5. Dezember 2025
Ein Interview mit Condorcet-Autor Alain Pichard über die Frühfranzösisch-Debatte

Den Sprachenstreit haben die Promotoren des Frühfranzösisch ohne Not heraufbeschworen

Der Journalist der CH-Media, Kari Kälin, hat Condorcet-Autor und Grossrat Alain Pichard in der Grossratssession erwischt und mit ihm ein Intevriew geführt.

Er ist noch einmal eingesprungen. Mit 69 Jahren unterrichtet Alain Pichard an der sechsten Klasse in Pieterlen nahe bei Biel. Der wohl bekannteste Lehrer der Schweiz ist einer der grössten Kritiker des Frühfranzösischs. Der politische Wind weht in seine Richtung. Im Frühling hat das Kantonsparlament von Appenzell Ausserrhoden entschieden, Französisch künftig erst ab der Oberstufe zu unterrichten. Am Montag ist Zürich gefolgt, in zehn weiteren Kantonen sind entsprechende Vorstösse hängig. Wir erreichen GLP-Politiker und Pädagogen mit 46 Jahren Erfahrung im Klassenzimmer während der Session des Berner Grossrats.

Alain Pichard, wie ist Ihre letzte Französischlektion an der Primarschule verlaufen?
Sie fand im letzten Schuljahr in einer 3. Klasse an der Schule in Pieterlen statt. Wir haben Lieder gesungen und Rollenspiele gemacht.  Die Lektion war lustig, entspannt und unnötig.

Unnötig?
Französisch ist eine wunderschöne, aber schwierige Sprache. Etwa 80 Prozent der Kinder an meiner Schule haben einen Migrationshintergrund. Sie bekunden zum Teil schon mit Deutsch erhebliche Mühe. Mit einer zusätzlichen Fremdsprache sind viele komplett überfordert. Für das Lernen einer Fremdsprache braucht es eine gute Basis in der Erstsprache, die an der Schule gesprochen wird.

 

Kari Kälin, Journalist bei ch media: “Bundesrätin Baume-Schneider spricht sogar von einem Eingreifen des Bundes.”

Die Kantone führten den Fremdsprachenunterricht nach dem Motto «je früher, desto besser» ein. Was ist falsch daran?
In drei Wochenlektionen taucht man nicht in ein Sprachbad ein, das für den Spracherwerb in diesem Alter nötig wäre. Also muss die Fremdsprache über die Struktur und über die Grammatik gelernt werden. Dafür sind Drittklässler aber zu jung. Sie können kaum die Buchstaben richtig lesen. Es gelingt ihnen nicht, die Sprache zu verinnerlichen. Sie können wenig sprechen und verstehen wenig. Es hapert schon bei den Farben. Wenn ich zum Beispiel «hier», «aujourd’hui» und «demain» (gestern, heute und morgen) sage, weiss praktisch niemand, was das heisst. Die Schüler merken selbst, dass sie unter den aktuellen Rahmenbedingungen keine Fortschritte erzielen. Das erzeugt Frust. Auch deshalb ist Französisch zu einem Hassfach geworden.

Der Zürcher Kantonsrat verbannt jetzt Französisch auf die Oberstufe. Wie werten Sie diesen Entscheid?
Das Parlament hat erkannt, dass die Einführung von zwei Fremdsprachen an der Primarschule ein riesiger Flop war. Die Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts zahlt sich nicht aus. Die Ergebnisse zur Überprüfung der Grundkompetenzen in den Kantonen haben dies jüngst einmal mehr bestätigt. Zahlreiche Studien zeigen zudem, dass Kinder, die erst auf der Oberstufe eine Fremdsprache zu lernen beginnen, Frühstarter einholen. Das wusste man bereits, als die Kantone beschlossen, zwei Fremdsprachen an der Primarschule einzuführen. Es gab und gibt keine einzige Studie, welche die Wirksamkeit eines frühen Fremdsprachenunterrichts belegt.

Zürich ist nach der Jahrtausendwende vorgeprescht und hat begonnen, an der Primarschule zuerst Englisch und dann Französisch zu unterrichten. War das der Sündenfall?
Ja, ganz klar. Zwei Fremdsprachen an der Primarschule sind definitiv zu viel. Und es entstand ein Flickenteppich. Im Rahmen der Harmonisierungsbemühungen beschlossen die Kantone an der Grenze zur Westschweiz, ab der 3. Klasse Französisch zu unterrichten. Die anderen beginnen zuerst mit Englisch. Das war ein Seldwyla-Scherz. Wenn ein Kind vom Kanton Bern in den Kanton Zürich zügelt, dann hat es ein Problem.

