter Lernen an der Schule nur noch ein individuell angepasstes Aufgabenlösen am Bildschirm versteht, dann führt dies zu einer totalen Vereinzelung. Es bleibt allein der Selbstbezug, dagegen hilft auch das gemeinsame Lösen von digital gestellten Problemen nichts.

Heute muss sich die Schule der Frage stellen, ob sie ein Ort sein will, an welchem die Reduktion der Welt auf die Oberfläche des digitalen Mediums und eine drohende Vereinnahmung durch die Digitalisierung selbst stattfindet; dann macht sie die Lehrerinnen und Lehrer, das Lernen im Kollektiv und schliesslich sich selbst längerfristig überflüssig.

Oder sie versucht weiterhin, unmittelbare Weltzugänge zu schaffen und unter dem Lernen eine personale Angelegenheit zwischen Lernenden und Lehrenden bzw. Lernenden und der Welt sowie den Lernenden untereinander zu verstehen. Dies kann sie nur leisten, wenn sie dafür einen Raum bietet, in welchem die Aneignung von Welt in vielfältiger Weise – verbunden ­mit Anstrengung, Imagination und Reflexion – stattfinden kann. Damit schafft sie auch einen Raum für Neues, Unvorhergesehenes, welches die Schülerinnen und Schüler einbringen.

Wenn aufgrund der Digitalisierung aller Lebensbereiche die Unterscheidung zwischen der realen und der virtuellen Welt verschwindet; wenn sich kein Raum mehr zeigt zwischen dem Menschen an sich und der Welt, wie sie ihm erscheint, und zwischen den Menschen, weil sie sich als Verschiedene begegnen, dann stellt sich die Frage, wo die Gestaltungsräume bleiben, in welchen wir uns der Freiheit vergewissern können, weder vom Weltgeschehen an sich noch von Herrschenden vollständig bestimmt zu werden.

Wenn die Schule in erster Linie auf das Lernen mittels digitalisierter Medien setzt, dann schafft sie sich als öffentliche Institution längerfristig selbst ab. Oder sie setzt digitale Medien altersgemäss und je nach Bedarf dort ein, wo es didaktisch angebracht ist, und bleibt ansonsten ein Ort, wo die realen Begegnungen mit der Welt und den Anderen im Zentrum stehen und der dreidimensionale Raum die Möglichkeiten offenlässt, um zu lernen, zu verstehen, zu gestalten und Neues entstehen zu lassen. Denn wenn man die Kinder auf etwas Neues vorbereitet, «schlägt man den Neuankömmlingen ihre eigene Chance des Neuen aus der Hand“, wie Hannah Arendt[1] schon vor Jahrzehnten anmerkte.

 

Christine Stähelin, Primarlehrerin, Basel-Stadt

 

[1] Arendt, H. (1994). Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München: Piper, S. 258

 

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