Den angeblichen Sprachenstreit haben die Befürworter der “Frühfremdsprachenunterrichts” selbst heraufbeschworen.

Wie soll es mit dem Fremdsprachenunterricht weitergehen?
Mein bevorzugtes Modell lautet: Man lernt in der 5. Primarklasse Französisch und an der Oberstufe Englisch. Ich sehe eine Chance für den Kanton Zürich bei der Umsetzung des Parlamentsentscheids. Einige Klassen könnten mit Französisch an der Oberstufe beginnen, andere weiterhin an der Primarschule. Dann kann man die beiden Gruppen vergleichen. Das wäre evidenzbasierte Bildungspolitik. Ich rechne mit der Bestätigung, dass Spätstarter Frühstarter einholen. Aber die Bildungsfunktionäre hätten das Ergebnis schwarz auf weiss. Und könnten sich nicht mehr hinter politischen Floskeln wie «Gefahr für den Landeszusammenhalt» verstecken. Es ist eine Gefahr, die sie mit der unsinnigsten Schulreform der letzten Jahre notabene selbst heraufbeschworen haben.

Entscheidend ist nicht, wann die Kinder eine zweite Landessprache lernen, sondern wie gut sie diese am Ende der obligatorischen Schulzeit beherrschen.

Karikatur von Alain Pichard nach Idee von r.alf

Genau wegen des Landeszusammenhalts droht Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider bereits mit einer Intervention des Bundes. Das kann Sie nicht kaltlassen.
Ich verweise gerne auf ein Bonmot, das Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz zugeschrieben wird: «Les Suisses s’entendent bien parce qu’ils ne se comprennent pas.» (Die Schweizer kommen gut miteinander aus, weil sie sich nicht verstehen). Im Ernst: Entscheidend ist nicht, wann die Kinder eine zweite Landessprache lernen, sondern wie gut sie diese am Ende der obligatorischen Schulzeit beherrschen. Ich bin leidenschaftlicher Französischlehrer und liebe diese Sprache. Ich habe selbst beobachtet, dass die Kinder früher besser Französisch konnten, obwohl sie erst an der Oberstufe mit Lernen begannen. Wissen Sie, was den Landeszusammenhalt wirklich bedroht?

Bitte!
Dass die Grundkompetenzen erodieren. Dass ein Viertel der Kinder am Ende der obligatorischen Schule nicht richtig lesen und schreiben kann – auch als Folge verunglückter Reformen wie dem frühen Fremdsprachenunterricht. Allein der Französischunterricht hat mit der Entwicklung neuer Lehrmittel, die nichts taugen, mehr als 100 Millionen Franken gekostet. Auch deshalb fällt es den verantwortlichen Bildungspolitkern schwer, ihre Fehler einzugestehen. Aus Angst vor einem Gesichtsverlust verharren sie auf einer politischen Position, die aus pädagogischer Sicht nicht haltbar ist.

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3 Kommentare

    1. Wir entschuldigen uns, Herr Greiter. Mit mehr finanziellen Mitteln könnten wir auch mehr in das Lektorat investieren. Manchmal – Vorsicht: unkorrektes Deutsch – pfeifen wir neben der Arbeit in der Schule, im Parlament und für den Blog einfach aus dem letzten Loch… wir scheinen Mühe zu haben und geben uns Mühe. Bleiben Sie uns trotzdem gewogen oder noch besser, helfen Sie den Blog zu verbessern und spenden oder werden Sie Lektor bei uns.

  1. Das Dreisprachenkonzept der Primarschule ist ein schon fast unglaublicher didaktischer Sündenfall. Die einstige Euphorie samt ihren tollen Versprechungen über die Wunderkraft von frühen Sprachbädern ist unterdessen längst verflogen.

    Zurück bleibt bei vielen Schülern ein Scherbenhaufen mit Frustrationsgefühlen statt der Freude an Fremdsprachen.

    Jetzt muss endlich aufgeräumt werden. Auch in Bern kann der Frage nach der Effizienz des Frühfranzösisch nicht länger ausgewichen werden.

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